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GREGOR SCHRÖDER

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Alltags- & Liebeslyrik 2

Vergleich zweier Gedichte

17. Johann Wolfgang von Goethe: Dauer im Wechsel (1815)

18. Gottfried Benn: Aber du - ? (1954)

19. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)

20. Rainer Maria Rilke: Herbsttag  (1902)

8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)


17. Johann Wolfgang von Goethe: Dauer im Wechsel (1815)

      Hielte diesen frühen Segen,

       Ach, nur eine Stunde fest!

       Aber vollen Blütenregen

       Schüttelt schon der laue West.


  5   Soll ich mich des Grünen freuen,

       Dem ich Schatten erst verdankt?

       Bald wird Sturm auch das zerstreuen,

       Wenn es falb im Herbst geschwankt.


       Willst du nach den Früchten greifen,

10   Eilig nimm dein Teil davon!

       Diese fangen an zu reifen,

       Und die andern keimen schon;


       Gleich mit jedem Regengusse

       Ändert sich dein holdes Tal,

15   Ach, und in demselben Flusse

       Schwimmst du nicht zum zweitenmal.


       Du nun selbst! Was felsenfeste

       Sich vor dir hervorgetan,

       Mauern siehst du, siehst Paläste

20   Stets mit andern Augen an.


       Weggeschwunden ist die Lippe,

       Die im Kusse sonst genas,

       Jener Fuß, der an der Klippe

       Sich mit Gemsen freche maß.


25   Jene Hand, die gern und milde

       Sich bewegte, wohlzutun,

       Das gegliederte Gebilde,

       Alles ist ein andres nun.


       Und was sich an jener Stelle

30   Nun mit deinem Namen nennt,

       Kam herbei wie eine Welle,

       Und so eilts zum Element.


       Lass den Anfang mit dem Ende

       Sich in Eins zusammenziehn!

35   Schneller als die Gegenstände

       Selber dich vorüberfliehn!


       Danke, dass die Gunst der Musen

       Unvergängliches verheißt,

       Den Gehalt in deinem Busen

40   Und die Form in deinem Geist.



18. Gottfried Benn: Aber du – ? (1954)

      Flüchtiger, du mußt die Augen schließen,

       denn was eindringt, ist kein Großes Los,

       abends im Lokal ist kein Genießen,

       selbst an diesem Ort zerfällst Du bloß.


  5   Plötzlich sitzt ein Toter an der Theke,

       Rechtsanwalt, mit rotem Nierenschwund,

       schon zwei Jahre tot, mit schöner Witwe,

       und nun trinkt er lebhaft und gesund.


       Auch die Blume hat schon oft gestanden,

10   die jetzt auf dem Flügel in der Bar,

       schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden

       Gott weiß wann, wo immer Sommer war.


       Alles setzt sich fort, dreht von der alten

       einer neuen Position sich zu,

15   alles bleibt in seinem Grundverhalten –

       aber du –?



Hintergrundinfos zu Benns Gedicht

Es sind Beobachtungen eines Stoikers, der seinen letzten Lebensabschnitt heraufdämmern sieht. Das Ich beginnt die eigene Vergänglichkeit zu spüren und verweist auf kleine Rendevous mit dem Tod. Bei allen Veränderungen, die vom lyrischen Subjekt diagnostiziert werden, gibt es auch eine Konstante im "Grundverhalten". Das lyrische Ich hält am Ende die eigene Position offen: Es ist nicht absehbar, wann und wo der Wechsel der Existenz bevorsteht. Das Gedicht wurde erstmals veröffentlicht in der "Welt am Sonntag" vom 12.9.1954.

Die Bierkneipe ist für den späten Gottfried Benn (1886-1956) das Zentrallabor für Poesie. In seinen Stammlokalen rund um den Bayerischen Platz in Berlin empfing er seine stärksten Eindrücke. "Ich habe abends meistens Durst u. Unruhe u. gehe in eine Kneipe", schrieb er 1950 seinem Briefpartner F.W. Oelze, "da distanziert sich das Leben von mir u. wirft sich als Figuren an die Wände." In einer dieser abendlichen Sitzungen widerfuhr dem lyrischen Alter Ego Benns eine außerordentliche Erfahrung: die Wiederkehr eines Toten.


Vergleichende Gedichtinterpretation – Analyse und Deutung

Gliederung

A Einleitung: Hinweis auf Goethes verschiedene dichterische Tätigkeiten

B Hauptteil

1 „Dauer im Wechsel“ von Johann Wolfgang von Goethe

1.1.1  Inhalt und Aufbau

1.1.2  1.Strophe: Klage über die Vergänglichkeit des Schönen und Zweifel, ob sich Freude an der Natur lohnt

1.1.3  2.Strophe: Appell an den Leser sich zu eilen und Aufmerksam machen auf die Situation

1.1.4  3.Strophe: Erweiterung des Blickfeldes

1.1.5  4.Strophe: Veränderung des Menschen

1.1.6  5.Strophe: Wendung, Dankbarkeit und Fazit

1.2.    Form

1.2.1  Strophenform (Kreuzreim, 8 Verse, 5 Strophen)

1.2.2  Versmaß (vierhebiger Trochäus)

1.2.3  Rhythmus (Steigerung zum Höhepunkt)

1.2.4  Klangebene (Schnelligkeit vs. Dauerhaftigkeit)

1.2.5  Wortebene (Natur, Vergänglichkeit, Du)

1.2.6  Satzebene (Ausrufesätze, Fragesatz)

1.2.7  Bildebene (Abstrakta, Sinneswahrnehmungen)

1.2.8  Stilmittel (Vergleich, pars pro toto, Antithese, Paradoxon)          

2. Vergleich mit „Aber du – ?“ von Gottfried Benn

2.1     Zwei konträre Grundansätze

2.2     Sicherheit der Aussagen

2.3     Fehlender Schöpfungsglaube im 20. Jahrhundert

2.4     Schauplatz

2.5     Umwelt

2.6     Verbitterung

2.7     Fehlende Appelle, Resignation

2.8     Sicht des Individuums

2.9     Zeitgeschichtliche Aspekte

2.10   Grundstimmung

2.11   Lyrisches Ich, Einstellungen der Dichter

2.12   Zusammenfassung

C Schluss: Kaum Verwunderung über die gegensätzlichen Auffassungen

Johann Wolfgang von Goethe, dem wir wunderbare Erzählungen verdanken, beschäftigte sich auch zeitlebens mit Gedichten. Nicht nur seine Dramen – wie zum Beispiel „Faust“ – sind eine Errungenschaft deutscher Dichtkunst, auch seine Gedichte sind es formal und inhaltlich wert, sich mit ihnen zu beschäftigen. Im Folgenden soll nun Goethes Gedicht „Dauer im Wechsel“ genauer erschlossen und später mit dem Gedicht „Aber du –?“ von Gottfried Benn verglichen werden.

Inhaltlich beschäftigt sich Goethe in diesem Gedicht mit dem Thema der Dauer und der Veränderung der Umwelt und des Individuums. Es beginnt mit der Klage über die Vergänglichkeit des Schönen, das man nicht halten kann, und gleichzeitig fragt das lyrische Ich, ob sich die Freude am Vergänglichen lohnt. Diese Feststellungen u. Zweifel werden an den Veränderungen der Natur auch im Laufe der Jahreszeiten, festgemacht (Zeile 1-8).

Die 2. Strophe beginnt mit der Aufforderung an den Leser oder alle Mitmenschen, den Menschen allgemein, sich zu eilen, da alle Freuden vergänglich sind. Wir werden aufmerksam gemacht auf das in der 1. Strophe beklagte Problem der Vergänglichkeit der Natur, die das Umfeld der Menschen darstellt.

Gleichzeitig klagt das lyrische Ich immer noch über dieses Übel. (Zeile 9-16) In der 3. Strophe wird das Blickfeld erweitert, weg von der Natur hin zu der von Menschen geschaffenen Umgebung („ Mauern... Paläste“. Z.19). Außerdem leitet Goethe hier schön über zum Hauptaspekt der nächsten Strophe, der Veränderung des Körpers (Z. 17-24).

Diesem Thema ist die vierte Strophe gewidmet, in der von der äußerlichen Veränderung des Individuums die Rede ist („ das gegliederte Gebilde...“, Z.27). Der Grundton ist hier wieder mehr bedauernd und weniger appellierend. Neben dem Altem wird hier auch der Tod kurz berührt („und so eilt’s zum Element“, Z. 32) (Z. 25-32).

Die letzte Strophe beinhaltet eine Wendung. Sie zeigt die Möglichkeit des Dauernden, das Unvergängliche von Seele („... Gehalt in deinem Busen“, Z. 39) u. Geist, also Verstand, auf. Sie ist ein Dank („Danke,...“, Z. 37) an diese Gabe, an die Schöpfung, dass das Individuum trotz äußerlicher Veränderungen im Grunde es selbst bleibt, losgelöst von den Äußerlichkeiten. Sie ist zugleich eine Aufforderung, die Veränderung der Umgebung u. des Körper nicht so ernst zu nehmen, sondern sich an der Unvergänglichkeit seines Inneren zu erfreuen, das man durch die Musen bildet. (Z. 37-40)          

Dies alles lässt sich noch besser begreifen, wenn man das Gedicht auch in sprachlicher Hinsicht genauer betrachtet. Es ist in fünf Strophen gegliedert, die aus je 8 Zeilen bestehen. Die Strophen weisen alle das gleiche Schema auf, womit wohl die Sicherheit der Behauptung, die gefestigte Grundaussage, unterstrichen werden soll.

Das Reimschema des Kreuzreimes (ababcdcd) uns auch das Versmaß werden durchgehend eingehalten. Es sind vierhebige Verse im Trochäus („Hielte diesen frühen Segen“, Z. 1), wobei jedoch jede zweite Zeile auf einer betonten Silbe endet, um der Aussage Kraft zu geben. ( „Ach, nur eine Stunde fest“, Z. 2)

Dies ist ein Wechsel zwischen harter und weicher Kadenz. Die Versform ist alternierend, das heißt, Hebungen und Senkungen wechseln sich - bis auf das Ende der zweiten Verse - regelmäßig ab. Der Rhythmus des Gedichts beginnt leicht schwerfällig, klagend und bedauernd, jedoch wird durch die Betonung der Endsilbe in jedem zweiten Vers das ganze doch ziemlich energisch vermittelt.

Mit den Aufforderungen, der Hinwendung zu den Mitmenschen, gewinnt das Gedicht an Dynamik und endet am Schluss in einer fast euphorischen Stimmung, als die Unvergänglichkeit des Inneren entdeckt wird. Das Gedicht steigert sich also zum Höhepunkt am Schluss.

Auch auf der Klangebene lässt sich einiges finden. Helle Vokale (e;i) dominieren in allen 5 Strophen. Umlaute sind häufig vertreten, vor allem in der ersten Strophe das „ü“ („frühen“ Z.1, „Blütenregen“, Z.3, „Grünen“. Z.5) Das soll die Freude beim Anblick der Natur vermitteln, aber durch die eingebrachte Schnelligkeit gleichzeitig die Vergänglichkeit betonen. „A“, „u“ und „o“ finden sich vorrangig in Wörtern, die entweder das Dauerhafte oder etwas Schlechtes in der Natur ausdrücken. („Gunst“, Z.37, „Musen“, Z.37 / „Schatten“, Z.6, „falb“, z.8)

Auch an den gegensätzlichen Begriffen „Anfang“ (Z.33) und „Ende“ (Z.33) lässt sich diese Beobachtung festmachen. Der Anfang kommt langsam, scheint noch viel offen zu lassen, erinnert an Ewigkeit, wird jedoch vom Ende, das schnell kommt und vergänglich ist, abgelöst. Es finden sich auch 2 Alliterationen: „gegliedertes Gebilde“ (Z.27) und „Namen nennt“ (Z.30). Diese dienen jedoch nur zum guten Klang des Gedichts.

Besonders interessant ist die Wortebene. In der 1. Strophe, in der es um die Natur geht, stehen vorwiegend Wörter aus diesem Wortfeld: „Blütenregen“, „Grünen“, „Herbst“, „lauer West“. Diese sind auch in der 2. Strophe vorhanden. („Früchte“, „reifen“, „keimen“, „Regengusse“, „Flusse“, „Tal“), jedoch kommt hier etwas Neues dazu, und zwar das „du“. Von Z. 9 an wird das „du“ zum zentralen Thema, was auch an der häufigen Verwendung deutlich wird: “du“ (Z.9), „dein“ (Z.10), „du“ (Z.16), „Du“ (Z.17) „dir“ (Z.18) etc.

Einen weiteren wichtigen Aspekt bilden Wörter, die auf die Veränderung, Schnelligkeit und Vergänglichkeit hinweisen. Solche sind in vielen verschiedenen Wortarten häufig zu finden: „frühen“ (Z.1), „schon“ (Z.4), „erst“ (Z.6), „eilig“ (Z.10), „anfangen“ (Z.11), „reifen“ (Z.11), „keimen“ (Z.12), „ändert“ (Z.14), „gleich“ (Z.13), „bewegen“ (Z.26), „schneller“ (Z.35), „Anfang“ (Z.33), „Ende“ (Z.33), „vorüberfliehen“ (Z.36).

Zur Satzebene ist besonders zu bemerken, dass fast in jeder Strophe (mit Ausnahme von Strophe 4) ein Ausrufesatz zu finden ist. In der zweiten, dritten und fünften Strophe sind das Aufforderungen, also im Imperativ, in der ersten Strophe die Äußerung eines Wunsches. Dieser Wunsch ist sehr emotional, fast schon voller Verzweiflung und endet daher mit einem Ausrufezeichen.

Auch die Frage in Z. 5/6 ist wichtig. Sie deutet an, dass das lyrische Ich sich zwar an der Natur erfreuen kann, aber nicht weiß, ob das so sinnvoll ist. Diese Frage ist die einzige Stelle im Gedicht, in der gezweifelt wird an dem, was ausgesagt wird.

Im gesamten Gedicht wird stark mit Sinneswahrnehmungen, vor allem dem Sehen, gespielt. Worte wie „Blütenregen“ (Z.3) oder „felsenfest“ (Z.17) lassen sofort deutliche Bilder im Kopf entstehen. Auch das Wort „Regengusse“ (Z.13) animiert die Erinnerung an den Geruch von Regen, das Gefühl, wenn er auf die Haut tropft, den Anblick des Regens, das Plätschern, das man hören kann. Hier zeigt sich die Grundaussage, dass Natur etwas Schönes ist, wieder.

Abstrakte Begriffe werden kaum verwendet, außer in den letzten beiden Zeilen: „den Gehalt in deinem Busen und die Form in deinem Geist.“ Die übrigen abstrakten Begriffe, die genannt werden, sind oft symbolisch gemeint („Anfang und Ende“) und nicht schwer zu entschlüsseln.

Man findet in diesem Gedicht auch eine große Anzahl weiterer Stilmittel. Es gibt zwei Vergleiche, in denen der Mensch mit Tieren und der Natur verglichen wird. Die „Gemsenfreche“ wird dem jungen Menschen zugeordnet (Z.23/24) und das Altern wird mit einer schnell herannahenden Welle verglichen. (Z.31/32). Der Mensch wird auch einmal mit Gegenständen verglichen (Z.35/36). Diese Vergleiche unterstreichen die Ansicht, dass der Mensch eins ist mit der Natur, seiner Umgebung und den ihm untergeordneten Lebewesen. Jedoch wird der Mensch am Ende hervorgehoben, indem er als einzigartig und besonders herausgestellt wird.

Die Natur ist eines von den Themen, die Goethe immer zur Assoziation von Freude, aber auch von Vergänglichkeit gebrauchte. Die Sicht des Individuums wird deutlich in der Trennung von Körper und Geist. Der Körper wird als „gegliedertes Gebilde“, also als von der Seele unabhängig, unwichtiger, dargestellt. Hier findet sich ein „pars pro toto“. „Lippe“, „Hand“ und „Fuß“ stehen für eben diese Gebilde. In der Abstrahierung der Seele, des Geistes, wird deutlich, dass Goethe diesen Teil des Menschen als wichtiger, komplizierter und hochwertiger als die Hülle begreift.

Es gibt auch einige Ausrufe, beginnend mit dem Wort „Ach“ (Z.2/15). Das steigert noch einmal die Emotionalität des Gedichtes und des Themas. Das Wort „Danke“ (Z.37), auch als Ausruf, zeigt, dass Goethe die Natur und den Menschen (vor allem letzteren) als etwas betrachtet, das uns von etwas Höherem gegeben wurde. Er ist jemandem, wem auch immer, dankbar für alles, für die Einzigartigkeit des Menschen. Das Zusammenziehen von Anfang und Ende (Z.33) ist zugleich Antithese und Paradoxon. Das unterstreicht noch einmal die Aussage, dass der Geist nicht vergänglich ist und nicht abhängig vom äußeren Werden und Vergehen. Auch die Überschrift „Dauer im Wechsel“ ist so ein Paradoxon, das das gleiche bezweckt.

Goethe will also mit seinem Gedicht zum Ausdruck bringen, dass sich alles um uns herum ändert, vergänglich ist, auch unser Körper, dass aber unsere Seele und unser Verstand, was also unseren Charakter ausmacht, unvergänglich sind. Er sieht die Welt in ständigem Wandel, das Individuum aber als etwas, das in seiner Einzigartigkeit trotz kleiner Veränderungen im Grunde gleich bleibt.

Gottfried Benn jedoch, ein Dichter des 20. Jahrhunderts, der in einer gänzlich unterschiedlichen Zeit lebt, sieht alles gegensätzlich. Er sieht im Äußeren das Andauernde und im Individuum den Wechsel. Er gesteht dem Äußeren zwar Veränderung zu, „alles setzt sich fort“ (Z.13), aber er glaubt, dass „alles [ ] in seinem Grundverhalten [bleibt]“. Außer eben das Individuum, was in seinem Zusatz „aber du - ?“, zugleich Titel des Gedichtes, klar wird. In diesem Gedicht ist die Meinung jedoch nicht so gefestigt, schließlich bleibt die Frage offen. Aber durch den Zweifel klingt eben an, dass er das Individuum konträr zur Welt sieht. Benn hebt es ebenso wie Goethe hervor, gibt ihm eine Sonderposition.

Der Schöpfungsglaube aber fehlt bei Gottfried Benn. Dies liegt sicher auch an der Zeit, in der er lebt. Denn der Glaube ist zu einem unwichtigen Lebensbestandteil für viele Menschen geworden. Sie sind nicht mehr so dankbar für alles, was sie sind und was sie umgibt. Aber gerade deshalb beginnen sie Antworten zu suchen, versuchen sie die Welt zu erklären und ihre Sicht zur Welt und zu sich selbst zu finden. Goethes Gedicht weist keinen genauen Schauplatz auf, handelt aber von der Natur, die zu seiner Zeit noch ein sehr wichtiger und kaum zerstörter Bestandteil des Lebens war.

Im 20. Jahrhundert dagegen gehen viele Menschen nicht mehr in die Natur, sie haben vergessen, wie schön es dort ist. Man sucht sein Glück in dem, was der Mensch geschaffen hat. Deshalb spielt Benns Gedicht wohl auch in einer Kneipe, in einem Lokal. Doch auch hier ist nichts Schönes („selbst an diesem Ort zerfällst du bloß“, Z.4).

Das einzig Schöne ist die Blume, die aber auch nichts Besonderes mehr ist. Für Gottfried Benn ist das, „was eindringt“ (Z.2), etwas Schlechtes, nichts Großes wie für Goethe. Der schilderte die Natur, die Freude, die ihr Anblick bereitet. Benn hingegen hält es nicht für ratsam sich zu eilen und die Früchte zu genießen, bevor sie weg sind, sondern er rät seinen Mitmenschen, „die Augen [zu] schließen“ (Z.1) vor dem, was draußen ist. Er bedauert nicht, dass die Natur so schnell vergeht, er bedauert das immer Gleiche des Alltags („schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden“ Z.11).

Auch bezeichnet er den Menschen als „Flüchtigen“ (V.1), flüchtig vor der Welt, vor sich selbst, vor der Trostlosigkeit des Alltags. Er beschreibt einen Rechtsanwalt (Sinnbild für Regeln, immer Gleiches, Starres), der schon wie tot wirkt, aber plötzlich beginnt lebhaft zu trinken - trotz seines Nierenschwundes. Ein Phänomen, das im 20. und 21. Jahrhundert häufig zu finden ist. Der Mensch spürt keine Dankbarkeit mehr, ruiniert sich Körper und Seele, oft, indem er irgendeiner Sucht verfällt.        

Zwar ist für Benn das Individuum schon etwas Besonderes, aber er hält es nicht unbedingt für besonders gut.

Für Goethe und viele seiner Zeitgenossen war klar, dass der Sinn des Lebens in Bildung von Seele und Geist lag, die Sinnsuche war quasi abgeschlossen, in Benns Zeit jedoch begann eine neue Phase der Sinnsuche. Im Gegensatz zum Gedicht „Dauer im Wechsel“ wird hier nur einmal, gleich zu Anfang, eine Aufforderung an den Leser gerichtet. Goethe ist da viel euphorischer, hat noch Hoffnung und möchte seine Gedanken mitteilen, andere mitreißen. In Benns Gedicht herrschen Abgestumpftheit, Trostlosigkeit und Verzweiflung vor. Die Hoffnung ist verschwunden.

Benn stellt dem Leser abschließend eine Frage: „aber du -?“. Er lässt alles offen, gibt keine Lösung an. In beiden Gedichten werden gegensätzliche Haltungen vertreten, in Goethes Gedicht jedoch mit mehr Nachdruck, größerer Begeisterung für seine Sache.

Die Grundstimmung ist ebenso gegensätzlich. Goethes Gedicht ist euphorisch u. wirkt trotz einiger Klagen optimistisch u. froh. Benns Gedicht ist voll von Hoffnungslosigkeit, sehr melancholisch u. eher traurig. Die beiden Ansichten, die sicher die der beiden Verfasser sind, da ein lyrisches Ich nicht näher bestimmt ist, bei Gottfried Benn gleich gar nicht vorhanden, sind sicher in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu sehen. Im 20. Jhd. fehlen weitgehend die Natur- u. die Gottverbundenheit, die Lebensumstände u. die Umgebung der Menschen haben sich gewandelt. Die Verzweiflung an einem fehlenden Sinn ist größer denn je.

So ist es nicht verwunderlich, dass beide Dichter so unterschiedliche Auffassungen von der Welt und dem Individuum haben.



19. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)

       Fetter grüne du Laub

       Am Rebengeländer

       Hier mein Fenster herauf

       Gedrängter quillet

  5   Zwillingsbeeren, und reifet

       Schneller und glänzend voller

       Euch brütet der Mutter Sonne

       Scheideblick, euch umsäuselt

       Des holden Himmels

10   Fruchtende Fülle.

       Euch kühlet des Monds

       Freundlicher Zauberhauch

       Und euch betauen, Ach!

       Aus diesen Augen

15   Der ewig belebenden Liebe  

       Vollschwellende Tränen.  



20. Rainer Maria Rilke: Herbsttag  (1902)

       Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
       Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
       und auf den Fluren laß die Winde los.


       Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
  5   gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
       dränge sie zur Vollendung hin und jage
       die letzte Süße in den schweren Wein.


       Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
       Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
10   wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
       und wird in den Alleen hin und her
       unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.



Vergleichende Gedichtinterpretation - Analyse und Deutung

Bevor ich mit der detaillierten Analyse und Deutung der einzelnen Abschnitte der Werke beginne, soll eine Zusammenfassung unter formalen Gesichtspunkten erfolgen. Johann Wolfgang von Goethe verwendet weder Endreim noch festes Metrum (hingegen nur schwere, unregelmäßig auftauchende Metren wie Daktylos und Trochäus), verzichtet gar auf eine sichtbare Gliederung in Strophen. Dies steht im völligen Kontrast zu Rilkes dreistrophigem Gedicht, welches in je drei, vier und abschließend fünf Zeilen gegliedert sowie durch die Verwendung umarmender Reime und unregelmäßiger fünfhebiger Jamben charakterisiert ist, was dem „Herbsttag“ viel deutlichere Konturen gibt, wohingegen Goethe seinen Worten den leichten Fluss nicht durch die Zusammenfügung innerhalb fester formaler Mittel nehmen zu wollen scheint. Dennoch lässt sich „Im Herbst 1775“ inhaltlich in Teile strukturieren, wobei der erste die Verse eins bis sechs umfasst. Das lyrische ich lässt sich anhand dieser Zeilen bereits eindeutig positionieren: es blickt aus dem Fenster („ […] Hier mein Fenster herauf.“, Z. 3) auf die das Haus umgebende Natur, vielleicht einen Garten, Pflanzen, die das Gemäuer beranken oder ähnliches. Von dieser Position aus wendet sich das lyrische ich imperativisch an gegenständliche, fassbare Erscheinungen der belebten Natur, „(…)Laub (…)“, Z. 1; „(…) Das Rebengeländer (…)“, Z. 2; „(…) Zwillingsbeeren (…)“, Z. 5, fordert jene auf die typisch herbstlichen „Wachstumsprozesse“, das Grünen, Quillen und Reifen (vgl. Z. 1, 4, 5), zu beschleunigen. In diesem Moment steht also noch das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund: Früchte reifen beispielsweise im Herbst, doch ist die Zeit des Grünens und Blühens längst vorbei, eher noch kündigt sich der Winter und damit die Zeit einer grau-tristen Natur an, die jedoch, kaum ist der letzte Frost überstanden, wieder unbeirrt ihrem Lebensrhythmus folgt, die ersten Knospen sichtbar werden lässt. Bezüglich des Sprachgestus fällt in diesem Teil besonders auf, dass die am Fenster stehende Person sehr ausdrucksstarke Worte voll der Bildlichkeit gebraucht: das Laub wird persönlich angesprochen, quasi personifiziert („ Fetter grüne, du Laub, (…)“, Z. 1), komparativisch gesteigerte Adverbien wie fetter, voller, schneller (vgl. Z. 1 und 6) finden ebenso wie eine Synästhesie („ (…) glänzend voller (…)“, Z. 6) Anwendung. Durch die Verknüpfung von Sinnesendrücken wird so die Bildlichkeit der Sprache erhöht.

Die starken Worte sind Ausdruck der Üppigkeit der Natur, ihrer Unbezähmbarkeit, ihres Überflusses. Zudem verknüpft der Dichter die Zeilen zwei bis vier durch Zeilensprünge, was zusätzlich sprachliche Dichte, Dynamik und Sprachfluss verbessert, kann dies nicht durch ein einheitliches Metrum erfolgen. Zur Zeit der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang herrschte eine besonders starke Hinwendung zu belebter wie unbelebter Natur. Goethe war des weiteren Pantheist, weshalb es ihm anders als seinem Prometheus oder Rilke, worauf ich sogleich kommen werde, ausreichte, der Natur zu befehlen, da sie nach pantheistischem Glauben Teil sowie Verkörperung Gottes ist.

Dem gegenüber steht die erste Strophe des Gedichtes „Herbsttag“, welche drei Zeilen umfasst. Auch hier wendet sich das lyrische ich, das sich aber anders als bei Goethe nicht ähnlich einer Bildkomposition positionieren lässt, an Gott, spricht hier jedoch den Schöpfer höchstpersönlich an, um von ihm dann die fühlbare Beendung des Sommers und Einläutung des Herbstes zu fordern. Während wir im ersten Gedicht also folgende ersten Zeilen finden: „Fetter grüne, du Laub, (…)“, lautet die direkte Ansprache im zweiten wie folgt: „ Herr: es ist Zeit.“. Klar muss hierbei sein, dass es sich kaum um einen Gebetsgestus handelt. Goethe und Rilke vertraten sehr unterschiedliche Glaubensrichtungen, insofern man bei letzterem, einem Anhänger Nietzsches („Gott ist tot.“) davon sprechen kann. Er erhöhte Religion ausschließlich zur Kunstform, was auch den befehlenden Ton des lyrischen Ichs, der sich an die vorausgegangene Feststellung anschließt, erklärt. „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren laß die Winde los.“; Z. 2 bis 3 – die Imperative sind unschwer zu erkennen, doch scheinen sich hinter jenen Forderungen gleich zwei Ebenen zu verstecken. Zunächst fällt dabei die bildhafte ins Auge: Sonnenuhren beschatten meint schließlich die Welt verdunkeln, Winde loslassen herbstliches Wetter einzuläuten. Allerdings entsprächen jene Vorstellungen einem eher altertümlichen Gottesbild, das Gott in seiner Position als Schattenwerfer und Windeigner Wächter der Naturgewalten darstellt. Obgleich das lyrische ich einige Vermessenheit an den Tag legt, Gott zu befehlen, drückt es im zweiten Satz des ersten Verses doch Anerkennung für vollbrachte Taten, für Vergangenes im Präteritum aus („ Der Sommer war groß.“), um dann gleich neue Kraft zu fordern. All dies sind Vorstellungen und Weltbilder die Rilke persönlich völlig fremd waren, weshalb er sie sicher vor allem aus künstlerisch wertvoller Sicht derartig gebraucht, gemäß l’art pour l’art, Kunst (in diesem Falle Religion) um der Kunst willen.

Der Wendung an die Natur schließt sich im Verlaufe des „Herbstes 1775“ die Rede über selbige an. Dieser zweite Teil des Gedichtes umfasst die Zeilen sieben bis zwölf und thematisiert den kosmischen Teil der Natur, die Naturgewalten, welche bei Rilke bereits Inhalt der ersten Strophe sind, und zeigt auf, inwiefern sie die im ersten Teil beschriebene Flora beeinflussen. Das lyrische ich wagt den Blick in die Ferne, gen Himmel, was auch auf Goethes biografisches Fernweh, den Umzug nach Weimar, übertragen werden könnte. Zunächst fallen die Personifizierungen der Sonne, des Mondes und des Himmels auf („[…] Mutter Sonne […]“, Z. 7). Die Anrede der Sonne als Mutter verfügt zudem über einen pantheistisch – religiösen Beigeschmack. Starke Bildlichkeit, verbesserte Anschaulichkeit und gesteigerten Wohlklang erzeugen die den kosmischen Gewalten zugewiesenen Attribute, welche zudem verdeutlichen, welchen Anteil die Himmelskörper und der Himmel selbst am Prozess der Fruchtwerdung haben: der Sonne brütender Scheideblick ist Ausdruck von Licht und Wärme (vgl. Z. 7 und 8), des Himmels fruchtende Fülle steht für ermöglichte Fruchtbarkeit (vgl. Z. 9 und 10), des Mondes freundlicher Zauberhauch für die nötige Kühlung der Nacht (vgl. Z. 11 und 12). Wie bereits erkennbar beinhalten jene sechs Zeilen aufzählungsartig aneinandergereihte Metaphern für das Wirken von Sonne, Mond und Himmel. Beschriebene Zusammengehörigkeit der Zeilen wird auch durch anaphorische Satzanfänge („ Euch brütet […]“, Z. 7; „ […] euch umsäuselt […]“, Z. 8; „Euch kühlet […]“, Z. 11) und den jeweils genetivischen Gebrauch der Artikel zur besonderen Herausstellung der „Besitzverhältnisse“, so dass die unmissverständlich genaue Zuweisung der Attribute betont wird, verdeutlicht. Genannte Pronomina heben die Relation belebte – unbelebte Natur, letztere beeinflusst „euch“, erstere, hervor. Somit spricht das lyrische Ich trotz seiner Sprache von kosmischen Erscheinungen weiterhin mit Laub, Rebengeländer sowie Zwillingsbeeren. Eigenschaften der Naturgewalten werden durch wohlklingende Verben illustriert und zeigen einmal mehr der Sprache Bildlichkeit. So verspricht umsäuseln sanfte, zarte, kaum merkliche Berührungen, brüten bedeutet nahezu unerträgliche Hitze, Kühlen vermag dies in der Nacht zu mildern. Es ergibt sich des Weiteren der Kontrast Sonne – Mond, Tag – Nacht, Wärme – Kälte, was durch die Klimax artige Steigerung, nicht der Temperatur sondern der Kälte, von „brüten“ über „umsäuseln“ nach „kühlen“ verstärkt wird. Der Himmel selbst nimmt dabei nur eine neutrale oder vermittelnde Position ein, da Sonne und Mond schließlich beide Himmelskörper, zwei Seiten einer Medaille und dadurch geeint sind. Zudem handelt es sich natürlich sowohl seitens der Sonne als auch des Mondes um Teilprozesse, welche die Natur leben lassen, was das lyrische ich zur Nutzung euphemistischen Vokabulars, das einer Preisung der Gewalten ähnlich anmutet, zu bewegen scheint. Beispiele wären die Alliterationen „(…) des holden Himmels fruchtende Fülle (…), Z. 9 und 10 oder das Kompositum (freundlicher) Zauberhauch, Vers 12, deren Verwendung natürlich auch Sprachfluss und -dynamik begünstigt.

Anders als Goethes lyrisches Ich unterbricht selbiges bei Rilke seine imperativische Wendung an Gott im Verlaufe der zweiten Strophe, welche die Zeilen vier bis sieben, also vier Zeilen umfasst, nicht. Da bereits die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe indirekt die Naturgewalten thematisieren, indem das lyrische ich Gott auffordert, sie herbstlich wirken zu lassen, kommen hier nun Erscheinungen der belebten Natur, die Bestandteil Goethes ersten Teils sind, zur Sprache. Früchte sollen reifen, vollendet, der Wein in Aroma und Vollmundigkeit perfektioniert werden. Das lyrische ich drängt geradezu auf die Vervollkommnung des Ertrages aus der Natur, was vor allem menschliches Interesse am Herbst mit all seinen Annehmlichkeiten verrät. Auch hier steht also das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund. Z. 4 beinhaltet sogleich einen doppelten Imperativ: „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein.“ - das lyrische Ich befiehlt in doppelter Anmaßung Gott der Natur zu befehlen. Doch werden die betreffenden Früchte, deren Vollendung gefordert werden, eingeschränkt: es handelt sich nur um die letzten Früchte, Nachzügler, was zeigt, dass die Prozesse der Natur der Vervollkommnung allein nicht mächtig sind, sondern des Eingreifens Gottes bedürfen. In Z. 5 tut sich ein Widerspruch auf – noch in der ersten Strophe drängte das lyrische ich auf herbstliches Wetter, Beenden des Sommers, fordert nun aber südlichere, das heißt milde, sonnige Tage. Diese scheinbare innere Unentschlossenheit scheint durch den Kompromiss der zwei Tage, einer äußerst kurzen Zeitspanne, die zur Formvollendung aber unbedingt notwendig ist, aufgelöst zu werden. Mit dieser leichten Abschwächung seiner vorangegangenen harten Worte, versucht das lyrische die Anmaßung der Imperative etwas aufzuweichen und insbesondere anzuerkennen, dass der Früchte Reifung nun einmal abhängig von Gottes Willen und Tun ist. Der sich nun anschließende Vers weist ein Enjambement, das textunterstreichend wirkt, auf. Drängen und jagen (vgl. Vers 6) sind dynamische Verben des aktiven Handelns beziehungsweise der Bewegung, die Sprachfluss nur begünstigen, was sie schließlich mit einem Zeilensprung eint. „(…) Dränge[n] […] zur Vollendung hin […]“, Z. 6 scheint des Weiteren zu implizieren, dass Gott nicht nur die Macht zu bewegen, zu steuern, zu verändern hat, sondern insgesamt als richtungsweisend gen Vervollkommnung zu sehen ist. Ähnliches deutet das Verb jagen an – die Kraft, eine Bewegung in die gewünschte Richtung zu lenken.

Von den hier gebrauchten Verben geht eine ganz andere Dynamik als von denen in Goethes zweitem Teil aus. Sind es dort die Naturgewalten, welche Laub und Beeren denkbar sanft formvollenden, so ist es hier Gott, der drängend und jagend wesentlich gewaltiger, aktiver und fordernder seine Arbeit verrichtet. Erneut ist es die „letzte“, diesmal Süße, welche klare Assoziationen mit Perfektionismus weckt, kein naturgegebenes Geschenk wird ausgespart, alles bis zur Vollendung erledigt. Eine schwache Synästhesie stellt der schwere Wein dar. Ein Wort, das in unseren Sprachgebrauch übergegangen ist, aber dennoch leichte Widersprüchlichkeit aufweist. Schließlich vereinen sich hier die ursprünglichen Bedeutungen des Fühlens eines Gewichtes und Schmecken eines Aromas.

Nach den Erscheinungen der unbelebten Natur folgt bei Goethe nun die Übertragung auf die persönliche Situation des lyrischen Ichs. Der dritte Teil, Z. 13 bis 16 umfassend, wird wie vorangegangenen Zeilen anaphorisch durch „euch“ eingeleitet, wobei die vorangestellte Konjunktion „und“ den Charakter des nachträglichen Hinzufügens verdeutlicht. Vielleicht versucht das lyrische Ich sich mithilfe der Wortwiederholung, wie es sie auch bezüglich der kosmischen Natur gebrauchte, ihr nahezubringen. Doch werden die Tränen anders als Wärme oder Kälte vermutlich wirkungslos bleiben, die belebte Natur wenig beeinflussen. Obgleich Goethe hier ein Verb wortwörtlich natürlichen Ursprungs gebraucht, tauen (vgl. Z. 13), wird es in diesem Zusammenhang den menschlichen Tränen zugesprochen. Jenes wohlklingende, bildliche Verb erzeugt zudem den Eindruck von einer besonderen Beziehung des lyrischen Ichs oder des Menschen im Allgemeinen zur Natur – die eigene Person, das menschliche Wesen ist gemäß pantheistischem Glauben ganz in die Prozesse der Natur einbezogen, hat Anteil daran und ist nicht ausgeschlossen. Die Interjektion „ach“ (vgl. Vers 13) ist ein typischer Kunstgriff der Epoche des Sturm und Drang / der Empfindsamkeit, ferner Ausdruck tiefer Bewegtheit, persönlicher Betroffenheit und natürlich um der sprachlichen Authentizität willen gebraucht. Den direkten Hinweis auf das lyrische ich als weinendes Individuum erhalten wir durch das Reflexivpronomen „diesen“ (vgl. Z. 14), welches die Augen unmissverständlich zuweist. Dabei handelt es sich um eben jene Augen, die sich zuvor an der natürlichen Schönheit der Umgebung erfreuten, in die Ferne blickten. Z. 15 charakterisiert die Liebe als ewige, stetige, unaufhaltsame Lebenskraft, die auch nach Enttäuschungen noch bestehen, das Leben im weiteren Sinne erhalten kann. Diese äußerst optimistische Auffassung passt zu Goethes biografischem Hintergrund - (Trennungs-) Schmerz war für ihn in diesem Herbst des Jahres 1775 und nicht zum ersten Mal Bedingung für den Prozess des Wachsens, Reifens und der eigenen Perfektionierung. Schließlich hat die gelöste Verlobung mit Lilly Schönemann ihn nicht an der späteren Liebe zu Christiane Vulpius gehindert. Zwar sind es jetzt noch „(…) voll schwellende Tränen(…)“, Z. 15, welche die Pflanzen betauen, doch dem scheinbar unaufhörlichem Fluss hat das lyrische ich und möglicherweise Goethe selbst den ebenso unaufhörlichen Strom der Liebe entgegenzusetzen.

Auch die dritte Strophe des „Herbsttages“ verweist auf den Menschen, entfernt sich von bloßer belebter und unbelebter Natur, wobei das lyrische ich hier nicht den unmittelbaren Selbstbezug deutlich werden lässt. Doch ist der Ausblick dieser Tage kein guter – die Zukunft hält ein Leben in Einsamkeit, Unruhe und Tristesse bereit. Was sich uns hier bietet ist ein negatives Ende, der Zerfall des Herbstes, nicht der werdende, wachsende Aspekt. Die Haupterkenntnis des lyrischen Ichs lässt sich für die Verse acht bis zwölf wie folgt formulieren: der Mensch ist von der Vervollkommnung der Natur ausgeschlossen, nur Flora und Fauna erfahren die Vollendung in Perfektion. Der erste Satz (Z. 8) kommt einer bloßen Feststellung gleich, die im Präsens formuliert wurde. Durch die Struktur des Satzes, die einen Relativsatz erkennen lässt, werden Anonymität und Allgemeingültigkeit bewahrt, was sich deutlich von den sehr persönlichen letzten Zeilen des lyrischen Ichs bei Goethe unterscheidet. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ - In der Gegenwart ist kein Besitz vorhanden, ebenso wenig wird eine Änderung erfolgen. Insbesondere die Formulierung „keines mehr“ scheint den Verzicht auf Baumaßnahmen auf unbestimmte Zeit zu implizieren. Während seiner Pariser Zeit zeigte Rainer Maria Rilke impressionistisch durchwirkte, stark symbolistisch geprägte Tendenzen, so ist es wenig verwunderlich, dass z.B. das Haus symbolisch über sich als Ding hinausweist. Die „Hütte“ war ein wichtiges Symbol der Stürmer und Dränger, welches für privates Eigentum, die eigenen vier Wände stand. Diese Bedeutung ließe sich durch Zusätze wie persönliche Zurückgezogenheit, Geborgenheit, Wohlgefühl, Bekanntes, Vertrautes und Geliebtes ergänzen. Entbehrt man dieser wichtigen Essenzen des alltäglichen Lebens fehlt die Grundlage für Fortschritt und Weiterentwicklung. Jener Eindruck nimmt immer deutlichere Formen an, betrachtet man die fehlende Aufbruchsstimmung der folgenden Zeilen. Über einen anaphorischen Satzanfang einer weiteren Feststellung gleich eingeleitet („Wer jetzt allein ist […]“, Z. 9) schließt sich nun die Rede von dauerhafter Einsamkeit an, weshalb jetzt auch ein Wechsel der Tempora zum Futur erfolgt. Der Ausblick auf die Zukunft verheißt lang währende Einsamkeit („[…] wird es lange bleiben […]“), die zudem eng mit der Entbehrung einer Wohnstätte, nein, mehr noch eines Zuhauses, verknüpf zu sein scheint. In Zeile zehn finden wir die Fortsetzung der neunten Zeile, es werden mögliche Aktivitäten des dauerhaft einsamen Individuums aufgezählt, was unter Verwendung von Alliterationen erfolgt („[…] wird wachen, lesen lange […]“). Schlaf- und Ruhelosigkeit scheinen die Tätigkeiten zu bestimmen. Sie kommen einer Ablenkung gleich – Beschäftigung mit Literatur, die ausgedehnte schriftliche Kontaktaufnahme. Es handelt sich hierbei um typische Herbstaktivitäten, die vor allem triste Tage, Abende, durchwachte Nächte voll der Zeit weil ohne Heim oder Familie in geheizten Räumen verstreichen lassen. Genannte Alliterationen tragen ebenso wie das jambische Metrum und das Z. elf und zwölf verbindende Enjambement zu einer gesteigerten Dynamik, die einem inneren Aufbegehren ähnlich scheint, bei. Alleen vermitteln ein beklemmendes Gefühl der Gefangenheit, des Begrenztseins, was durch eine rastlose Wanderschaft innerhalb der begrenzten vorgezeichneten Wege noch verstärkt wird („[…] hin und her […]). Die zu dieser Jahreszeit wohl einzig ausführbare Betätigung im Freien wird vom Treiben der Blätter, die in ihrer Bewegung der des lyrischen Ichs so ähnlich sind, begleitet. Mithilfe der jahreszeitlich typischen Sprache, Umschreibung für das Wehen der Blätter, gelingt es Rilke sehr anschaulich ein Herbstbild zu malen, von einem Tag im Herbst, eingefangenen Impressionen, die dennoch symbolisch über sich hinaus verweisen – auf einen Menschen, dem die Enttäuschungen kein Balsam sind, die unerträgliche Tristesse des Herbstes ist nur Ausdruck der beständigen Ausgrenzung des Menschen. So mag er doch höher entwickelter sein, als alle Pflanzen und Tiere dieser Welt – doch vielleicht stellt sich ihm gerade das in den Weg. Ein derartig komplex denkendes Lebewesen betrachtet Fortschritt plus Weiterentwicklung nie einseitig und wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit vom perfekten Leben in Vollendung, vom großen Glück ausgeschlossen bleiben, da Enttäuschungen kaum vermeidbar sind.

Zur Gedankenbewegung bei Goethe bliebe zusammenfassend noch Folgendes zu sagen: Der imperativischen Wendung an die belebte Natur um die Vollendung jener zu bewirken schließt sich die weitere Rede mit den Erscheinungen der Pflanzenwelt, aber zudem die Sprache von kosmischer Natur, welche die Flora beeinflusst, an, abschließend wird das „Werden“ eines Herbstes auf die persönliche Trauerstimmung des lyrischen Ichs übertragen, welches der Jahreszeit angepasst in eine optimistische Aufbruchsstimmung versetzt wird. Rilkes Reflektionen unterscheiden sich davon recht deutlich: die imperativische Wendung an Gott, zunächst als Wächter der Naturgewalten, dann als omnipotenter Weltverbesserer zugunsten der belebten Natur, umfasst die ersten beiden Strophen, der dritte Teil lässt bei Übertragung der Herbststimmung auf den Menschen, dessen unmöglich überwindbare Unvollkommenheit deutlich werden, was eher Endzeit- als Aufbruchsstimmung gleichkommt.

Empfindsamkeit / Sturm und Drang versus vielschichtigste Literatur der Jahrhundertwende – was bleibt, ist zuweilen der Balsam der Enttäuschungen, manchmal auch die ganz persönliche apokalyptische Endzeitstimmung. Angesichts Goethes biographischen Hintergrundes muss ich meine tiefste Bewunderung für die optimistische Vision von der ewig lebenden Liebe aussprechen. So schön gewählt Amadeus de Prados Worte auch sind, in einem hoffnungslos unglücklichen Gefühlszustand wären sie mir nur ein geringer Trost. Der (Selbst) -Reflektion von Erwartungen, Vorstellungen und Wünschen wäre ich erst nach einer Periode der Melancholie befähigt und selbst dann wäre mein persönlicher Aufschwung zu neuer Kraft, neuem Wachsen und Werden tatsächlich äußerst fraglich. Umso mehr kann ich die beständige Zerrissenheit Rilkes angesichts der das menschliche Dasein bestimmenden Punkte verstehen. Gesellschaft (der Mensch braucht Liebe um Mensch zu werden) oder Isolation (jeder ist sich selbst der Nächste) sind, denke ich, auch heute noch bestimmende Gegensätze unserer Zeit. Wie oft steht man sich dabei selbst im Wege: Ehrgeiz und Strebsamkeit, die einen blind machen, für die unter Menschen nur zu befriedigenden Bedürfnisse, die uns von jedem Tier unterscheiden oder das beständige Handeln für andere, Aufopferung und ewiges Zurückstecken zu Lasten der persönlichen Verwirklichung. Männer wie Frauen sehen sich heute vielfach mit der Frage konfrontiert, ob Familie und Karriere zeitgleich, vereinbar und gleichwertig umsetzbar sind. Natürlich liegen die Schwerpunkte der einfachen Menschen anders, als bei einem poetischen Genie, aber die Herausforderung bleibt doch letztlich immer ein und dieselbe. Sich ausprobieren, Erfahrungen, ja auch negative, gar Fehler machen, daraus lernen, mit dem neuen Ergebnis glücklicher werden und ewig so fort.

Ob man(n)/ Frau in dieser Form tatsächlich zur wahren Selbsterkenntnis gelangt, liegt im Auge des Betrachters, erscheint mir jedoch eher fragwürdig. Aber - halt - für alle Ungeduldigen: fahren Sie doch mal nach Dänemark, da nämlich leben nach eigener Aussage gegenüber einer soziologischen Stiftung die glücklichsten Menschen der Welt, die sich immerhin am klarsten über erfüllte Träume und Wünsche sein müssten. Das ist zumindest eine echte Alternative gegenüber Rilkes zutiefst melancholischer Abschiedsstimmung.



Vergleich zweier Gedichte

  7. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)


7. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

      Als sie einander acht Jahre kannten

       (und man darf sagen: sie kannten sich gut),

       kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

       Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.


   5  Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

       versuchten Küsse, als ob nichts sei,

       und sahen sich an und wußten nicht weiter.

       Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.


       Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

 10  Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

       und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

       Nebenan übte ein Mensch Klavier.


       Sie gingen ins kleinste Café am Ort

       und rührten in ihren Tassen.

  15  Am Abend saßen sie immer noch dort.

       Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

       und konnten es einfach nicht fassen.



21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)

      Ich säh dich gern noch einmal, wie vor Jahren
       Zum erstenmal. – Jetzt kann ich es nicht mehr.
       Ich säh dich gern noch einmal wie vorher,
       Als wir uns herrlich fremd und sonst nichts waren.

  5   Ich hört dich gern noch einmal wieder fragen,
       Wie jung ich sei ... was ich des Abends tu –
       Und später dann im kaumgebornen „Du“
       Mir jene tausend Worte Liebe sagen.

       Ich würde mich so gerne wieder sehnen,
10   Dich lange ansehn stumm und so verliebt –
       Und wieder weinen, wenn du mich betrübt,
       Die vielzuoft geweinten dummen Tränen.

       – Das alles ist vorbei ... Es ist zum Lachen!
       Bist du ein andrer oder liegts an mir?
15   Vielleicht kann keiner von uns zwein dafür.
       Man glaubt oft nicht, was ein paar Jahre machen.

       Ich möchte wieder deine Briefe lesen,
       Die Worte, die man liebend nur versteht.
       Jedoch mir scheint, heut ist es schon zu spät.
20   Wie unbarmherzig ist das Wort: „Gewesen!“



1. In dem 1933 erstmals publizierten Gedicht »Das Ende vom Lied« von Mascha Kaléko reflektiert das lyrische Ich den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung: Zunächst äußert es den Wunsch nach Wiederholung der einstigen Kontaktaufnahme, die es ermöglicht hatte, den/die noch unbekannte/n zukünftige/n PartnerIn völlig unvoreingenommen zu betrachten. Gerne würde sich das lyrische Ich erneut nach Alter und bevorzugter Freizeitgestaltung befragen lassen, um bereits nach   kurzem Kennenlernen Liebesbekundungen zu hören. Wieder wünscht das lyrische Ich, vergangene Gemeinsamkeit zu durchleben, den/die PartnerIn anzuschauen und nach Kummer Tränen zu vergießen.

Stattdessen folgt eine Bestandsaufnahme, der Gedanke, dass derlei Erfahrungen vergänglich seien, die Vermutung, dass sowohl die Interaktion beider PartnerInnen als auch die Zeit das Schwinden von Emotionalität begünstigten. Noch einmal verdeutlicht das lyrische Ich den Wunsch Vergangenes zu erneuern, sich wieder mit einst geschriebenen, von Liebe kündenden Worten zu befassen, bevor sich die Erkenntnis der Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens durchsetzt.

Das lyrische Ich reflektiert, indem es gedanklich Kontakt zum/zur Partner/-in sucht, diese/n anspricht. Erinnerungen an den ersten Kontakt, an die ersten Worte, die ersten Blicke sowie die ersten »tausend Worte Liebe« (Vgl. Z. 8) lassen das lyrische Ich Sehnsucht beteuern. Sehnsucht nach das Selbstbewusstsein stärkenden Komplimenten, nach der in eine Frage eingebetteten Bemerkung, »Wie jung [.] [man] sei« (Z. 6), mit der vermittelt worden war, wie wertvoll das lyrische Ich zu sein schien.

Sehnsucht nach der Suche nach Gemeinsamkeiten und nach aufrichtigem Interesse, auf das die Frage nach der Abendgestaltung schließen ließ. Sehnsucht nach Vertrautheit, mit der man sich mit einem »kaum gebornen Du« (Z. 7) gegenseitig schon früh zu beglücken begann. Schmerzhaft steht den damaligen Liebesschwüren die Gegenwart und mit dieser der Verlust einer idealerweise mit Verliebtsein einhergehenden und in überschwängliche Emotionalität mündenden Naivität gegenüber.

Gegenwärtig ist man sich nicht mehr »herrlich fremd« (V. 4); was bleibt, ist Gewohnheit. Eine als »unbarmherzig« (Z. 20) erlebte Routine. Zunächst scheint das lyrische Ich die Gegenwart negieren zu wollen. Der Verlust des Ideals ist schwer zu akzeptieren. Selbst die aus Kummer »oft geweinten dummen Tränen« (Z. 12) werden sehnsüchtig vermisst. Die unübersehbare Tendenz die eigenen Gefühlsäußerungen negativ zu attribuieren verrät Distanzierung vom damals schmerzenden, heute retrospektiv betrachtet weniger schmerzenden Kummer. Dieser scheint heute annehmbarer zu sein als von Gewohnheit abgelöstes Verliebtsein sowie das beklagte Fehlen von Emotionen. Doch verrät das lyrische Ich auch Ambivalenz, wenn es einerseits die Notwendigkeit der Gefühlsäußerungen erkennt, da deren Verurteilung und die daraus resultierende Unterdrückung einen eigenen Beitrag zum Absterben der vermissten Emotionalität leisten, andererseits jedoch an der Verurteilung des Weinens als übertrieben anmutend festhält. Obendrein fällt auf, wie das lyrische Ich die als schmerzhaft empfundene Gegenwart als »zum Lachen!« (Z. 13) beschönigt, wodurch die Sehnsucht leichter zu ertragen sein mag. Letztlich findet sich das lyrische Ich mit der Überzeugung ab, »es [sei] schon zu spät« (Z. 19). Das lyrische Ich bestärkt die eigene Passivität. Zur Kompensation des Unvermögens Verantwortung zu übernehmen, den Widerspruch zwischen Erkenntnis einer Ursache und Überwindung jener Ursache zu lösen, bemüht es sich um die Erklärung des Verlustes der Emotionalität durch weitere Einflussfaktoren: Der/Die PartnerIn könne sich verändert haben. Jedoch hieße dies, den/die einst idealisierte/n PartnerIn abwerten zu müssen. Um diese Option zu vermeiden, wird Verantwortung auf die Zeit abgewälzt. Übrig bleibt Resignation und als Fazit der Glaube an die Unaufhaltbarkeit der Vergänglichkeit.

Das Gedicht umfasst fünf aus je vier Versen gestaltete Strophen. Durchgängig setzen sich diese aus umarmten Paarreimen zusammen, wobei jene jeweils männliche Kadenzen aufweisen, während die Zeilenabschlüsse der Umarmungen weiblich sind. Jeder Vers formt darüber hinaus einen Jambus mit fünf Hebungen, wodurch eine regelmäßige, leichte Intonation ermöglicht wird.

Sprachlich fällt die sparsame Verwendung von Bildern auf. Viel mehr ist das lyrische Ich um eine möglichst rationale Schilderung der eigenen Befindlichkeit bemüht. Durch die häufige Nutzung der Personalpronomina »Ich« (Z. 17) und »du« (Z. 14) entsteht eine Identifikationsmöglichkeit des Lesers mit dem lyrischen Ich; zugleich erfährt der Leser von der Existenz des Partners bzw. der Partnerin. Ausschließlich durch die Schilderungen des lyrischen Ichs wird der Leser informiert; ein Dialog findet

nicht statt. Die wiederholte Verwendung des Konjunktivs in den ersten drei Strophen kreiert den Wunsch des lyrischen Ichs nach Flucht aus der Gegenwart sowie die Unmöglichkeit deren Realisierung. Hyperbolisch zeugen »tausend Worte Liebe« (Z. 8) von Idealisierung des Vergangenen. Viele Adjektive und Partizipien dienen dem Facettenreichtum sowie der Emotionalisierung einer »stumm und so verliebt [...] [und auch] betrübt« (Z. 10 f.) genossenen Vergangenheit als Kontrast zur Gegenwart, in der der Sinn einst verfasster Briefe, die »liebend nur« (Z. 18) verstanden worden waren, verblasst.

Zusätzlich durch die inversive Form wird die Priorität der Liebe als Grundvoraussetzung für jegliches Wortverständnis hervorgehoben. Die alliterierende Rhetorik, mit der das lyrische Ich Bereitschaft signalisiert, »wieder [zu] weinen, wenn« (Z. 11) sich die Vergangenheit erneuern ließe, unterstreicht wortspielerisch den Wunsch nach Wiederherstellung vergangener Harmonie, der Symbiose, die rückblickend auch dann als wertvoll erkannt werden kann, wenn Kummer sie auf die Probe stellte. Die Personifikation der »dummen Tränen« (Z. 12) verstärkt das Gefühl hilflos ausgeliefert zu sein, letztlich nichts ändern zu können. Beim Lesen des letzten Verses sieht sich der Adressat mit einem ähnlichen Bild konfrontiert: Personifizierend wälzt das lyrische Ich Verantwortung auf das als »unbarmherzig« (V. 20) empfundene, als »Wort: gewesen!« (Z. 20) Gestalt annehmende Abstraktum abgeschlossener Vergangenheit ab.

Durch die rhetorische Frage nach Gründen für die gegenwärtige Lieblosigkeit nebst der Beantwortung durch die Mutmaßung, dass »vielleicht [.] keiner« (Z. 15) außer »ein paar Jahre« (Z. 16) als endgültiger Verursacher identifiziert werden könne, zeigt das lyrische Ich zwar die Fähigkeit zur differenzierten Reflexion, jedoch mangelt es an Möglichkeiten durch Überwindung eigener Defizite die Gefühle der Vergangenheit neu zu beleben. Die Zuhilfenahme der Indefinitpronomina »keiner« (Z. 15) und »Man« (Z. 16) unterstützt das Verdrängen eigener Verantwortung.

Als Redewendung konzipiert nimmt die Überschrift verdichtet die aus dem Fazit resultierende Enttäuschung vorweg. Das lyrische Ich möchte den Leser mit dem Schmerz konfrontieren, mit der Sehnsucht, die entsteht, wenn innerhalb einer Beziehung Gewohnheit an die Stelle von Verliebtsein, von liebevollen Bekundungen, von Blicken, von Komplimenten, von gelebten Emotionen tritt –  mit durchaus als Alltagserfahrungen geltenden Erfahrungen. Insofern kann das thematisch zeitlose Gedicht potenziell jeden Adressaten berühren.

Literaturhistorisch ist »Das Ende vom Lied« der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Mascha Kaléko veröffentlicht es erstmals 1933 in »Das lyrische Stenogrammheft«, ihrem ersten im Rowohlt Verlag publizierten Buch. 1933 beginnen die Nationalsozialisten nach der zur »Machtergreifung« verklärten Machtübertragung im Eiltempo die Reste des verhassten Liberalismus der jüngst beseitigten Weimarer Demokratie zu vernichten:

Auf die Abschaffung sämtlicher Grundrechte im Rahmen der Reichstagsbrandverordnung folgen Deportationen politischer Gegner in die ersten Konzentrationslager, und mit dem so genannten Ermächtigungsgesetz folgt die Verfassungsgrundlage des fortan herrschenden, streng um einen

rechtsstaatlichen Anstrich bemühten Terrorregiments. Zur allerorten vollführten Gleichschaltung gehören die von der Deutschen Studentenschaft inszenierten Bücherverbrennungen in den größten deutschen Universitätsstädten; vorwiegend fliegen die Werke kritischer expressionistischer Dichter sowie der Literaten der Neuen Sachlichkeit und vor allem von Juden verfasste Schriften in die Glut.

Auf politische Zuspitzungen verweist »Das Ende vom Lied« in gar keiner Weise. Stattdessen ist das lyrische Ich um rationale Erklärungen bemüht ‒ um Sachlichkeit bei der Schilderung von Erfahrungen mit der Liebe, die so oder so ähnlich von vielen Repräsentanten der modernen Massengesellschaft erlebt werden.


2. Auch Erich Kästners »Sachliche Romanze« ist ein Werk der Neuen Sachlichkeit. Auch dieses behandelt thematisch den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung. Bereits die Überschrift bereitet den Leser auf eine scheinbar emotionsarme Haltung des lyrischen Ichs gegenüber der Wirklichkeit vor.

In Kästners Gedicht wird von einem seit acht Jahren miteinander vertrauten Liebespaar erzählt. Eines Tages beginnt diesem der Verlust jener Liebe gewahr zu werden, und beide reagieren mit Versuchen ihr gemeinsames Leben unbeeinträchtigt fortzusetzen. Zwar verspüren beide auch Trauer, doch spenden sie sich gegenseitig Zärtlichkeiten; sie küssen sich. Die Partnerin vergießt Tränen, während der Mann lediglich anwesend ist. Durch die Fensterscheiben betrachten sie Schiffe, das Spiel eines benachbarten Pianisten nehmen sie zur Kenntnis, am Nachmittag entscheidet der Mann gemeinsam außer Haus einen Kaffee zu sich zu nehmen. Im gewählten Café angekommen schweigen sie einander bis zum Abend an.

Anders als in Kalékos »Das Ende vom Lied« gibt Kästners lyrisches Ich nicht eigene Regungen preis. Es präferiert die Distanz eines Beobachters. Geschildert wird die Interaktion eines Liebespaares, dessen Verlust von Liebe mit etwas derart banal Anmutendem wie dem Verlust eines »Stock[s] oder [eines] Hut[es]« (Z. 4) verglichen wird. Der Kommentar des lyrischen Ichs birgt Nuancen von Distanz verstärkendem Sarkasmus in sich. Versuche des Paares sich zu verhalten, »als ob nichts sei« (Z. 6), schildert das lyrische Ich, ganz gleich, ob es von der Wahrnehmung des Klavierspiels erzählt oder vom Entschluss ein Café aufzusuchen oder vom dortigen wortkargen Aufenthalt, mit emotionsloser Schlichtheit. Über die Empfindungen des Mannes sowie die der Frau wird der Leser lediglich oberflächlich informiert. Er erfährt von Traurigkeit, von Versuchen sich in Heiterkeit zu üben. Weil   keiner der Beteiligten den »nicht [zu] fassen[den]« (Z. 17) Verlust der Liebe in angemessenen Worten auszudrücken vermag, dominiert Sprachlosigkeit. Eine Sprachlosigkeit, von der dem Leser wiederum vom lyrischen Ich mit größtmöglicher Schlichtheit, ebenfalls wortarm, berichtet wird. Kalékos lyrisches Ich hingegen ist als betroffene Person emotionaler involviert. Dem entsprechend gewährt es eine umfassende Teilhabe an Emotionen, die dem Leser die Ursachen der Tragik nachvollziehbar erscheinen lassen. Dem gegenüber wirkt das Paar in »Sachliche Romanze« auf Grund völlig fehlender Reflexion noch deutlich hilfloser. Auffallend ist im Vergleich mit »Das Ende vom Lied« zudem, dass Fragen nach Schuld in Kästners Gedicht nicht die geringste Bedeutung beigemessen wird.

Kästners Lyrik setzt sich aus vier Strophen zusammen. Vier Verse gestalten je die ersten drei Strophen. Lediglich die letzte Strophe besteht aus fünf Versen. Die Versabschlüsse wechseln in den ersten drei Strophen regelmäßig zwischen weiblich und männlich. Die letzte Strophe beginnt mit einer männlichen Kadenz, es folgt eine weibliche, anschließend zwei männliche und abschließend erneut eine weibliche. Der regelmäßige Kreuzreim weicht ebenfalls ausschließlich in der letzten Strophe dem Schema abaab. So tragen die Formelemente gleichfalls zur das Gedicht dominierenden Schlichtheit bei. Da das Metrum teilweise Unregelmäßigkeiten aufweist, verlangt die Intonation etwas Übung: Zunächst wechseln innerhalb der ersten Strophe passend zum Kreuzreim alternierend Trochäen mit je vier Hebungen und Jamben mit je vier Hebungen einander ab. Die zweite Strophe setzt sich durchgängig durch Jamben mit vier Hebungen zusammen; diese gestalten sowohl die dritte als auch die vierte Strophe; den vierten Vers der dritten Strophe jedoch bildet wiederum ein Trochäus.

Die Verwendung von überwiegend bildlosen Bildern kennzeichnet die extrem verdichtete Sprache. Eine nur wenige Attribute nutzende, einen nur oberflächlichen Blick auf die seelischen Verfassungen erlaubende Sprache. Eine Sprache, die dennoch ein Maximum an Bedeutung entfalten kann. Kontrastierend werden antithetisch innerpersönliche Konflikte angedeutet: Konflikte zwischen dem Bestreben, sich »heiter« (Z. 5) zu gebärden, auch wenn die Realität »traurig« (Z. 5) zu sein scheint.

Die Überschrift deutet das Scheitern an: Liebe, insbesondere über »acht Jahre« (Z. 1) gewachsene Liebe, wird zur Romanze degradiert. Liebe lebt in erster Linie von Sinnlichkeit. Löst Sachlichkeit jene Sinnlichkeit ab, bedeutet das auf Dauer das Ende der Liebe. Auch Kästners lyrisches Ich richtet sich mit der zeitlosen Thematik potenziell an jeden Adressaten.    



Gedichte zur selbständigen Analyse

Ausgewählte Gedichte zur eigenständigen Interpretation

(Alltags & Liebeslyrik 2)

22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)

23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)

24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)

25. Ulla Hahn: Allein (1983)

26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)

27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)

28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)

29. Ulla Hahn: Danklied (2003)

30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)

31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)

32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)

33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)

34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)

35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)

36. Ulla Hahn: Wartende (1983)

37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)

38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)

39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)

40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)

41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)

42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)

43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)

44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)

45. Hermann Hesse: Stufen (1941)

46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)

47. Ernst Jandl: Beschreibung eines Gedichts (1977)

48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)

49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)

50. Anja Kampmann: steilküste (2012)

51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)

52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)

53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)





22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)

       Der Mensch lebt durch den Kopf.
       Sein Kopf reicht ihm nicht aus.
       Versuch es nur, von deinem Kopf
       Lebt höchstens eine Laus.
  5   Denn für dieses Leben
       Ist der Mensch nicht schlau genug.
       Niemals merkt er eben
       Diesen Lug und Trug.

       Ja, mach nur einen Plan!
10   Sei nur ein großes Licht!
       Und mach dann noch’nen zweiten Plan
       Gehn tun sie beide nicht.
       Denn für dieses Leben
       Ist der Mensch nicht schlecht genug.
15   Doch sein höhres Streben
       Ist ein schöner Zug.

       Ja, renn nur nach dem Glück
       Doch renne nicht zu sehr
       Denn alle rennen nach dem Glück
20   Das Glück rennt hinterher.
       Denn für dieses Leben
       Ist der Mensch nicht anspruchslos genug.
       Drum ist all sein Streben
       Nur ein Selbstbetrug.

25   Der Mensch ist gar nicht gut
       Drum hau ihn auf den Hut.
       Hast du ihm auf dem Hut gehaun
       Dann wird er vielleicht gut.
       Denn für dieses Leben
30   Ist der Mensch nicht gut genug
       Darum haut ihm eben
       Ruhig auf den Hut!



23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)

       Immerzu höre ich von ihr reden,

       als wär' sie an allem schuld.

       Seht nur, wie sanft und bescheiden

       sie unter uns Platz nimmt!

  5   Warum besudeln wir denn

       ihren guten Namen

       und leihen ihn

       dem Präsidenten der USA,

       den Bullen. dem Krieg

10   und dem Kapitalismus?


       Wie vergänglich sie ist,

       und was wir nach ihr nennen,

       wie dauerhaft!

       Sie, die Nachgiebige,

15   führen wir auf der Zunge

       und meinen die Ausbeuter.

       Sie, die wir ausgedrückt haben,

       soll nun auch noch ausdrücken

       unsere Wut?


20   Hat sie uns nicht erleichtert?

       Von weicher Beschaffenheit

       und eigentümlich gewaltlos

       ist sie von allen Werken des Menschen

       vermutlich das friedlichste.

25   Was hat sie uns nur getan?



24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)

      Warum schweige ich, verschweige zu lange,

       was offensichtlich ist und in Planspielen

       geübt wurde, an deren Ende als Überlebende

       wir allenfalls Fußnoten sind.


  5   Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,

       der das von einem Maulhelden unterjochte

       und zum organisierten Jubel gelenkte

       iranische Volk auslöschen könnte,

       weil in dessen Machtbereich der Bau

10   einer Atombombe vermutet wird.


       Doch warum untersage ich mir,

       jenes andere Land beim Namen zu nennen,

       in dem seit Jahren – wenn auch geheim gehalten –

       ein wachsend nukleares Potential verfügbar

15   aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung

       zugänglich ist?


       Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,

       dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,

       empfinde ich als belastende Lüge

20   und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,

       sobald er missachtet wird;

       das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig.


       Jetzt aber, weil aus meinem Land,

       das von ureigenen Verbrechen,

25   die ohne Vergleich sind,

       Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,

       wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch

       mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,

       ein weiteres U-Boot nach Israel

30   geliefert werden soll, dessen Spezialität

       darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe

       dorthin lenken zu können, wo die Existenz

       einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,

       doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,

35   sage ich, was gesagt werden muss.


       Warum aber schwieg ich bislang?

       Weil ich meinte, meine Herkunft,

       die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,

       verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit

40   dem Land Israel, dem ich verbunden bin

       und bleiben will, zuzumuten.


       Warum sage ich jetzt erst,

       gealtert und mit letzter Tinte:

       Die Atommacht Israel gefährdet

45   den ohnehin brüchigen Weltfrieden?

       Weil gesagt werden muss,

       was schon morgen zu spät sein könnte;

       auch weil wir – als Deutsche belastet genug –

       Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,

50   das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld

       durch keine der üblichen Ausreden

       zu tilgen wäre.


       Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,

       weil ich der Heuchelei des Westens

55   überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,

       es mögen sich viele vom Schweigen befreien,

       den Verursacher der erkennbaren Gefahr

       zum Verzicht auf Gewalt auffordern und

       gleichfalls darauf bestehen,

60   dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle

       des israelischen atomaren Potentials

       und der iranischen Atomanlagen

       durch eine internationale Instanz

       von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.


65   Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,

       mehr noch, allen Menschen, die in dieser

       vom Wahn okkupierten Region

       dicht bei dicht verfeindet leben

69   und letztlich auch uns zu helfen.



25. Ulla Hahn: Allein (1983)

      Ich hab die Schnauze voll ich

       bin auch müde und fürcht mich,

       jetzt schon vor dem ersten warmen Tag

       den kleinen Kindern und den

  5   schwangeren Frauen und was das

       Frühjahr noch erzeugen mag.


       Ich bin allein ich hab nichts

       zu verlieren als ein paar

       Träume vom vergangnen Jahr

10   und Angst mit mir was Neues

       zu probieren nicht zu krepiern

       an dem was niemals war.



26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)

       Komm beiß dich fest ich halte nichts
       vom Nippen. Dreimal am Anfang küss
       mich wo's gut tut. Miss
       mich von Mund zu Mund. Mal angesichts

  5   der Augen mir Ringe um
       und lass mich springen unter
       der Hand in deine. Zeig mir wie's drunter
       geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm.

       Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder
10   zu mir zu dir dann auch
      „ganz wie ein Kehrreim schöner alter Lieder
       Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch
       mir ein und allemal. Die Lider
14   halt mir offen. Die Lippen auch.



27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)

       Die Fehler sind bekannt: Ich hab sie längst begangen

       Schuld oder Unschuld trifft mich ganz allein

       Ich bin auf meinen eigenen Leim gegangen

       ich fiel auf keinen als mich selber rein


  5   Was ich auch tue macht die Fehler schwerer

       die Fehler machen bald mein Leben aus

       Ich bin in diesem Leben eingefangen

       ich komme nicht aus meiner Haut heraus


       die narbenstrotzend an mir klebt und knittert

10   und mit den Jahren deutlicher verwest

       Ich bin die einzige die vor mir zittert

       ich weiß daß niemand mich von mir erlöst.



28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)

       Hättest Du hätte ich wären wir

       im Sog des Vakuums immer weiter

       in die Jahre gekommen

       Glaube versetzt vielleicht Berge

  5   aber niemals einen Konjunktiv

       Nicht einmal ein Foto

       von all der Hoffnung

       all der Geduld.



29. Ulla Hahn: Danklied (2003)

       Ich danke dir dass du mich nicht beschützt

       dass du nicht bei mir bist, wenn ich dich brauche

       kein Firmament bist für den kleinen Bärn

       und nicht mein Stab und Stecken der mich stützt.


  5   Ich danke dir für jeden Fusstritt der

       mich vorwärts bringt zu mir

       auf meinem Weg. Ich muss alleine gehn.

       Ich danke dir. Du machst es mir nicht schwer.


       Ich dank dir für dein schönes Angesicht

10   das für mich alles ist und weiter nichts.

       Und auch dass ich dir nichts zu danken hab

       als dies und manches andere Gedicht.



30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)

       All das Eis wir schwelgen
       im Winter unter der Sonne
       Laufen auf Kufen im Kreis
       und gradaus mit und gegen
  5   und durch Licht und Wind.
       Alte Ehepaare ziehn sich
       noch enger zusammen
       Vater und Mutter kreisen
       in hohem Bogen ums Kind.
10   Wippende Mädchen im heiratsfähigen Alter
       lächeln aus der Hüfte heraus gutaus
       staffierte Lilien in kühnen Kurven
       kreuzen ihre Herzensmänner das Feld.
       Sogar silbrige Herren und Damen geraten
15   ins Schleudern der Hut fliegt vom Kopf
       der Hund rutscht hinterdrein
       wittert Glühwein auf Eis.
       Übermütig lächeln wir alle verschworene
       Kinder die vom selben Süßen genascht

20   Werfen Lächeln wie Bälle uns zu
       durch die lächelnde Luft. Lächeln
       als gäbe es nichts zu bestehn
       als den nächsten Schritt als geschähe
       nur was wir im voraus schon sehn
25   bis an den Horizont von
       Brücken Kirchen und Banken.
       Lächelnd vergibt ein jeder von uns
       seinem Nächsten und sich
       diesen Nachmittag lang
30   all das Eis
       unter der Sonne.



31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)

       Wenn wir tiefer atmeten langsamer
       gingen ruhiger führten unsere Augen
       von einem zum anderen nur noch leise
       sprächen und selten: ewig lebten wir

  5   nicht aber ein bisschen ewiger doch
       wie das Meer vielleicht oder sogar
       wie Worte und Sätze vom Meer
       oder dieser eine Nachmittag heute

       an dem wir einander vergessen machen
10   was anderswo auch geschieht
       dauerte sagen wir drei bis vier Wochen

       die wiederum ein paar
       doppelte dreifache Jahre oder
14   wenigstens: Jetzt.



32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)

       Und mit der Liebe sprach er ists

       wie mit dem Schnee: fällt weich

       mitunter und auf alle

       aber er bleibt nicht liegen.


  5   Und sie darauf die Liebe ist

       ein Feuer das wärmt im Herd.

       Verzehrt wenn’s dich ergreift

       muß’ ausgetreten werden.


       So sprachen sie,

10   schmiegten sich eng aneinander

       und küssten sich innig

       als gäb’s nichts Schöneres für sie.



33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)

       Meine Wörter hab ich
       mir ausgezogen
       bis sie dalagen
       atmend und nackt
  5   mir unter der Zunge.

       Ich dreh sie um
       spuck sie aus
       saug sie ein
       blas sie auf

10   spann sie an
       von Kopf bis Fuß
       spann sie auf

       Mach sie groß
       wie ein Raumschiff zum Mond
15   und klein wie ein Kind.
       Überall suche ich die Zeile
       die mir sagt
18   wo ich mich find



34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)

       Das hab ich nie mehr gewollt
       um das Telefon streichen am Fenster stehn
       keinen Schritt aus dem Haus gehn Gespenster sehn
       das hab ich nie mehr gewollt


  5   Das hab ich nie mehr gewollt
       Briefe die triefen schreiben zerreißen
       mich linksseitig quälen bis zu den Nägeln
       das hab ich nie mehr gewollt


       Das hab ich nie mehr gewollt
10   Soll der Teufel dich holen.
       Herbringen. Schnell.
       Mehr hab ich das nie gewollt.



36. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)

       Diese Sehnsucht

       dich beim Namen zu nennen

       Diese Angst

       dich beim Namen zu nennen


  5   Diese Sehnsucht

       Wort zu halten

       Diese Angst

       nur Wort zu halten


       Diese Sehnsucht nach einem Leben

10   das kein Gedicht wird

       Diese Angst vor einem Gedicht

       das ein Leben vorwegnimmt.



35. Ulla Hahn: Wartende (1983)

       Sie sitzt an einem Tisch für zwei Personen

       allein mit diesem wachen starren Blick

       schaut sie umher als hätt’ sie was verloren

       und hält sich fest an einem Buch: Ihr Strick


  5   der sie herauszieht aus den Augenpaaren

       die nach ihr züngeln mitleidlos und spitz

       wie Wellen über ihr zusammenschlagen

       sie niederdrücken auf den Plastiksitz


       der unter ihren Schenkeln klebt. Sie schwenkt

10   ihr Glas das Eis schmilzt klirrend schneller

       sie selbst wird immer kleiner und versänk


       gern als Erfindung in ihr Buch

       das sie nun zuschlägt. Eh sie auftaucht

14   zahlt und geht. Es ist genug.



36. Ulla Hahn: Winterlied (1981)

       Als ich heute von dir ging

       fiel der erste Schnee

       und es machte sich mein Kopf

       einen Reim auf Weh.


  5   Denn es war die Kälte nicht

       die die Tränen mir

       in die Augen trieb

       es war vielmehr Ungereimtes.


       Ach da warst du schon zu weit

10   als ich nach dir rief

       und dich fragte wer die Nacht

       in deinen Reimen schlief.



38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)

       Ich herze dich
       ich lunge dich
       ich haute haare
       pore dich

  5   Du baust auf mich
       du dachst mich spitz
       palastest mich
       oasest mich

       Du meersternst mich
10   du landest mich
       Ich berg dich
       tal dich gipfel dich

       Du freudest mich
       Ich freude dich
15   Du sehnsuchst mich
       Ich sternschnupp dich

       Du brüstest hüftest
       schenkelst mich
20   Ich zunge zaum
       ich kehlkopf dich

       Ich hauch brauch fauch
       du füllhornst mich
24   Wir atmen amseln amen.



39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)

       Bleib bei mir als wärst Du

       lang für mich da

       laß wachsen dein weißes

       in meinem Haar


  5   Lieb mich als ob

       das gut für dich wär'

       als gäben wir

       Leben um Leben her


       Ertrag mich als trügest

10   du nicht zu schwer

       behüt mich als ob

       ich verloren wär'.



40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)

      Im düstern Auge keine Träne,   

       Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;

       Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

       Wir weben hinein den dreifachen Fluch -

 5    Wir weben, wir weben!


       Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten

       In Winterskälte und Hungersnöten;

       Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

       Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -

10   Wir weben, wir weben!

 

       Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,

       Den unser Elend nicht konnte erweichen,

       Der den letzten Groschen von uns erpreßt,

       Und uns wie Hunde erschießen läßt -

15   Wir weben, wir weben!


       Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

       Wo nur gedeihen Schmach und Schande,  

       Wo jede Blume früh geknickt,

       Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -

20   Wir weben, wir weben!


       Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,

       Wir weben emsig Tag und Nacht -

       Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

       Wir weben hinein den dreifachen Fluch,

25   Wir weben, wir weben!



41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)

       Denk ich an Deutschland in der Nacht,

       Dann bin ich um den Schlaf gebracht,

       Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

       Und meine heißen Tränen fließen.


  5   Die Jahre kommen und vergehn!

       Seit ich die Mutter nicht gesehn

       Zwölf Jahre sind schon hingegangen;

       Es wächst mein Sehnen und Verlangen.


       Mein Sehnen und Verlangen wächst.

10   Die alte Frau hat mich behext,

       Ich denke immer an die alte,

       Die alte Frau, die Gott erhalte!


       Die alte Frau hat mich so lieb,

       Und in den Briefen, die sie schrieb,

15   Seh ich wie ihre Hand gezittert,

       Wie tief das Mutterherz erschüttert.


       Die Mutter liegt mir stets im Sinn.

       Zwölf lange Jahre flossen hin,

       Zwölf lange Jahre sind verflossen,

20   Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.


       Deutschland hat ewigen Bestand,

       Es ist ein kerngesundes Land,

       Mit seinen Eichen, seinen Linden,

       Werd ich es immer wiederfinden.


25   Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,

       Wenn nicht die Mutter dorten wir;

       Das Vaterland wird nie verderben,

       Jedoch die alte Frau kann sterben.


       Seit ich das Land verlassen hab,

30   So viele sanken dort ins Grab,

       Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,

       So will verbluten meine Seele.


       Und zählen muß ich – Mit der Zahl

       Schwillt immer höher meine Qual,

35   Mir ist als wälzten sich die Leichen

       Auf meine Brust – Gottlob! sie weichen!


       Gottlob! durch meine Fenster bricht

       Französisch heitres Tageslicht;

       Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,

40   Und lächelt fort die deutschem Sorgen.



42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)

      Mein Lehrer liegt und schweigt schon manche Tage.
       Oft weiß ich nicht, ob er mit Schmerzen ringe,
       Ob mit Gedanken. Wenn ich etwas sage,
       So hört er nicht. Doch wenn ich sitz und singe,
  5   Lauscht er geschlossenen Auges wie entrückt,
       Vielleicht ein Wissender des höchsten Grades,
       Vielleicht ein Kind, von etwas Klang beglückt,
       Doch stets der Regel treu des Mittlern Pfades.

       Zuweilen regt er die erstarrte Hand,
10   Als hielte sie den Schreibestift und schriebe.


       Dann wieder ist der Türe zugewandt
       Sein Blick mit einer unsagbaren Liebe,
       Als hör er Boten nahn auf Engelsflügeln
       Und sähe Himmelspforten offen stehn
15   Oder auf seiner fernen Heimat Hügeln
       Wie einst im Morgenhauch die Palmen wehn.

       Oft ist mir bang, als sei ich krank statt seiner,
       Als war ich selber grau, erloschen, alt
       Und jener dünnen Blätterschatten einer,
20   Wie sie der Morgen an die Mauer malt.
       Doch er, der Meister, scheint von Wirklichkeit,
       Von Sein, von Wesen ganz getränkt und trächtig.
       Indes ich schwinde, wird er weltenweit
24   Und füllt die Himmel strahlend und allmächtig



43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)

       Wind im Gesträuch und Vogelpfiff
       Und hoch im höchsten süßen Blau
       Ein stilles, stolzes Wolkenschiff. . .
       Ich träume von einer blonden Frau,
  5   Ich träume von meiner Jugendzeit,
       Der hohe Himmel blau und weit
       Ist meiner Sehnsucht Wiege,
       Darin ich stillgesinnt
       Und selig warm
10   Mit leisem Summen liege,
       So wie in seiner Mutter Arm
       Ein Kind.



44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)

       Seltsam, im Nebel zu wandern!
       Einsam ist jeder Busch und Stein,
       Kein Baum sieht den anderen,
       Jeder ist allein.

  5   Voll von Freunden war mir die Welt,
       Als noch mein Leben licht war;
       Nun, da der Nebel fällt,
       Ist keiner mehr sichtbar.

       Wahrlich, keiner ist weise,
10   Der nicht das Dunkel kennt,
       Das unentrinnbar und leise
       Von allem ihn trennt.

       Seltsam, im Nebel zu wandern!
15   Leben ist Einsamsein.
       Kein Mensch kennt den andern,
       Jeder ist allein.



45. Hermann Hesse: Stufen (1941)

       Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
       Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
       Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
       Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
  5   Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
       Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
       Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
       In andre, neue Bindungen zu geben.
       Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
10   Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.


       Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
       An keinem wie an einer Heimat hängen,
       Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
       Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
15   Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
       Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
       Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
       Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.


       Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
20   Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
       Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
       Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!

  


46. Hermann Hesse:

Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)

       Dass das Schöne und Berückende

       nur ein Hauch und Schauer sei,

       dass das Köstliche, Entzückende,

       Holde ohne Dauer sei:


  5   Wolke, Blume, Seifenblase,

       Feuerwerk und Kinderlachen,

       Frauenblick im Spiegelglase

       und viel andre wunderbare Sachen,

       dass sie, kaum entdeckt, vergehen,

10   nur von Augenblickes Dauer,

       nur ein Duft und Windeswehen,

       ach, wir wissen es mit Trauer.


       Und das Dauerhafte, Starre

       ist uns nicht so innig teuer:

15   Edelstein mit kühlem Feuer,

       glänzendschwere Goldesbarre;

       selbst die Sterne, nicht zu zählen,

       bleiben fern und fremd, sie gleichen

       uns Vergänglichen nicht, erreichen

20   nicht das Innerste der Seelen.


       Nein, es scheint das innigst Schöne,

       Liebenswerte dem Verderben

       zugeneigt, stets nah am Sterben,

       und das Köstlichste: die Töne

25   der Musik, die im Entstehen

       schon enteilen, schon vergehen,

       sind nur Wehen, Strömen, Jagen

       und umweht von leiser Trauer,

       denn auch nicht auf Herzschlags Dauer

30   lassen sie sich halten, bannen;

       Ton um Ton, kaum angeschlagen,

       schwindet schon und rinnt von dannen.


       So ist unser Herz dem Flüchtigen,

       ist dem Fließenden, dem Leben

35   treu und brüderlich ergeben,

       nicht dem Festen, Dauertüchtigen.


       Bald ermüdet uns das Bleibende,

       Fels und Sternwelt und Juwelen,

       uns in ewigem Wandel treibende

40   Wind- und Seifenblasenseelen,

       Zeitvermählte, Dauerlose,

       denen Tau am Blatt der Rose,

       denen eines Vogels Werben,

       eines Wolkenspieles Sterben,

45   Schneegeflimmer, Regenbogen,

       Falter, schon hinweg geflogen,

       denen eines Lachens Läuten,

       das uns im Vorübergehen

       kaum gestreift, ein Fest bedeuten

50   oder wehtun kann. Wir lieben,

       was uns gleich ist, und verstehen,

       was der Wind in den Sand geschrieben.



47. Ernst Jandl: Beschreibung eines Gedichts (1977)

       bei geschlossenen lippen

       ohne bewegung in mund und kehle

       jedes einatmen und ausatmen

       mit dem satz begleiten

  5   langsam und ohne stimme gedacht

       ich liebe dich

       so daß jedes einziehen der luft durch die nase

       sich deckt mit diesem satz

       jedes ausstoßen der luft durch die nase

10   das ruhige sich heben

       und senken der brust



48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)

       Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
       Kramst du manchmal noch in meinen Briefen?
       Ist das kleine Landhaus mit dem schiefen
       Bretterdach auch jetzt noch malerisch?

  5   Geht die Haustürklingel noch so schrill
       Und verklingt erschrocken immer leiser ...
       Bellt dein Dackel Julius noch so heiser?
       Ists am Abend so wie damals still ?

       Hast du immer noch kein Telephon?
10   Gibts auf dem Balkon noch Hängematten?
       Spielt ihr manchmal noch die Schubertplatten
       Auf dem altersschwachen Grammophon?

       Gibts zum Tee noch immer Zuckerschnecken?
       Sagt Johanna immer noch «der» Gas ... ?
15   Darf man in das teure Gartengras
       Immer noch nicht seine Beine strecken?

       Weht der Seewind morgens noch so frisch?
       Grinst der Mond des Nachts noch so verlegen?
       Gehst du manchmal mir zur Bahn entgegen?
20   ... Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?

       Steht mein Bild ...? – Ich hab’ es selbst zerrissen!
       Glaub nur nicht, ich hätte deins vermißt.
       Aber manchmal möcht man manches wissen,
24   Wenn man so mit sich alleine ist ...



49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)

      Du gingest fort. – In meinem Zimmer
       Klingt noch leis dein letztes Wort.
       Schöner Stunden matter Schimmer
       Blieb zurück. Doch du bist fort.



  5   Lang noch seh ich steile Stufen
       Zögernd dich hinuntergehn,
       Lang noch spür ich ungerufen
       Dich nach meinem Fenster sehn,


       Oft noch hör ich ungesprochen
10   Stumm versinken manches Wort,
       Oft noch das gewohnte Pochen
       An der Tür. – Doch du bist fort.



50. Anja Kampmann: steilküste (2012)

       schon bald ist sonntag
       in den klippen verfangen sich
       die wölfe so klingt das meer das uns trifft
       das rollen der steine von vorn ein paar stiefel
  5   im fels wie sich die wogen waschen an der luft
       im laufe bläht der wind das cape den raum
       für dein kleines gedächtnis gelb
       als sie rannten kinder die ihre zungen
       in den regen strecken meer salz das heulen
10   des winds zu erlernen von vorn
       mit der gischt kommt die liebe rau
       in all ihren alten sprachen.



51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)

       Von heut an stell ich meine alten Schuhe

       nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten

       häng den Kopf beim Denken

       nicht mehr an den Haken

  5   freß keine Kreide. Hier die Fußstapfen

       im Schnee von gestern, vergeßt sie

       ich hust nicht mehr mit Schalldämpfer

       hab keinen Bock

       meine Tinte mit Magermich zu verwässern

10   ich hock nicht mehr im Nest, versteck

       die Flatterflügel, damit ihr glauben könnt

       ihr habt sie mir gestutzt. Den leeren Käfig

       stellt mal ins historische Museum

14   Abteilung Mensch weiblich.



52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)

       Dein Blick weg vom Körper zum Horizont
       entfernt dich von mir und den Dingen
       den Blutkörperchen Handhaltungen
       schließlich dem Glanztrio Auge Zahn Lippe

  5   führt hinter das Tageslicht in andere Räume
       weit weg zu den Grabgräbern Grabrednern
       den Putschisten und Kämpfern in Grosny
       zu dem Regenbogen rot gelb rot

       weil jede Wolke nur Eiter und Blut spuckt
10   schon meine Mutter sagte mir
       schlaf nie mit einem Fotografen
       sie haben schon zu viel gesehen

       Du bist bei Hügeln aus Tulpen oder wo
       Dies ist die Stadt Fußgängerzone
15   hier sind wir hier spaziert dein
       inneres Feuer umher mit dem Wissen

       daß zwei Personen die sich lieben
       sich addieren oder subtrahieren können
       Plus machen können oder wie in
20   diesem Fall ganz unverschuldet Minus



53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)

       vorne das haus und dahinter

       die von der wippe

       wandernden täler. zurück

       ein stück film, die farbe


  5   der augen und die beschreibung

       jener farbe

       in noch anderen farben. ich lieb dich

       ja auch, kann es nur nicht


       so zeigen, wie du, mit dem

10   korallenvornamen, korall li, korall

       la, als ich ging, von rom

       nach venedig und weiter


       bis china, die gleise

       zu siezen und mit der brücke, es mag

15   auch nur ein brett

       gewesen sein, per du.




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