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GREGOR SCHRÖDER

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Märchen

Hänsel und Gretel · Interpretation des Märchens

Märchentext „Hänsel und Gretel“ als PDF


1. Vorgeschichte

Wenn man ein Volksmärchen analysiert, sollte man möglichst auf die älteste vorliegende Fassung zurückgreifen und frühere ähnliche Märchen heranziehen, da sonst die Gefahr besteht, dass man nicht das Märchen selbst, sondern die Textänderungen eines Herausgebers interpretiert – in diesem Falle die Brüder Grimm.

Bei „Hänsel und Gretel“ liegt die handschriftliche Urfassung der Brüder Grimm von 1810 („Das Brüderchen und das Schwesterchen“,) vor, die hier für die Analyse allein maßgeblich ist, da sie noch am ehesten die ‚ursprüngliche‘ Volksmärchenfassung der mündlichen Tradition vertritt (Heinz Rölleke, s.u., Nr. 20).

Deutlich ist zu erkennen, dass die Urfassung viel einfacher, kürzer und holzschnittartiger gefasst ist. Fast alle anderen Interpretationen, die die späteren Fassungen analysieren, interpretieren damit im Grunde unzulässiger Weise nur die Gattung Grimm (siehe den Überblicksartikel Märchen), nicht aber den ursprünglichen Märchentext.

Ähnliche Eingangsthematiken (Aussetzen der Kinder, Rückkehr durch Wegmarkierungen missglückter Versuch beim 2. Mal) bzw. Handlungsmotive finden sich bei Basiles Ninnillo und Nennella (Pentamerone 5,8), Perraults Däumlingsmärchen und im Feenmärchen Finette Cendron der Baronin d’Aulnoy von 1698 sowie im breit ausgestalteten Märchen Das klingende Waldhäuschen oder die Zigeuner in Böhmen aus einer anonymen Sammlung von Sagen der böhmischen Vorzeit (1798), die die Brüder Grimm kannten (Uther, S.34).

Im Vordergrund steht zunächst eine philologisch-literaturwissenschaftliche Textanalyse, wobei ich mich auf die wesentlichen Aspekte beschränken möchte. Psychologische Gesichtspunkte sollen erst in 2. Linie herangezogen werden.

2. Textanalyse und Interpretation

Ich folge hier weitgehend der Argumentation von Brackert (S. 9ff., s.u., Nr. 2), der bereits 1980 als einer der ersten überhaupt und einer der wenigen bis heute eine einigermaßen plausible literaturwissenschaftlich und psychologisch einsichtige Interpretation von „Hänsel und Gretel“ anhand der handschriftlichen Urfassung von 1810 vorgelegt hat. Fast alle anderen Interpreten analysieren die späteren Fassungen der Brüder Grimm und interpretieren damit weniger den ursprünglichen Märchentext, sondern die „Gattung Grimm“.

Zu Beginn erfahren wir, dass ein armer Holzhacker kaum noch Brot hatte, so dass er seine Frau und seine 2 Kinder nicht mehr ernähren konnte. Seine Frau rät ihm, die Kinder im Wald auszusetzen, und bringt ihn dazu, seine starken Bedenken gegen diesen Vorschlag schließlich aufzugeben (Z.1-5).

Gerade im 16. und 17. Jahrhundert gab es immer wiederkehrende Hungersnöte. Zudem gab es zu allen Zeiten Kindesaussetzungen, um das Überleben der restlichen Familie zu sichern, wie Maria P. Piers (siehe Literaturverzeichnis) bereits 1976 gezeigt hat. Von daher berichtet das Märchen lediglich von einer harten früheren Realität. Die Mutter ist hier nicht bösartig, sondern lediglich egoistisch, da sie ihr Überleben durch Aussetzen der Kinder sichern möchte.

Die Kinder haben das Gespräch der Eltern mitgehört. Das Schwesterchen fängt an zu weinen, wird aber vom Brüderchen getröstet. Er geht vor die Tür, füllt seine Tasche mit Kieselsteinen und schläft dann ein (Z.6-9).

Das Schwesterchen wirkt hier hilflos und passiv, wohingegen das Brüderchen aktiv an einer Strategie arbeitet, um wieder zurück nach Hause zu finden.

Frühmorgens wecken die Eltern die Kinder, geben jedem ein Stück Brot und führen sie zu dem großen Wald. Das Brüderchen lässt unterwegs immer wieder einen Kieselstein fallen und blickt zurück, um sich den Weg zu merken. Als sie dort ankommen, macht der Vater ein Feuer an und die Mutter sagt den Kindern, dass sie schlafen und warten sollten, während sie im Wald nach Holz suchen würden.

Die Kinder warten bis in die Nacht, aber die Eltern kommen nicht wieder. Das Schwesterchen fängt wieder an zu weinen, aber das Brüderchen kann das Schwesterchen erneut trösten, da sie mit Hilfe der bei Mondlicht glänzenden Kieselsteine den Weg nach Hause finden. Der Vater ist froh über deren Rückkehr, die Mutter aber war böse (Z.10-22).

Die Kindesaussetzung misslingt dank der cleveren Strategie des Brüderchens. Der Vater ist erleichtert über die Rückkehr der Kinder, die Mutter aber ist böse über das Scheitern ihres Plans.

Als sie erneut kein Brot mehr haben, hört das Brüderchen, dass die Mutter die Kinder erneut aussetzen will. Wieder weint das Schwesterchen, das Brüderchen möchte wieder draußen Steinchen suchen, aber die Mutter hat die Tür verschlossen, so dass das Brüderchen das Schwesterchen nicht trösten kann. Am nächsten Tag gehen sie wieder in den Wald, wobei das Brüderchen statt Kieselsteine Brotkrümchen fallen lässt. Die Kinder werden wieder im Wald zurückgelassen, verirren sich aber im Wald, da die Vögel die Brotkrümchen aufgefressen haben. Am dritten Tag kommen sie an ein Häuschen aus Brot, wobei das Dach mit Kuchen bedeckt und die Fenster aus Zucker waren. Die Kinder freuen sich und essen vom Dach und vom Fenster (Z. 23-38).

Die Mutter vereitelt beim erneuten Aussetzen der Kinder die Gegenstrategie des Brüderchens durch Verschließen der Tür, so dass es das erneut hilflose und passive Schwesterchen nicht trösten kann. Das Brüderchen ahnt zu Recht, dass die 2. Gegenstrategie mit dem Fallenlassen der Brotkrümchen wohl nicht funktionieren wird und sie sich beim 2. Aussetzen im Wald verirren.

Beides Mal wird der Vater positiv dargestellt, da er für die Kinder ein wärmendes Feuer anmacht, während die Mutter die Kinder zweimal belügt.

Bis hierhin gibt es nichts Übernatürliches in dem Märchentext. Alle Personen handeln entsprechend ihrer emotionalen Befindlichkeit und ihren Interessen.

Erst als die Kinder am 3. Tag (!) an das Häuschen aus Brot kommen, beginnt das Unwirkliche, da die Kinder nicht verwundert sind über die irreale Existenz eines solchen Brothäuschens im Wald und freudig von dessen Leckereien essen.

Als die Kinder eine feine Stimme im Haus rufen hören, die in Verseform fragt, wer an ihrem Häuschen knabbere, erschrecken sie, bevor die kleine alte Frau herauskommt. Sie führt sie freundlich ins Haus, gibt ihnen Gutes zu essen und bringt sie in ein schönes Bett. Am andern Morgen steckt sie das Brüderchen wie ein Schweinchen in ein Ställchen und das Schwesterchen muss ihm gut zu essen und zu trinken geben. Das Schwesterchen erhält jedoch nur Krebsschalen. Jeden Tag prüft die Frau an seinem Finger, ob er schon fett sei. Da er aber immer ein Knöchelchen herausstreckte, meinte die Frau, dass er noch nicht fett sei. Nach 4 Wochen befahl sie dem Schwesterchen, Wasser heiß zu machen, um das Brüderchen schlachten und kochen zu können. Das Schwesterchen solle sich auf das Brett setzen und die Frau wolle sie in den Ofen schieben, damit sie prüfen könne, ob das Brot bald fertig sei. Das Schwesterchen erkennt deren Absicht, sie im Ofen zu verbrennen, und stellt sich daher unwissend. Daher setzt sich die Alte selbst auf das Brett und lässt sich in den Ofen schieben. Darauf macht das Schwesterchen die Ofentür zu und die Hexe verbrennt. Die Kinder bringen das Edelgestein aus dem Häuschen zu ihrem Vater, der somit reich wird. Die Mutter aber ist gestorben (Z.38-53).

Erst jetzt ist es m. E. sinnvoll und angebracht, psychologische Analysemethoden sowie typische Merkmale des Volksmärchens sowie das Handlungsschema des Zaubermärchens (s.o.) zur Interpretation zu verwenden, da es hier nicht mehr um reale, sondern eher innerpsychische Vorgänge geht.

Für alle Kinder wäre es sicher ein Schock zu erfahren, dass ihre Mutter plötzlich nicht mehr liebevoll und fürsorglich, sondern egoistisch ist und diese durch Kindesaussetzung sogar sterben lassen will, um an ihrer Stelle essen und überleben zu können. Obwohl der Vater mitschuldig ist, wird er hier im Text deutlich entlastet. Vielleicht spiegelt sich hier das rechts- und sozialgeschichtliche Faktum wider, dass die Mutter immer bestraft wurde, der Vater jedoch nur selten (Piers, 1976). Obwohl die Mutter eigentlich ‚nur‘ extrem egoistisch handelt, um zu überleben, empfinden die Kinder dieses Verhalten der Mutter als „bös“ (Z.22). Dies zeigt zugleich, dass dieses Märchen aus der Sicht der Kinder erzählt wird.

Die Kinder hören zweimal abends, dass sie im Wald ausgesetzt werden sollen, und schlafen dann ein.

Beim ersten Mal wendet das Brüderchen eine erfolgversprechende Gegenstrategie an, ist zuversichtlich und das Schwesterchen trösten. Beim zweiten Mal ist dem Brüderchen infolge der verschlossenen Tür bewusst, dass er diesmal wohl keinen Erfolg haben wird.

Was liegt näher, als dass die verzweifelten Kinder im Schlaf Albträume haben? Wenn man nämlich den weiteren Verlauf des Märchens als kindlichen Albtraum oder poetische Erfindung zur Verarbeitung dieser Aussetzungsängste interpretiert, dann ergeben die scheinbar so irrealen und unlogischen Erlebnisse bzw. Handlungen der Personen plötzlich wieder Sinn.

Da Träume Wünsche und Ängste oft extrem verzerren, könnte das Hexenhaus Wunsch- und Angstvorstellungen (oder –träume) der Kinder und damit ein Zerrbild des Elternhauses repräsentieren.

Diese Deutung wird unterstützt durch den Umstand, dass dann die praktisch in jedem Volksmärchen vorkommende Zahl 3 auch in diesem Märchen enthalten ist: 1. Das vollständige Elternhaus zu Beginn, 2. Das unvollständige und veränderte Elternhaus als Hexenhaus und 3. das veränderte Elternhaus am Schluss.

Wunschvorstellungen: Bei den Kindern zu Hause gab es immer wieder kein Brot. Daher wünschen sie sich, dass immer Brot im Haus sei – am besten wäre es aus Kindersicht, wenn das ganze Haus aus Brot und Leckereien bestünde, da es dann nie fehlen würde.

Angstvorstellungen: Im Elternhaus erleben sie, dass die Mutter zuerst freundlich ist, dann aber böse und hinterhältig und an ihrer Stelle essen will. Im Hexenhaus wird ihre Mutter, die sicher noch recht jung und wohl auch schön war, zur alten und damit aus Kindersicht eher abstoßenden Frau und sogar – zeitbedingt – zur „Hexe“ (Z.51), die zunächst wie die Mutter freundlich, dann aber böse und hinterhältig ist und nicht nur anstelle der Kinder essen, sondern sie sogar fressen will. Unterstrichen wird diese Deutung dadurch, dass die Kinder erschrecken, als sie die feine Stimme (der Mutter?!) hören.

Auch die Rollenverteilungen im Elternhaus verändern bzw. verzerren sich im Hexenhaus. Der Vater ist im Elternhaus zwar anwesend, aber zu schwach und daher im Hexenhaus schon gar nicht mehr existent. Die Mutter/Hexe ist im Elternhaus dominant und egoistisch, im Hexenhaus zwar anfangs noch freundlich und gibt ihnen zu essen, dann aber extrem gefährlich, hinterhältig und mörderisch. Das Brüderchen kann im Elternhaus zunächst eine erfolgreiche Gegenstrategie anwenden Im Hexenhaus dagegen wird es wie im Elternhaus von der Mutter/Hexe eingesperrt und wirkt danach hilflos. Seine Strategie im Hexenhaus mit dem Knöchelchen ist nur ein Notbehelf wie mit den Brotkrümchen und letztlich zum Scheitern verurteilt.

Das Schwesterchen wandelt sich am stärksten. War sie im Elternhaus noch weinerlich und passiv, wird sie im Hexenhaus aktiv, überlistet sogar die Hexe, tötet sie und befreit ihren Bruder.

Insgesamt haben die Kinder im Hexenhaus bzw. im Traum oder ihrer poetischen Erfindung eine tiefgreifende Entwicklung durchgemacht. Sie haben innerpsychisch eine tödliche Bedrohung heil überstanden und sind durch symbolhafte Tötung bzw. Ablösung von der Mutter zur Selbständigkeit gelangt.

Daher finden sie auch selbständig ohne übernatürliche Helfer den Weg zurück ins veränderte Elternhaus, da die Mutter (Hexe) gestorben ist. Sie sind nicht mehr arm und hilflos, sondern bringen Reichtum zum Vater ins Haus und sind damit zumindest in ihren Wunschvorstellungen von den armutsbedingten Verhaltensweisen des Vaters unabhängig.

Wenn dieser Interpretationsansatz richtig ist, könnte man den oder die Urheber dieses Märchens zumindest etwas näher bestimmen. Es wären dann Erwachsene, die geschichtliche Aussetzungen bzw. Aussetzungsängste erlebt bzw. überlebt haben. Marie Piers schreibt in ihrem Aufsatz, „dass Kinder, die in größter Armut leben oder … die größte Armut zu überleben vermögen, sich mit mörderischen Eltern identifizieren und insofern wohl auch imstande sind, andere Menschen umzubringen.“ (ebenda, S.430).

Für sie wäre dann das Hexenhaus die poetische Erfindung, mit der er/sie sich von den albtraumartigen Erlebnissen ihrer Kindheit zu befreien und auch ein Modell der Befreiung für andere anzubieten versuchten.

Die Entstehungszeit könnte man zumindest auf das 16. bzw. 17. Jahrhundert eingrenzen, da es zu dieser Zeit in Deutschland große Hungersnöte und häufige Kindesaussetzungen sowie auch Hexenverbrennungen gab.

3. Das vorliegende Volksmärchen weist auch die meisten typischen Merkmale des Volksmärchens auf:

(1)  Die Handlung hier ist eindimensional, wobei Diesseits und Jenseits nicht getrennt sind, da mitten im realen Wald das übernatürliche Hexenhaus steht, was die Kinder als ganz natürlich ansehen.

(2) Grausamkeit, Mord, Hilflosigkeit, Freude werden hier nur oberflächlich angedeutet.

(3)  Nur aneinandergereihte Erzählstränge (Elternhaus, Wald, Hexenhaus), aus Kinderperspektive erzählt

(4)  Alle Personen sind isoliert und lernen nur in einem Falle (Mutter, die die Tür abschließt) aus Erfahrung

(5)  Hier gibt es nur das übernatürliche Hexenhaus.

(6)  Nur verniedlichte Verwandtschaftsbezeichnungen, später Allerweltnamen (Hans, Grete)

(7)  Alle Figuren sind ohne individuelle Körper-, Charaktereigenschaften oder Psyche

(8)  Es kommt nur die Zahl drei (drei veränderte Elternhäuser) vor.

(9)  Es gibt am Anfang eine formelhafte Redewendung und einen Vers (in späteren Versionen wird noch die Antwort der Kinder hinzugefügt).

(10) Starke Gegensätze sind hier nur gut (Kinder + Vater) und böse (Mutter/Hexe) sowie arm und reich

(11) Das Ende ist glücklich, die Guten (Kinder + Vater) siegen und die Bösen (Mutter/Hexe) werden bestraft.

(12) Hier gibt es weder konkrete Orts- und Zeitangaben

(13) Autor und Entstehungszeit sind unbekannt, man könnte die Entstehungszeit aber auf das 16. bzw. 17. Jh. eingrenzen, da es zu dieser Zeit in Deutschland große Hungersnöte und Kindesaussetzungen sowie auch Hexenverbrennungen gab. Urheber/-innen könnten Personen sein, die ähnliche Aussetzungsängste er- bzw. überlebt haben.

(14) Das Märchen ist mündlich und schriftlich literarisch gestaltet.

(15) Funktionen: vorrangig psychodramatische Konfliktbewältigung.

4. Auch das Handlungsschema des Zaubermärchens lässt sich auf dieses Märchen anwenden.

- Mangel und/oder Konflikt am Anfang, Unselbständigkeit von Held/Heldin

Familie ist arm, Konflikt zwischen Mutter und Kindern

- Held/Heldin zieht hinaus in die Welt

Kinder ziehen gezwungenermaßen in den unbekannten Wald

- steht vor schwierigen/unlösbaren Problemen

Kinder wollen der Aussetzung entkommen und wieder aus dem Wand herausfinden.

- findet übernatürliche Helfer

Nur in den späteren Märchenfassungen ab 1812 und finden sie eine weiße Ente als übernatürlichen Helfer, mit dessen Hilfe sie wieder nach Hause gelangen..

- löst die (selbst-)gestellten Aufgaben/Probleme

Die Kinder lösen alle Probleme (Befreiung von Hexe, Überwindung der Armut und Rückkehr ins Elternhaus aus eigener Kraft

- wird selbständig und kehrt heim

Kinder werden selbständig und kehren heim

- Reichtum und/oder gelöster Konflikt am Schluss

Kinder werden reich durch Edelsteine und Konflikt wird durch Tötung der Hexe ‚gelöst‘.

5. Psychologische Phänomene und Implikationen für die eigene Lebensgestaltung (Frey, S. 103ff., Nr. 7):

Lügen, Optimismus, erlernte Hilflosigkeit, Konformität und blinder Gehorsam sind immer noch prägend für unser Miteinander.

Hier lügen und täuschen alle Personen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Eltern und die Hexe sind zu verurteilen, da sie aus niederen Beweggründen lügen. Bei den Kindern handelt es sich um vertretbare Notlügen, um ihr Leben zu retten.

Das Brüderchen bleibt stets aktiv, meist optimistisch und gibt nie auf, auch wenn er eigentlich, wie im Hexenhaus, keine Chance mehr hat. Diesen realistischen Optimismus nennt man Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit und Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie als Chance zur Weiterentwicklung zu nutzen. Im Alltag ist Resilienz wichtig, um adäquat mit Herausforderungen und Rückschlägen umzugehen.

Das Schwesterchen hingegen verhält sich zu Beginn passiv. Bei Rückschlägen reagiert sie mit bitterlichen Weinen und Verzweiflung. Sie glaubt nicht, dass sie diese Situation verändern kann, und fügt sich ihrer Lage.

Dieses Verhalten nennt man erlernte Hilflosigkeit. Die eigene Selbstwirksamkeitserwartung wird dadurch stark geschwächt. Sie hat die erlernte Hilflosigkeit wahrscheinlich durch eine Reihe negativer Lernerfahrungen erworben. Erst als ihr Bruder von der Hexe wird, überwindet sie ihre Hilflosigkeit, um sich und ihren Bruder vor dem Tod zu retten. Sie stößt die Hexe in den Ofen und rettet ihren Bruder. Dabei macht sie eine korrigierende Lernerfahrung. Sie stellt fest, dass ihr mutiges Handeln etwas bewirkt, und entwickelt sich so zur aktiv handelnden Heldin.

Erlernte Hilflosigkeit kann zu Passivität, Verzweiflung und Depressionen führen. Daher ist bereits für Kinder das Erleben von Selbstwirksamkeit sehr wichtig. Schon von Geburt an lernen Kinder durch Ausprobieren verschiedener Verhaltensweisen, dass ihr Handeln Auswirkungen auf die Umwelt und das Verhalten anderer Menschen hat. Dabei sind Herausforderungen für Kinder in jeder Entwicklungsstufe besonders wichtig, um ihre Selbstwirksamkeit auf unbekanntem Terrain zu überprüfen.

Auch im Bereich der Mitarbeiterführung sind Selbstwirksamkeit und wahrgenommene Kontrolle für Mitarbeiter von großer Bedeutung. Es ist wichtig, dass Führungskräfte ihren Mitarbeitern das Gefühl vermitteln, dass auch sie etwas bewirken können und nicht äußeren Einflüssen hilflos ausgesetzt sind. Schon bei einem Problem angehört zu werden, kann helfen, dass wir mehr Kontrolle über die Situation wahrnehmen und zufriedener sind.

Der Vater zeigt Konformität und Gehorsam seiner Frau gegenüber, indem er sich gegen seinen Willen von seiner Frau überreden lässt, die Kinder auszusetzen. Das berühmte Milgram-Experiment zeigte, dass Menschen oft gegen ihren Willen und ihr Gewissen handeln, wenn sie von Autoritätspersonen unter Druck gesetzt werden, da diese einen normativen sozialen Einfluss auf andere ausüben. In einer verwirrenden und stressigen Situation verlassen sich Personen oft auf Anweisungen von Autoritätspersonen, um ihre persönliche Verantwortung abzugeben. Gehorsam ist in allen Kulturen eine wichtige Norm, die ein geordnetes Zusammenleben ermöglicht. Deshalb lernen wir, Autoritätspersonen wie Eltern oder LehrerInnen zu gehorchen. Gehorsam wird dann gefährlich, wenn er von der Autoritätsperson missbraucht wird – und wie hier im Märchen – das Leben anderer gefährdet oder deren Menschenwürde verletzt. Dies kann durch Zivilcourage verhindert werden. Sie ist ein von Ablehnung begleitetes, mutiges Verhalten, das hilft, gesellschaftlich-ethische Normen ohne Rücksicht auf eigene soziale Kosten durchzusetzen. Zivilcourage bedeutet, für andere einzutreten und blindem Gehorsam Grenzen zu setzen.