Alltags- & Liebeslyrik 1

Lyrik · Analyse  und Interpretationen

Hier folgen nun nach Hinweisen zur Analyse von lyrischen Texten mit Fachbegriffen zunächst 11 Gedichte, meist aus dem Bereich Alltags- und Liebeslyrik, nebst ausführlichen Interpretationen. Bei den Gedichten Nr. 1-9 entsprechen die Aufgabenstellungen nicht denen des Zentralabiturs. Diese lassen sich jedoch mit Hilfe dieser Interpretationen problemlos beantworten. Die Analyse des 10. Und 11. Gedichts (politische Lyrik von Erich Fried) erfolgt weitgehend stichwortartig, entspricht aber den Abiturvorgaben.

Danach folgen Schülerklausuren bzw. –referate (Klasse 13) über den Vergleich zweier Gedichte sowie 2 Kurzinterpretationen von 2 Gedichten von Erich Fried (ohne Überarbeitung durch mich).

Am Schluss stehen Gedichte (Nr. 21-53), die zu Übungszwecken selbständig interpretiert werden können.

Selbstverständlich enthalten auch meine eigenen Texte neben subjektiven Wertungen hoffentlich nur ganz unwesentliche Fehler und könnten an manchen Stellen sicher noch ergänzt werden. Ich habe mich bemüht, meine Aussagen stets an Textstellen zu belegen sowie einigermaßen klar und verständlich zu formulieren, unter Verwendung der notwenigen Fachbegriffe. Für Anregungen jeder Art bin ich natürlich dankbar.

Ich hoffe, dass Lehrer- und Schüler/-innen vornehmlich der Oberstufe von diesem Angebot profitieren können. Es ist jedoch weder redlich noch sinnvoll, die folgenden, notwendigerweise subjektiven Interpretationen einfach zu übernehmen. Diese sollen eher dazu dienen, zu differenzierter selbständiger Lyrikanalyse anzuregen.

Wichtig: Schreibweise, Rechtschreibung und Interpunktion sind bei den Gedichten unverändert beibehalten worden.

Meine Interpretationen zu folgenden Gedichten

1. Ingeborg Bachmann Reklame (1956)

2. Bertold Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau (1925)

3. Ulla Hahn: Angeschaut (1981)

4. Ulla Hahn: Bildlich gesprochen (1981)

5. Ulla Hahn: Ich bin die Frau  (1983)

6. Ulla Hahn: Keine Tochter (1983)

7. Ulla Hahn: Mit Haut und Haar (1981)

8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

9. Ernst S. Steffen: Elsa (1970)

10. Jürgen Theobaldy: Schnee im Büro (1976)  

11. Erich Fried: Die mit der Sprache (1972)

12. Erich Fried: Gründe (1966)

Interpretationen und Gedichtvergleiche von Schüler/-innen zu folgenden Gedichten

13. Heinrich Heine: Zur Beruhigung (1844)

14. Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1962)

15. Erich Fried: Spruch (31.12. 1945)

16. Erich Fried: Was es ist (1979)

3 Gedichtvergleiche (Alltags & Liebeslyrik 2)

17. Johann Wolfgang von Goethe: Dauer im Wechsel (1815)

18. Gottfried Benn: Aber du – ? (1954)

19. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)

20. Rainer Maria Rilke: Herbsttag  (1902)

8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)

Ausgewählte Gedichte zur eigenständigen Interpretation

(Alltags & Liebeslyrik 2)

22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)

23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)

24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)

25. Ulla Hahn: Allein (1983)

26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)

27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)

28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)

29. Ulla Hahn: Danklied (2003)

30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)

31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)

32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)

33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)

34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)

35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)

36. Ulla Hahn: Wartende (1983)

37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)

38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)

39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)

40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)

41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)

42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)

43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)

44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)

45. Hermann Hesse: Stufen (1941)

46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)

47. Ernst Jandl: Beschreibung eines Gedichts (1977)

48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)

49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)

50. Anja Kampmann: steilküste (2012)

51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)

52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)

53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)

Hinweise zur Analyse von lyrischen Texten mit Fachbegriffen

1. Überblicksinformation (Einleitung)

1.1. Textsorte, Autor, Titel, Erscheinungsjahr in Klammern, Zeit, Epoche u.a. Infos, Thema (These)

1.2. Kurzinhalt einschließlich Ende des Gedichts (ca. 3 Sätze)

2. Formale Analyse (alles mit möglichen Wirkungen)

2.1. Aufbau: Anzahl und Länge sowie Zeilen (besser als: Verse) der einzelnen Strophen

Sonderform Sonett: 2 Quartette (2 vierzeilige Strophen) und 2 Terzette (2 dreizeilige Strophen)

(meist: abba – abba – cdc – dcd  oder  abba – cddc – eef – ggf)

2.2. Metrum, Versmaß, Versfüße  (Senkungen, Hebungen, Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst etc.), soweit vorhanden

2.3. Reimarten

2.3.1. Endreim (Jeweils die letzte betonte Silbe zweier Zeilen reimen sich.)

2.3.2. Anfangsreim  (Jeweils das 1. Wort zweier Zeilen reimt sich.)

2.3.3. Binnenreim (Jeweils 2 Wörter innerhalb zweier Zeilen reimen sich.)

2.3.4. Reiner Reim (Übereinstimmung der hörbaren Reihenfolge der Reimsilben: gehen – flehen)

2.3.5. Unreiner Reim (ungefähre Übereinstimmung der hörbaren Reihenfolge der Reimsilben: hören – wehren)

2.3.6. Assonanz (Nur Vokale stimmen überein: wagen – laben)

2.3.7. Schlagreim (Jeweils 2 aufeinanderfolgende Wörter innerhalb einer Zeile reimen sich.)

2.3.8. Vexierreim (frivoler Reim: Adam kommt mit großen Schritten und fasst Eva an die Schulter)

2.3.9. Schüttelreim (Doppelreim mit 2 Anfangslauten oder –lautgruppen, die den Platz tauschen:

Wer andern in die Möse beißt, ist böse meist.)

2.4.    Reimschema

2.4.1. Paarreim (aabb – ccdd etc.)

2.4.2. Kreuzreim (abab – cdcd etc.)

2.4.3. Umarmender Reim (abba – cddc etc.)

2.4.4. Gliederung in mehrere Teile (Welche Strophen gehören zusammen?) mit kurzen Erläuterungen

2.5. Art und Häufigkeit der Interpunktion (Satzzeichen)

2.6. Satzbau (hypotaktisch: HS, NS, EI etc., parataktisch: HS, HS etc.)

2.7. Zeilensprung (Enjambement) bzw. Strophensprung (Satz geht in nächste Zeile bzw. Strophe über.)

2.8. Inversion (ungewöhnliche Satzstellung)

2.9. Rhetorische Figuren:

Metaphern (gewöhnliche/Alltagsmetaphern oder ungewöhnliche Metaphern), Vergleich, Alliterationen, Anapher, Ellipse, Emphase, rhetorische oder echte Fragen, Hyperbel, Gegensatz, Euphemismus, Neologismus, Personifikation, Symbol, Steigerung, Klimax, Ironie, Vergleich, pars pro toto, Paradoxon, Oxymoron etc.

2.10.  Direkte oder indirekte Rede

Bitte immer mit möglichen bzw. beabsichtigten Wirkungen !!!

3. Interpretation (genau, konkret, jede Strophe, Zeile, geeignete Zitate, über 50% der Klausur)

3.1. Wer ist das lyrische Ich? Was wissen wir / vermuten wir über es?

3.2. Bei fehlendem lyrischem Ich spricht man vom Gedichtsprecher, der das Geschehen von außen als scheinbar neutraler Beobachter berichtet und eventuell auch kommentiert. (Lyrisches Ich und Autor sind nicht identisch!)

3.3. Bei der Interpretation z.B. von (ungewöhnlichen) Metaphern ruhig auch mehrere begründete Vermutungen anstellen.

3.4. Bei manchen Formulierungen möchte Dichter/-in bei/m Leser/-in bestimmte Assoziationen (bewusste oder unbewusste Gedankenverbindungen) hervorrufen, die bei der Interpretation auf jeden Fall angesprochen werden sollen (vielleicht, möglicherweise etc.).

3.5. Am Schluss: Bezug des Titels zum Inhalt des Gedichts

3.6. Zitierweise: z.B. „Puppenaugen“ (Z.5)

4. Fazit (Schluss)

4.1. Kurze Zusammenfassung der Hauptergebnisse bzw. der möglichen Aussageabsicht des Gedichts mit Bezug zum Titel und weiterführenden Aspekten

4.2. Wenn vorhanden: Bezug der Biografie von Dichter/-in zum Inhalt bzw. zur Aussageabsicht

4.3. Gegenwartsbedeutung (Relevanz des Themas)

4.4. Persönliche Stellungnahme (positiv/negativ und bezüglich der Wirkung auf mögliche

Zielgruppe)

1. Ingeborg Bachmann: Reklame (1956)

     Wohin aber gehen wir

     ohne sorge sei ohne sorge

     wenn es dunkel und wenn es kalt wird

     sei ohne sorge

 5  aber

     mit musik

     was sollen wir tun

     heiter und mit musik

     und denken

10 heiter

     angesichts eines Endes

     mit musik

     und wohin tragen wir

     am besten

15 unsre Fragen und den Schauer aller Jahre

     in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge

     was aber geschieht

     am besten

     wenn Totenstille

20 eintritt

1. Überblicksinformation:

Das Gedicht „Reklame“ (1956) von Ingeborg Bachmann ist der Nachkriegslyrik der 50er Jahre zuzuordnen und spiegelt die Verlockungen sowie die Scheinwelt der Werbung wider, die die drängenden, sorgenvollen Fragen des lyrischen Wir mit ständig sich wiederholenden Sinn entleerten, heiteren Reklamesprüchen beantwortet. Bei der Frage nach Bewältigung der jüngsten Vergangenheit rät die Werbung ebenso zu Sorglosigkeit und Verdrängung. Auf die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Tod weiß sie jedoch keine Antwort mehr.

2.1. Formale Analyse

Das Gedicht weist weder ein klar erkennbares Versmaß noch Reime auf und besteht aus nur einer Strophe mit 20 Zeilen, wobei die letzte Zeile durch eine Leerzeile getrennt ist. Jede zweite Zeile ist kursiv gedruckt, was darauf hindeutet, dass eine weitere Person spricht.

Daher wirkt das Gedicht zunächst wie ein Dialog. Die ‚Gesprächspartner’ scheinen jedoch aneinander vorbei zu ‚reden’, da die Antworten völlig unvereinbar mit den Fragen sind. Das ‚Missverständnis’ entpuppt sich nämlich als bewusste Ablehnung dieser Antworten. Das lyrische Wir scheint sie zu ignorieren, da sie ihm offensichtlich nicht helfen. Es fehlt jede Interpunktion, selbst der Punkt am Schluss, was auf das Unabgeschlossene des dort Thematisierten hinweist.

Es gibt Parallelismen (Z.2,4,16), Wortwiederholungen (5-mal „ohne sorge“, 3-mal „mit musik“, 2-mal „heiter“, Z.2ff.) und 4 echte Fragen des lyrischen Wir, bei denen es eine Unterscheidung zwischen Groß und Kleinschreibung gibt. Beim kursiv Gedruckten (meist in Ellipsenform) sind auch alle Nomen kleingeschrieben, das heißt, es ist alles gleich wichtig bzw. unwichtig und bedeutungslos.

Der Satzbau ist weitgehend parataktisch, da neben den 4 Fragesätzen nur 2 Nebensätze (Z.3, 19f.) sowie die kursiv gedruckten elliptischen Aufforderungssätze vorhanden sind.

Neben der zentralen Metapher bzw. dem Neologismus („Traumwäscherei“, Z.16) z.B. ) gibt es noch weitere Metaphern („ … tragen wir unsere Fragen und den Schauder aller Jahre“, Z.15), wobei auch „dunkel“ und „kalt“ metaphorische Bedeutung haben.

Die Epiphern (Z.2 und 4) und eine Anapher (Z.3, 19) unterstreichen die ständigen Wiederholungen der Reklame bzw. die immer weiter gehenden Fragen des lyrischen Wir. Alliterationen (Z.2, 6, 12, 16) und der auffällige Singsang der Werbesprache (Z.2,4,8) mit den weichen Konsonanten sollen deren einlullende und wohlklingende Wirkung verstärken. Typisch für die Werbesprache sind auch der Superlativ („am besten“, Z.14) und ständig wiederholte Werbeslogans („sei ohne sorge“, Z.2ff.).

Auffällig ist bei den Fragen des Lyrischen Wir, dass es durch Aktivität zeigende Verben wie „gehen“ (Z.1), „tun“ (Z.7), „denken“ (Z.9), „tragen“ (Z.13) und „eintreten“ (Z.20) deutlich macht, dass es Antworten benötigt, nach denen es handeln kann. Bei den kursiv gedruckten Texten des Reklamesprechers kommt jedoch nur das statische Hilfsverb „sein“ vor, da die Reklame nur solche zu passivem Konsum animierende Antworten liefert.

2.2. Interpretation

Zu Beginn des Gedichtes stellt das lyrische Wir – ein kollektives Subjekt, dem sich auch der Leser zugehörig fühlen soll – die 1. W-Frage: „Wohin aber gehen wir“ … „wenn es dunkel und wenn es kalt wird“ (Z.1 und 3).

Das „aber“ deutet an, dass die sorgenvollen Fragen und die „Reklame“ Aufforderungen wohl Bruchstücke eines längeren ‚Dialogs‘ zwischen zwei Sprechern sind, wobei der Reklamesprecher z.B. die heile Welt des Wirtschaftswunders und des Konsumrausches gepriesen haben könnte.

Der Einwand des lyrischen Wir nach dem „Wohin“ wird mitten im Satz mit der beschwichtigenden, ja beschwörenden 2-fachen Aufforderung, ohne Sorge zu sein, unterbrochen, um die dunklen und kalten Aspekte des künftigen Lebens, also dessen Schattenseiten, gar nicht erst zur Sprache zu bringen, da dies den ungebremsten Fortschritt und Wirtschaftsaufschwung stören oder gar in Frage stellen könnte. Diese Konkretisierungen der Ängste des lyrischen Wir in Z. 4 wird sofort mit der nochmaligen „sei ohne sorge“ überspielt.

Auch die 2. W-Frage wird mit „aber“ (Z.5) eingeleitet, was sofort durch „mit musik“ (Z.6) unterbrochen wird, gemäß dem bekannten Schlager „Mit Musik geht alles besser“. Das lyrischer wir fährt unbeirrt fort und fragt, „was“ wir tun sollen (Z.7). Wieder wird eine aktive und grundsätzliche Veränderung des momentanen Zustands angesprochen, die wiederum vom Reklamesprecher mit der oberflächlichen und stereotypen Aufforderung „heiter und mit musik“ (Z.8) ‚beantwortet‘ wird.

Die Fortführung der 2. Frage durch eine Thematisierung der Veränderung unseres Denkens (im Sinne von Veränderung unseres unkritischen Konsumverhaltens) wird wiederum durch den Reklamesprecher mit „heiter“ (Z.10) geradezu unterlaufen. Nicht das „Was“ (also der Inhalt) ist wichtig, sondern nur das „Wie“, also die heiter-fröhliche Verdrängung jeden kritischen Denkens.

Der Schluss der 2. Frage thematisiert, dass alles ein Ende hat (Z.11), auch das Wirtschaftswunder der 50er Jahre, und dass man alles Handeln auch vom Ende her beurteilen sollte. Der Reklamesprecher ignoriert dies erneut völlig und wiederholt stereotyp und unbeirrbar „mit musik“ (Z.12). Das heißt, dass er sich diese Fragen nicht stellt, sondern alles mit Musik ‚bewältigt‘, ja geradezu zu dröhnt bzw. erfolgreich verdrängt und Zweifel oder Angstgefühle nicht zulässt.

Die 3. W-Frage wird wie die 1. Frage mit „wohin“ eingeleitet. Jedoch wird jetzt noch drängender und sorgenvoller nach der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit und deren Verarbeitung bzw. Bewältigung („Schauder aller Jahre“, Z.15) gefragt, die das lyrische Wir nicht mehr loslässt.

Mit „aller Jahre“ wird angedeutet, dass es sich hierbei das schlimmste Verbrechen „aller Zeiten“ handelt, nämlich den Holokaust und den 2. Weltkrieg mit ca. 56 Millionen Toten.

Gerade diese Frage wurde in den 50er Jahren ‚erfolgreich‘ verdrängt und erst in den 60er Jahren mit dem Ausschwitzprozess und der 68er Revolution wieder thematisiert.

Die auf den ersten Blick befremdlich anmutende Antwort des Reklamesprechers lautet: „am besten“ … „in die traumwäscherei“ mit dem beschwörend beschwichtigenden, stereotyp wiederholten Zusatz „ohne sorge sei ohne sorge“ (Z.15f.).

Der Neologismus „Traumwäscherei“ ist zusammengesetzt aus „Traum“ und „Wäscherei“ und meint das Waschen von (Alb-)Träumen, das heißt z.B. auch der traumatischen Erlebnisse von NS-Zeit und 2. Weltkrieg, die die Deutschen in der Nachkriegszeit verdrängten und sich stattdessen wie besessen mit dem Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder befassten und sich dabei in einen wahren Konsumrausch stürzten, um nicht an die schlimme NS-Vergangenheit denken zu müssen. Aus der Sicht des Reklamesprechers ist der Begriff „Traumwäscherei“ ernst gemeint. Sie bezeichnet so etwas wie ein gesamtgesellschaftlich organisiertes Glückgefühl, das eine „schöne neue Welt“ (Huxley) propagiert.

Diese Albträume werden so lange gewaschen und weich gespült, bis sie schöne Träume sind und keine Ängste mehr auslösen. Zugleich weckt diese Wortneuschöpfung die Assoziationen „Traum-fabrik“, „Gehirnwäsche“ oder auch „Geldwäsche“. Traumfabrik erinnert an die heile Scheinwelt Hollywoods, wobei Gehirnwäsche ein Bild sein könnte für die ständigen ‚Berieselungen‘ durch die Werbung, die letztlich wie eine Gehirnwäsche wirken, jedes kritische Denken ausschalten und alle Hemmungen gegenüber dem ungebremsten Konsumverhalten beseitigen. Geldwäsche schließlich erinnert daran, dass dieses Geld, ohne das Reklame und Konsum undenkbar ist, aus oft dubiosen Quellen stammt und erst weiß gewaschen werden muss.

Die Lebenseinstellung des Reklamesprechers wird hierbei in 3 Motiven deutlich: das „Ohne-Sorge“-Motiv, das „Heiter-und-mit-Musik“-Motiv und das „Am-besten-in-die-Traumwäscherei“-Motiv (Z. 2-18). Die Motive werden jeweils so vorgetragen, als ob sie aus einem Lautsprecher „am laufenden Band“ ertönen würden, nur unterbrochen durch die sich immer drängender stellenden Fragen. Weshalb man den Hörer/-innen dauernd das Sich-Sorgen ausreden muss, wird nicht erwähnt.

Die 4. und letzte W-Frage stellt offensichtlich nicht das lyrische Wir, da diese ganz existenzielle Frage nach dem „was aber geschieht“ … „wenn Totenstille“ … „eintritt“ (Z.17, 19, 20) nur von jeder/m Einzelnen individuell gestellt werden kann.

Der Reklamesprecher versucht noch den Superlativ „am besten“(Z.18) anzubringen, wobei unklar bleibt, was am besten zu tun ist. Bei der „Totenstille“ fallen ihm dann noch nicht einmal mehr nichts sagende Floskeln bzw. Werbesprüche ein. Die Reklame hat keine Antworten auf Fragen, die den Tod betreffen. Deshalb entsteht eine Lücke, die nicht mehr gefüllt werden kann.

Das wirkungsvolle „eintritt“ in der Schlusszeile signalisiert, dass danach nichts mehr kommen kann – weder befriedigende Antworten noch irritierende Banalitäten der Werbung –, wobei der fehlende Punkt die Allgegenwärtigkeit des finalen Ereignisses signalisiert, das jeden unter-schiedslos trifft.

3. Stellungnahme zu Hauptintentionen der Autorin

Ingeborg Bachmann beschreibt eindringlich, wie penetrant, aufdringlich und mit immer den gleichen oberflächlichen Werbesprüchen wir täglich berieselt werden, so dass uns kaum Zeit bleibt, unsere Fragen nach unserem Dasein, der Zukunft und auch der Vergangenheit in Ruhe zu stellen. Sie entlarvt die Hohlheit und Stereotypie der Werbesprüche, die die KonsumentInnen überhaupt nicht ernst nehmen, ihnen lediglich eine Scheinwelt vorgaukeln und sie nur zu sinnlosem Konsum verleiten wollen. Die Werbung blendet konsequent alle wirklichen Probleme aus, so dass niemand sich sorgen muss. Musik wird gezielt als Droge und Berieselung bzw. Betäubung der Sinne eingesetzt. Der Zwang zur Heiterkeit, verdrängt jede Ernsthaftigkeit.

Natürlich ist das vorliegende Gedicht vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders der 50er Jahre zu sehen, als Werbung noch völlig unkritisch aufgenommen wurde und der ungebremste Konsumrausch die breite Masse erfasste. Damals wurden nur ganz vereinzelt Fragen nach der jüngsten Vergangenheit gestellt, da es viel bequemer war, diese zu verdrängen.

Der Titel „Reklame“ bedeutet einerseits „Werbung“, weckt aber auch die Assoziation des ‚Reklamierens‘, des hilflosen Klagens, da eine Anlaufstelle oder Instanz (früher: Gott), die auch Sinn und Werte vermittelt, sicher auch infolge der Katastrophe des 2. Weltkrieges im Gedicht nicht mehr angesprochen wird.

Zwar appelliert Ingeborg Bachmann an die Leser/-innen, diese drängenden Fragen nach aktiver Veränderung und Einmischung selbst zu stellen und auch danach zu handeln. Die fehlenden Antworten und der Hinweis auf die eintretende Totenstille lassen jedoch befürchten, dass die notwendigen Veränderungen eher zögerlich in Angriff genommen werden.

Sicherlich hat sich heute in dieser Hinsicht – besonders bezüglich der Einstellung der Verbraucher/-innen – vieles verändert, der Einfluss der Werbung und der Manipulation durch die Medien ist aber ungebrochen und erreicht über das Internet immer größere Bereiche des Privatlebens.

Die Fragen nach einer selbstbestimmten, konsumkritischen und umweltbewussten Lebensweise muss jedoch jede/r immer wieder neu für sich beantworten.

2. Bertold Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau (1925)

       Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau

       Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn.

       Da sah ich: eine Strähne in ihrem Haar war grau

       Ich konnte mich nicht entschließen mehr zu gehen.

   5  Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte

       Warum ich Nachtgast nach Verlauf der Nacht

       Nicht gehen wollte, denn so war’s gedacht

       Sah ich sie unumwunden an und sagte:

       Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben

 10  Doch nutze deine Zeit; das ist das Schlimme

       Dass du so zwischen Tür und Angel stehst.

       Und lass uns die Gespräche rascher treiben

       Denn wir vergaßen ganz, dass du vergehst.

 14  Und es verschlug Begierde mir die Stimme.

1. Überblicksinformation

Das Gedicht „Entdeckung an einer jungen Frau“(1925) von Bertold Brecht (1898-1956) aus der Literaturepoche der Neuen Sachlichkeit handelt vom Abschied zweier Liebenden am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht. Das lyrische Ich kann sich jedoch infolge seiner unerfüllten Begierde bzw. Liebe noch nicht entschließen zu gehen.

Als die Frau ihn fragt, warum er nicht gehen wolle, fordert er sie auf, angesichts ihres  vorgerückten Alters die ihr verbliebene Zeit dazu zu nutzen, mehr Leidenschaft zu zeigen, und will noch eine weitere Nacht bleiben.

2. Formale Analyse

Brecht wählt die traditionelle Gedichtform des Sonetts mit der streng gegliederten Anordnung von 2 Quartetten und 2 Terzetten. Dieses Formschema erlaubt eine klare Strukturierung der lyrischen Handlung, der Reden und Gedankengänge der Gedicht-Figuren.

In der 1. Strophe wird der Kreuzreim (abab) verwendet, erst das 2. Quartett endet in Form des umarmenden Reims (abba). Die Terzette weisen ein strophenübergreifendes Reimschema (abc, acb) auf, was deren Abruptheit und Direktheit unterstreicht.

Der Satzbau ist unregelmäßig, d.h. in der 1.Strophe parataktisch (Ellipsen + HS) und ab der 2.Strophe hypotaktisch (HS + NS). Auch eine Inversion (Z.4) u. 2 überraschende Enjambements (Z.1f.,6f.) verdeutlichen den unharmonischen Eindruck des Gedichts, der durch Alliterationen (Z.6f.,9,13) u. eine Anapher (Z.2) nur etwas abgemildert wird.

Wörtliche sowie indirekte Rede (in der 3. u. 4. sowie 2. Strophe) unterstreichen die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der geschilderten Situation, die durch häufige sprachliche Bilder („nüchterner Abschied“, Z.1; „Kühl zwischen Tür und Angel“, Z.2+11; „eine Strähne in ihrem Haar war grau“, Z.3; „Gespräche rascher treiben“, Z.12; „du vergehst“, Z.13; „verschlug Begierde mir die Stimme“, Z.14) anschaulicher wirkt. Die zentrale Metapher „Nachtgast“ (Z.6) ist zugleich ein Neologismus. Satzzeichen (Punkte, Kommas, Doppelpunkte) strukturieren die einzelnen Verse, wobei die z.T. fehlenden Satzzeichen am Zeilenende den inhaltlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Zeilen hervorheben. Der Punkt nach Zeile 13 signalisiert, dass das Gedicht unvorbereitet und plötzlich endet.

3. Interpretation

Der Beginn der 1.Strophe zeigt eine Abschiedsszene zweier Liebender an der Tür am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht. Der Abschied wird als ,,nüchtern“ u. ,,kühl (Z.1f.) dargestellt, wobei diese Kühle von der Frau ausgeht, den das lyrische Ich, also ein Mann, mit kühlem Blick (Z.2) erwidert. Bei der Frau handelt es sich möglicherweise um eine Prostituierte („eine Frau“, Z.1), deren ,,Nachtgast“ (Z.6) das lyrische Ich ist.

Die disharmonische, qualvolle Situation des Eingangsbildes spiegelt sich zusätzlich im rhythmischen ,Missklang’ der ersten 2 Zeilen. Leicht u. getragen, mit 2-silbiger Senkung klingt zunächst „Des Morgens nüchterner Abschied“. Die Begegnung scheint sich problemlos zu erledigen. Dann stockt der Verlauf, und mit 3 Pausierungen („eine Frau kühl zwischen Tür u. Angel kühl besehe“, Z.1f.) erreichen die Zeilen nur mühsam ihr Ziel.

Der unbeholfene Rhythmus verrät innere Widerstände des lyrischen Ichs. Er kündigt das Zögern, das Umwenden des Mannes an, das in der folgenden Zeile mit einer belanglos scheinenden Wahrnehmung einsetzt.

Als er ,,eine (graue) Strähne in ihrem Haar“ (Z.3) sieht, kann er sich jedoch ,,nicht entschließen mehr zu gehen“ (Z.4). Diese Zeile sticht durch seine parataktische Form hervor, da die vorhergehenden Zeilen 1 und 2 durch Enjambement verbunden sind und die Aufzählung durch ihn abgebrochen wird. An der grauen Strähne scheint das lyrische Ich zu erkennen, dass die ,,junge Frau“ (Titel) altert. Nun wird eine emotionale Betroffenheit (Mitleid?) spürbar, die den Wunsch zum Bleiben wachruft. Unbewusst erinnert das Altern der Frau das lyrische Ich dabei auch an dessen eigene Vergänglichkeit, was es in seinem Entschluss bestärkt, die Zeit zu nutzen (Z.10) und noch nicht zu gehen.

In der 2. Strophe signalisiert der Mann seine vage Absicht zu bleiben, indem er „stumm … ihre Brust“ (Z.5) nimmt, weshalb sie ihn fragt, warum er entgegen der Absprache als bloßer „Nachtgast nach Verlauf der Nacht“ (Z.6) nicht einfach gehe. Das lyrische Ich sieht ihr nun direkt und selbstbewusst in die Augen, um ihr zu zeigen, dass er sich seines Entschlusses nicht schämt und auch nicht auf ihre Einwilligung angewiesen ist.

Mit der direkten Ansprache zu Beginn der 3. Strophe teilt er ihr zunächst mit, dass er nur noch eine Nacht bleiben wolle. Ferner ermahnt er sie, angesichts ihres vorgerückten Alters die ihr verbliebene Zeit zu nutzen (Z.10).

Der Mahnung an die Frau lässt das lyrische Ich dann einen Vorwurf folgen („das ist das Schlimme, daß du so zwischen Tür und Angel stehst“, Z.11). Die Rede ist hier von der Türschwelle als einem Ort des Übergangs, an dem man sich nicht lange aufhält. Da das Gedicht sowohl von der Liebe als auch von der Zeit spricht, wohnt dem Bild eine 2-fache Bedeutung inne. Es enthält zum einen eine Anspielung auf die Vergänglichkeit:

Die Frau steht auf der Grenzscheide zwischen Jugend und Alter, ja sogar zwischen Leben und Tod, wie Z. 13 („daß du vergehst“) zu entnehmen ist.

Der 2. Sinn der Redewendung „zwischen Tür und Angel“ ergibt sich aus dem Kontext mit dem Liebesthema. Es handelt sich hier ja auch um den Ort des Hauses, an dem man innerlich ‘auf dem Sprung ist’, an dem man die Besucher flüchtig abfertigt, auf die man sich nicht ernstlich einlassen will. So hat das lyrische Ich offenbar das nächtliche Beisammensein empfunden, was in seinen Augen „das Schlimme“ (Z.10) ist. Er fordert sie damit zu mehr Leidenschaft, erotischer Begeisterung und völliger Hingabe auf und ermahnt sie, sinnliche Liebe nicht nur nebenbei zu erledigen.

Die Beziehung des Besuchers zu dieser Frau scheint eine weitaus intimere zu sein, als man bei einem normalen ,,Nachtgast“ (und käuflicher Liebe?) annehmen könnte. Obwohl von vornherein geplant war, dass er ,,nach Verlauf der Nacht“ (Z.6) gehen sollte, haben die beiden offenbar eine engere Beziehung aufgenommen, die neben sexuellem Kontakt und ,,Begierde“ (Z.14) auch ,,Gespräche“ (Z.12) mit sich bringt.

In der 4. Strophe folgt der 2. Teil der Äußerungen des lyrischen Ichs, wobei die Wir-Form eine kommunikative Gemeinsamkeit herstellt, die aber in Z.13 und 14 wieder zurückgenommen wird (Männer meinen meistens nur sich, wenn sie verschleiernd von „wir“ sprechen.). Das lyrische Ich möchte die fehlende Leidenschaft in der weiteren, aber auch letzten Nacht, die er ihr schenkt, nachholen, wozu der Mann auffordert: „Laß uns die Gespräche rascher treiben“ (Z.12). Damit ist weniger ein verbaler Austausch gemeint als vielmehr das intensive Steigern der Umarmungen. Körperkontakt und intime Berührung werden als kommunikativer Vorgang verstanden, der Sprache vergleichbar, die Einverständnis herstellt. Deshalb verwendet das lyrische Ich hier auch das Personalpronomen „uns“, um die Intention der Gemeinsamkeit des Erlebens im Hier und Jetzt auszudrücken, das allerdings nur kurz und vergänglich ist.

Die Schlusszeile („Und es verschlug Begierde mir die Stimme“, Z.14) steht bereits außerhalb der Rede und betrifft allein die Erlebnissphäre des Mannes. Sie schließt das Gedicht nicht nur formal, sondern auch mit inhaltlicher Folgerichtigkeit endgültig ab. Dem lyrischen Ich versagt die Stimme, und jede weitere Mitteilung wäre Indiskretion.

Das Sprechen des lyrischen Ichs wirkt hier eher monologisch, ohne erkennbare Reaktion auf Seiten der Frau. Die Rede stiftet also keinen dialogischen Kontakt, sondern dringt beziehungslos auf die Angesprochene ein, lieblos im Ton wie im Inhalt.

Dennoch steht das Gedicht ganz im Zeichen einer vor allem von Sexualität geprägten Liebesbegegnung. Das gesamte Geschehen ist eingebettet zwischen „nüchternen Abschied“ (Z.1) u. „Begierde“ (Z.14), was die psychische Kälte deutlich macht, wie sie Erlebnissen ohne Zärtlichkeit und menschliche Wärme eigen ist. Das 2-fach eingesetzte Adverb „kühl“, einmal auf die Frau, dann auf den Blick des Mannes bezogen, verstärkt den Eindruck der seelischen Ferne zwischen den beiden. Zweimal findet sich die umgangssprachliche Redensart „zwischen Tür und Angel“. In Z.2 unterstreicht sie die Flüchtigkeit, mit der die ‘Liebenden’ sich ohne Anteilnahme wie Fremde an der Tür voneinander zu trennen gedenken.

Der Titel „Entdeckung an einer jungen Frau“ zeigt, wie abhängig von der momentanen emotionalen Stimmung die männliche Wahrnehmung des Äußeren einer Frau ist. Schon eine graue Strähne lässt sie für ihn plötzlich alt erscheinen, und er macht sich Sorgen um ihre Lebenserwartung.

4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These von der unerfüllten Liebe bzw. Begierde des lyrischen Ichs zu einer (käuflichen?) alternden Frau, die ihn veranlasst, noch eine Nacht zu bleiben und zugleich an sie zu appellieren, die kurze Zeit zu leidenschaftlicher, statt kühler Liebe zu nutzen.

Vielleicht möchte Brecht mit dem Bild der käuflichen Liebe, die nur eine nüchterne Dienstleistung ist, das Verhalten der Menschen in einer kapitalistisch geprägten Welt anprangern sowie das Fehlen echter, bedingungsloser Gefühle.

Es geht ihm darum, bewusst zu leben, sich jeden Tag den drohenden, jederzeit möglichen Tod, aber auch die Erkenntnis vor Augen zu halten, dass jeden Tag ein Teil des Menschen stirbt.

Die mit starker Leidenschaft durchlebte Begegnung hinterlässt Spuren im Bewusstsein, die länger in der Erinnerung haften, wenngleich auch sie letztlich vergehen. Zu diesem außerordentlichen Erlebnis ist das lyrische Ich bereit, und dazu fordert es die Partnerin auf, weil es die Begegnung der raschen Vergänglichkeit entreißen will. Mehr kann man der Flüchtigkeit der Liebe nicht entgegensetzen.

Nur durch die Steigerung des Augenblicks zu höchster Erlebnisdichte gewinnt der Moment eine Fülle, die etwas Bleibendes in den Beteiligten bewirkt. Das ist der Sinn von Z.12 und darin liegt der eigentliche Inhalt der „Entdeckung“, von welcher der Gedicht-Titel spricht.

Die Zielgruppe ist hier schwerer zu bestimmen, da sich Frauen infolge der männlichen Dominanz des lyrischen Ichs sicher weniger angesprochen fühlen. Das Ungleichgewicht in der Beziehung verhindert eine wirkliche, tiefere Liebe zwischen beiden, so dass das lyrische Ich von der Frau etwas fordert, was ausschließlich den Bedürfnissen des Mannes entspricht und der Situation völlig widerspricht.

3. Ulla Hahn: Angeschaut (1981)

       Du hast mich angeschaut jetzt

       hab ich plötzlich zwei Augen mindestens

       einen Mund die schönste Nase

       mitten im Gesicht.

   5  Du hast mich angefaßt jetzt

       wächst mir Engelsfell wo

       du mich beschwertest.

       Du hast mich geküßt jetzt

       fliegen mir die gebratenen

 10  Tauben Rebhühner und Kapaunen

       nur so ausm Maul ach

       und du tatest dich gütlich.

       Du hast mich vergessen jetzt

       steh ich da

 15  frag ich was

       fang ich allein

       mit all dem Plunder an?

1. Überblicksinformation

In dem Gedicht „Angeschaut“ (1981) von Ulla Hahn aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um ein lyrisches Ich, das durch das begehrende Anschauen eines jungen Mannes starke Liebesgefühle entwickelt und sich zunächst unglaublich aufgewertet fühlt.

Nachdem er das lyrische Ich jedoch angefasst u. geküsst hat, hat er es ganz schnell vergessen, und das lyrische Ich kommt sich am Ende ausgenutzt und verloren vor.

2. Formale Analyse

Das reimlose Gedicht besteht aus 4 Strophen (S.) (4, 3 u. 2-mal 5 Zeilen, wodurch bei letzteren deren Wichtigkeit betont wird), die nur am Ende ein Satzzeichen haben, was inneren Zusammenhang, aber auch fehlende Harmonie u. atemlosen Rhythmus jeder S. verstärkt. Die einzelnen Verse haben eine ganz unterschiedliche Länge, wobei Z.2 und 10 die längsten u. Z.14-16 (4. S.) am kürzesten sind, was die Sprachlosigkeit des lyrischen Ichs am Schluss verdeutlicht.

Auffällig ist der symmetrische Beginn des jeweils 1.Verses jeder S. Auf die 4-malige Anapher („Du hast mich“) folgt immer ein Verb in Form einer Klimax („angeschaut“, „angefasst“, „geküsst“, „vergessen“)  und das temporale Adverb „jetzt“ (2. Anapher), das zu einem jeweils überraschenden Enjambement führt.

Innerhalb einer Strophe fehlen alle Satzzeichen, besonders die Kommas. Jede S. steht zunächst für sich und wird mit einem Satzzeichen abgeschlossen: In der 1.-3. S. ein Punkt, in der 4. u. letzten S. jedoch ein Fragezeichen. Hierdurch wird die abrupte u. stereotype Vorgehensweise des Mannes sichtbar.

Die abschließende Frage ist jedoch sowohl eine echte Frage als auch rhetorisch gemeint (s.u.).

Der Satzbau ist parataktisch (nur HS, 1 Ausruf:„ach“), nur in der 2. S. hypotaktisch (HS, NS). Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1.S.: anschauen, was beim lyrischen Ich einen Gefühlssturm entfesselt; 2. + 3. S.: anfassen u. küssen, was beim lyrischen Ich bereits zwiespältige u. verletzte Gefühle auslöst; 4. S.: vergessen, so dass sich das lyrische Ich einsam und verloren fühlt). Auch die Reihenfolge von Ich und Du (1.S.: Du – ich; 2. + 3. S.: du – du; 4. S.: du – ich – ich) zeigt dies.

Auffällig ist der Tempuswechsel: Ist das lyrische Ich Subjekt, steht das Verb im Präsens (Z.2,6,9,14-16). Ist aber das Du Subjekt, steht das Verb in der Vergangenheitsform (Z.1,5,8,12,13). Dies zeigt, dass die Beziehung zum Du vergangen ist, die Probleme des Ichs aber noch da sind.

Ungwöhnlicher Satzbau (fehlendes „Und“ in Z.3 und 14) u. durchgehende Enjambements außer in Z.11 und 14 (unterstreichen die lyrische Disharmonie, die durch fehlende Alliterationen und den Kontrast zw. umgangssprachlich-vulgärer („ausm Maul“, Z.11; „Plunder“, Z.17) und Märchensprache („gebratene Tauben…“, Z.9f.) noch verstärkt wird.

Ungewöhnliche Metaphern, z.T. Übertreibung, Oxymoron u. Neologismus („mindestens einen Mund die schönste Nase“, Z.2f.; „Engelsfell“, Z.6; „fliegen mir die gebratenen Tauben … ausm Maul“, Z.9-11; „Plunder“, Z.17), zeigen Überschwang, Zwiespalt und enttäuschte Gefühle des lyrischen Ichs.

 Das Gedicht stellt eine einzige Anklage (Du-Botschaft) des lyrischen Ichs gegen den Mann in Form eines inneren Monologs dar.

3. Interpretation

Das lyrische Ich ist ein naives, junges, schüchternes, in der Liebe wohl noch sehr unerfahrenes Mädchen („Engelsfell“,Z.6), das erzählt, was ein Du mit ihm ‘angestellt’ hat und wie es ihm nun damit geht. In der 1.S. wird das Mädchen vom Du wohl lüstern „angeschaut“ (Z.1), so dass es dadurch erst Gesicht (Z.4) und Leben erhält und „2 Augen, mindestens einen Mund und die schönste Nase“(Z.3) bekommt. Diese übertriebenen Komplimente des Du über seine Schönheit bewirken, dass es sich „jetzt“ (Z.1) zum 1. Mal gesehen, aufgewertet und emporgehoben fühlt.

Jetzt plötzlich wird sich das lyrische Ich seiner Schönheit bewusst und nimmt die Welt mit seinen Augen selbstbewusst wahr und kann seine bisherige Schüchternheit ablegen. „Mindestens einen Mund“ bedeutet, dass es, um den Überschwang seiner Gefühle auszudrücken, nicht nur den Mund oder mehr als einen Mund bräuchte. Die fehlenden Satzzeichen unterstreichen dabei seine dauernden Gefühlsaufwallungen.

In der 2.S. wird das Mädchen vom Du „angefasst“ (Z.5), wodurch ihm statt Engelsflügel ein „Engelsfell“ (Z.6) wächst. Diese zentrale Metapher (auch Neologismus + Oxymoron) besteht aus Engel und Fell u. zeigt seine gegensätzlichen Gefühle. Als Engel wäre es wunderschön, makellos, heilig, unverletzbar. Fell dient dagegen zum Schutz (vor dem zudringlichen Du) und wächst einem Tier, als das es sich vom Du wohl behandelt fühlt. Es braucht ein Fell da, wo das Du es beschwert (Z.7), belastet, belästigt. Auch meint es mit dem schönen Fell wohl sein Äußeres, das das Du allein interessiert.

In der 5-zeiligen 3. u. längsten S. wird es als Höhe- und Wendepunkt der Liebesbeziehung vom Du „geküsst“ (Z.8). Es fühlt sich aber nicht im märchenhaften Schlaraffenland, da ihm „die gebratenen Tauben“ nicht in den Mund, sondern „nur so ausm Maul“(Z.10f.) fliegen, womit es das Unromantische, Vulgäre und einseitige Ausnutzen durch das Du meint. Die tierisch-animalische („Maul“) Vorgehensweise des Mannes findet es abstoßend und ekelhaft. Das Mädchen erhält bzw. empfängt nichts (anders als es erhofft hat, da es sich anfangs wie im Märchen bzw. im Schlaraffenland fühlt), sondern muss im Gegenteil ganz viel von sich geben und fühlt sich dadurch ausgenutzt. Dies entlockt dem Mädchen den wehmütigen Zeufzer „ach“, da nur er etwas davon hat („du tatest dich gütlich“, Z.12). Sie empfindet keine Lustgefühle beim Liebesakt, den sie nur passiv erleiden muss.

Werden die Vorstellungen des Ichs von der 1.-3. S. immer irrealer, sieht es „jetzt“, da das Du es bereits „vergessen“ (Z.13), nicht nur verlassen hat, die Beziehung in der 4. u. kürzesten S. (Hinweis auf das abrupte Verlassen) realistisch. Auch die Kürze der einzelnen Zeilen (Z.14-16) ist Ausdruck ihrer Hilf- und Sprachlosigkeit. Es steht da, „allein“(Z.16), verloren, nur ausgenutzt, hat das Gefühl, als ob man es ‘vergessen’ könne, und fragt sich, was es ohne das Du, in den es all seine Liebe und Träume investiert hat, „mit all dem Plunder“ anfangen solle.

All das, was es sich vom Du erhofft und gewünscht hat, all die liebevollen Gefühle des Mädchens, sind für das lyrische Ich jetzt wertloses Zeug.

Die Frage am Ende ist nicht nur rhetorisch zu verstehen (Antwort: gar nichts!), sondern auch ein Impuls, daraus für die Zukunft die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Es hat immerhin erkannt, dass alle Komplimente u. männlichen Liebesbeteuerungen, aber auch ihre ganzen Gefühle bezüglich ihrer romantischen Beziehung wertloser Plunder sind. Sie muss jetzt selbst sehen, wie sie mit diesen enttäuschten und verletzten Gefühlen zurechtkommt.

Der Titel „Angeschaut“ spiegelt die Illusionen, aber auch Enttäuschungen des lyrischen Ichs wider, das vom Du nur auf seinen Körper reduziert wurde.

4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These bezüglich des lyrischen Ichs als naives, junges Mädchen, das die übertriebenen Blicke und Komplimente eines Du bezüglich ihres Äußeren als wahre Liebe fehlinterpretiert und sich am Ende allein, verloren, ausgenutzt und vergessen fühlt. Ulla Hahn, die hier sicher auch eigene Erlebnisse mit einbezieht und so verarbeitet, möchte aber auch dazu auffordern, nicht nur passiv auf Handlungen anderer zu reagieren und diese zu erleiden, sondern selbst aktiv zu werden und endlich selbstbestimmt zu handeln.

Gerade die als Zielgruppe hier bes. angesprochenen jüngeren Frauen sollten vorsichtig sein und nicht auf Männer hereinfallen, die ihnen Komplimente machen, die allein auf ihr Äußeres Bezug nehmen. Das Thema ist zeitlos gültig, da der Wunsch von Mädchen nach der wahren Liebe und die Projektion ihrer Liebe auf ihren Freund sie oft blind werden lässt für die z.T. oberflächlichen u. banalen männlichen Absichten.

Das Andauernde „du hast mich“ ist nicht nur eine andauernde Anklage gegen den Mann, sondern drückt auch die enttäuschten Gefühle des Mädchens aus („du ‘hasst’ mich“), da es sicher meint, dass er es sehr hassen müsse, wenn er es nicht nur verlässt, sondern sogar vergisst. In Wahrheit ist es der eigene Hass des Mädchens, der aus dieser enttäuschten Liebe resultiert. Vielleicht sollte das lyrische Ich, statt voller Selbstmitleid den Mann dauernd mit „du hast (hasst) mich“ anzuklagen, selbstbewusst sagen: Du kannst mich mal!

4. Ulla Hahn: Bildlich gesprochen (1981)

       Wär ich ein Baum ich wüchse

       dir in die hohle Hand

       und wärst du das Meer ich baute

       dir weiße Burgen aus Sand.

   5  Wärst du eine Blume ich grübe

       dich mit allen Wurzeln aus

       wär ich ein Feuer ich legte

       in sanfte Asche dein Haus.

       Wär ich eine Nixe ich saugte

10   dich auf den Grund hinab

       und wärst du ein Stern ich knallte

       dich vom Himmel ab.

1. Überblicksinformation

In dem Gedicht „Bildlich gesprochen“ (1981) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um die Vorstellungen des lyrischen Ichs von unbedingter, rein subjektiver Liebe zu einem fiktiven Du.

Während die ersten 2 Bilder zu Beginn noch eine gewisse Vertrautheit in der Beziehung widerspiegeln, gewinnen ab der 2. Strophe Metaphern des Besitzergreifens und der Zerstörung durch das lyrische Ich die Oberhand, wobei die 3. Strophe in eindeutige Vernichtungsfantasien gegenüber dem fiktiven Du mündet.

2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 3 Strophen zu je 4 Versen, wobei sich jeweils die 2. und 4. Zeile jeder Strophe reimen. Während in der 1. Strophe das Reimpaar „Hand“ u. „Sand“ noch mit positiven Assoziationen verbunden ist, deuten die 2 weiteren Reimpaare „Haus“ u. „aus“ sowie „hinab“ u. „ab“ auf die zunehmend negativere Entwicklung hin.

Die Reime erzeugen Wohlklang und Harmonie und bilden einen starken Kontrast zu den immer größeren inhaltlichen Ungereimtheiten u. Gewaltfantasien des lyrischen Ichs. Es ist in 3 Teile gegliedert, was auch durch den Punkt als einziges Satzzeichen am Ende jeder Strophe deutlich wird. Die Inversion (Z.8) verstärkt noch die Wirkung von Zeilensprung u. Euphemismus („sanfte Asche“).

Syntaktisch auffällig ist der symmetrische Satzbau jeder Strophe (NS,HS,NS,HS), was einen rhythmischen Gleichklang erzeugt. Die Anaphern sind jedoch nur in der 1. u. 3. Strophe in der gleichen Reihenfolge angeordnet (wär ich / ich – wärst du / ich). In der 2. Strophe jedoch folgt auf das Du ein 3-maliges Ich, wodurch die 1. und 3. Strophe eine formale Klammer des Gedichts bildet. Auch die überraschenden Enjambements in jeder 2. Zeile einer Strophe verdeutlichen den parallelen Aufbau. Außer 2 Alliterationen in der 1. Strophe (Z.2,3) fallen die 6 sprachlichen Bilder (je 3 für das lyrische Ich: Baum, Feuer, Nixe – und je 3 für das fiktive Du: Meer, Blume, Stern) in jeder Strophe auf, wobei diese nicht ungewöhnlich sind, wohl aber deren Kombination mit den folgenden Metaphern („wüchse dir in die hohle Hand“, Z.1f.; „legte in sanfte Asche dein Haus“,Z.7.f.; „saugte dich auf den Grund hinab“,Z.9f.; „knallte dich vom Himmel ab“,Z.11f.). Das Unwirkliche bzw. die (unerfüllten bzw. unerfüllbaren) Wünsche des lyrischen Ichs werden durch den durchgängigen Konjunktiv ausgedrückt. Die letzte Zeile ist die kürzeste, was das unwiderrufliche Ende des Gedichts bzw. der immer destruktiveren Fantasien des lyrischen Ichs anzeigt. Es handelt sich um einen reinen inneren Monolog, wobei auch die Hinwendung zum Du (nur NS, d.h. untergeordnete Rolle) und die Kommunikation mit ihm nur aus der subjektiven Perspektive des lyrischen Ichs (auch HS, daher wichtiger, also Hauptrolle) erfolgt. Auch die Verteilung der Verben (nur Hilfsverben für das fiktive Du) unterstreicht dies.

3. Interpretation

Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eindeutig eine Frau („Nixe“, Z.9). In der 1.Strophe stellt sie sich vor, wie sie noch scheinbar liebe- u. vertrauensvoll mit dem lyrischen Du zusammen leben könnte („ich wüchse dir in die hohle Hand“, Z.1f.). Sie ist in Gedanken ein Baum (langlebig, standfest), der in der Hand des Geliebten wächst, so dass er alles mit der Frau machen kann. Vielleicht symbolisiert das Wachstum auch die ersehnte wachsende Liebe zum geliebten Partner. Auch in der 3. u. 4. Zeile spricht sie ihm ihr Vertrauen aus („und wärst du das Meer ich baute dir weiße Burgen aus Sand.“, Z.3f.). Daher muss sie dem Meer, dem unendlich geliebten Du, vertrauen. In dieser scheinbar romantischen Liebeserklärung verbirgt sich jedoch bereits eine vergängliche und einengende Tendenz, da das Meer durch die Burgen in die Schranken gewiesen wird. Der Sand jedoch wird meist durch das Meerwasser hinweggespült, was die fehlende Beständigkeit dieser Liebe andeutet. Die positive, dem fiktiven Du zugewandte Grundstimmung der 1.Strophe wird noch durch das zweimalige „dir“ (d.h. für dich) verstärkt, das in der 2. und 3. Strophe fehlt.

In der 2.Strophe verwandelt sich die Liebe in Eifersucht und Hass („Wärst du eine Blume ich grübe dich mit allen Wurzeln aus“, Z.5f.). Eine Blume kann, ohne in der Erde zu stehen, nicht weiter wachsen und geht langsam ein. Das lyrische Ich will dem Geliebten so den Halt nehmen. Die zerstörerische Eifersucht spiegelt sich auch in den folgenden Zeilen wider („wär ich Feuer ich legte in sanfte Asche dein Haus.“, Z.6f.). Das Adjektiv „sanft“ mildert das Tod bedeutende Nomen „Asche“ nur scheinbar ab. Haus steht zwar für Geborgenheit und Schutz sowie andere Personen und Freunde, die zu Besuch kommen. All das jedoch will das lyrische Ich dem Geliebten nehmen. Das Wort Feuer kann hier auch für die leidenschaftliche Wut des lyrischen Ichs stehen. Es ist aber sein Haus, das nur ihm gehört und in das er sich zurückziehen und damit der Frau entziehen kann.

Das Du ist nur mit nominalen Wendungen bedacht, denen zwar eine gewisse Ausdruckskraft und Bewegung innewohnt (Meer = Unendlichkeit, Blume = Schönheit, aber verblühend und vergänglich, Stern = leuchtend, aber unerreichbar), die jedoch kein eigenes Willenshandeln (nur Objekt) ausdrücken. Im Verlauf des Textes offenbart das lyrische Ich dem begehrten Du ein Grundgefühl von Zuneigung, das in 6 Bildern (je 2 in jeder Strophe) zum Ausdruck gebracht wird. Dabei gehören die 4 Bilder der ersten 2 Strophen aufgrund wichtiger Gemeinsamkeiten zusammen.

Die Bilder 1 und 3 beziehen sich auf den Pflanzenbereich (Baum, Blume), die Bilder 2 und 4 auf die Naturgewalten (Wasser – mit Bezug zum 5. Bild = Nixe – und Feuer und deren Wirkungen). Das 6. Bild (Stern) steht völlig für sich – unerreichbar. Im Anfangsbild vertraut sich das lyrische Ich im übertragenen Sinne dem Du zuversichtlich an, indem es sich – in Gestalt des aufwachsenden Baumes – wörtlich in seine Hände gibt, wobei es unausgesprochen an seine Bereitschaft zu stützender, pflegender Behandlung appelliert und zugleich den anderen dadurch bindet.

Hinein spielt auch die Wirkung, die vom 3. Bild ausgeht und auf den Anfang zurückstrahlt. Das Ausgraben und Heimtragen der Blume setzt ebenso die Sorge um das weitere Gedeihen voraus, diesmal in umgekehrter Rollenverteilung. Das „mit allen Wurzeln“ (Z.6) signalisiert die Behutsamkeit, mit der jede Beschädigung des anderen Wesens vermieden werden soll. Aber das Bild drückt auch einen der Liebe eigenen Besitzwillen aus.

Die Folgebilder 2 und 4 lassen die positiven Deutungen der Liebe nicht mehr zu. Zwar suggeriert das Errichten weißer Sandburgen im 2. Bild die Vorstellung, dass das Ich dem begehrten Du Freude bereiten will, aber genau genommen dienen die Sandburgen am Strand den Meereswellen zum Spiel der Zerstörung. Das Bild drückt also auch die Bereitschaft des liebenden Ichs zur Preisgabe des eigenen Selbst aus. Diese Auslegung bestätigt sich beim Blick auf das 2.Bild der 2.Strophe, das auffällige Parallelen besitzt. Dort formuliert das lyrische Ich im Gleichnis vom Verbrennen des Hauses den Wunsch, den Partner zur Aufgabe des in sich abgeschlossenen Selbst-Seins zu zwingen.

Dass diesem Bild etwas Gewaltsames, Bedrohliches anhaftet, wird schon durch die Bezugnahme auf die Naturgewalt deutlich. Das Feuer gilt ja als traditionelles Symbol für Liebesleidenschaft und deutet zugleich Gefahr an. Durch die versöhnliche Formulierung „sanfte Asche“ wird das nur wenig gemildert. Allerdings wirkt die Forderung, alle ich-bezogenen, abgeschlossenen Daseinsformen zu Gunsten von Gemeinsamkeit aufzugeben, unausgesprochen in jede Liebesbeziehung hinein.

Schließlich beschreibt das lyrische Ich in der 3.Strophe, wie es das lyrische Du töten würde. Hier ist die Eifersucht schon soweit fortgeschritten, dass es den Geliebten bei sich haben will, egal was das für ihn bedeutet, auch wenn es ihm dabei Schaden zufügt („Wär ich eine Nixe ich saugte dich auf den Grund hinab“, Z.9f.). Die Nixe, das Lyrische Ich, will den Geliebten bei sich haben, egal ob er dabei ertrinkt. Bewusst wird das normalerweise bei Nixen verwendete verführerische ‘hinablocken’ durch ‘hinabsaugen’ ersetzt. Das Du wird jeder freien Wahl- oder Widerstandsmöglichkeit beraubt. Damit gerät der Liebesbegriff hier endgültig unter die Vorherrschaft gewaltsamer Inbesitznahme: Das lyrische Ich will um jeden Preis, auch um den der Zerstörung, mit dem geliebten Du vereint sein. Als äußerste Zuspitzung bleibt somit im letzten Bild nur noch die Auslöschung. Der Geliebte, ein unerreichbarer Stern, muss vernichtet werden, wenn er denn nicht zu gewinnen ist. Das Böse, zu dem die Liebe entarten kann, wird in den Schlusszeilen an exponierter Stelle formuliert.

Auch in den letzten beiden Zeilen wird der Egoismus deutlich („und wärst du ein Stern ich knallte dich vom Himmel ab.“, Z.11f.). Die Nixe, das friedvolle und schöne Lebewesen, ertränkt eine Person. Und auch der Stern, weit weg und unerreichbar, wird vom Himmel „geknallt“ und ist ganz nah.

Das lyrische Ich wurde von ihrer Liebe enttäuscht und hat sich durch das „Ermorden“ des Geliebten von der Liebe, die keine Zukunft hat, befreit. „Hinabsaugen „abknallen“ – in diesen Verben drückt sich die zerstörerische, feindselige Haltung des Ichs aus. In den beiden Schlussbildern der 3. Strophe bekommt das Moment der Gewalt in der Liebe eine alles überragende Bedeutung. Die Fixierung auf das geliebte Du steigert sich bis zum Vernichtungswunsch. Das zeigt sich in der Wortwahl, deren Brutalität den Bildern eine erschreckende Härte verleiht.

Liebe ist hier keine Idylle. Die Aussagen des lyrischen Ichs sind auch als radikales Bekenntnis zu seinem Gefühl verstehen. Das Subjekt fordert von sich u. vom Du vorbehaltlose Hingabe für die Verwirklichung der Liebe, die Verschiedenheit oder Trennung nicht erträgt. Das Ich orientiert sich in der Beziehung zum Partner nur an seinen eigenen Ansprüchen u. nimmt das Objekt`des Verlangens als eigenständiges Ich nicht wahr. Somit trägt diese Liebe deutliche Züge von Selbstsucht u. Gewaltsamkeit.

Der Titel „Bildlich gesprochen“ zeigt die Radikalität dieser Liebe, die nicht durch einfache Worte, sondern nur bildhaft ausgedrückt werden kann.

Die Metaphern ersetzen hier die Gefühle (totale Hingabe, Liebe, Wut, Enttäuschung etc.), die die Frau nur indirekt auszudrücken vermag.

4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These bezüglich der Vorstellungen des lyrischen Ichs von unbedingter, rein subjektiver, selbstsüchtiger besitzergreifender Liebe, die am Ende in Vernichtungsfantasien gegenüber dem Du mündet.

Möglicherweise hat Ulla Hahn hier eine eigene vergangene, nicht erfüllbare Liebe verarbeitet, die dann in Hass umschlug. Vielleicht möchte sie an die vorwiegende Zielgruppe der Leserinnen appellieren, sich der Gefahren der unbedingten Liebe bewusst zu werden, die etwas Zerstörerisches, Gewaltsames an sich hat, da sie so nie zu verwirklichen ist. Eventuell ist es auch ein Versuch, sich durch die gedankliche Tötung des Geliebten von ihm zu befreien.

Liebe zwischen 2 Partnern ist das zentrale – mit Urgewalt plötzlich auftretende – Ereignis im menschlichen Leben und muss von jeder/jedem für sich neu entdeckt werden – mit all seinen wunderbaren wie abgründigen und (selbst-)zerstörerischen Seiten.

5. Ulla Hahn: Ich bin die Frau (1983)

       Ich bin die Frau

       die man wieder mal anrufen könnte

       wenn das Fernsehen langweilt

       Ich bin die Frau

   5  die man wieder mal einladen könnte

       wenn jemand abgesagt hat

       Ich bin die Frau

       die man lieber nicht einlädt

       zur Hochzeit

10   Ich bin die Frau

       die man lieber nicht fragt

       nach einem Foto vom Kind

       Ich bin die Frau

       die keine Frau ist

15   fürs Leben.

1. Überblicksinformation

In dem Alltagsgedicht „Ich bin die Frau“ (1983) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um eine Frau, die darüber nachdenkt, welche Bedeutung sie im Leben anderer hat, wie sie auf andere wirkt, wie sie sich selbst sieht und welchen Stellenwert sie als Frau in der Gesellschaft um 1980 einnimmt.

Sie scheint unter einem Mangel an Zuwendung und dauerhaften sozialen Kontakten zu leiden, so dass sie am Ende resignierend oder nüchtern feststellend ihr (traditionelles) Frausein und ihre Eignung für eine Lebenspartnerschaft verneint.

2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 5 Strophen zu je 3 Zeilen, wobei die Zeilen zum Ende hin immer kürzer werden.

Es ist in 3 Teile gegliedert. Die ersten 2 Strophen formulieren scheinbar positiv ihre Wünsche („könnte“, Z.2,5), während die 3.+4. Strophe sich damit befasst, was „man lieber nicht“ (Z.8,11) in Bezug auf sie tun sollte.

In der 5. Strophe zieht sie daraus ihr mit Punkt verstärktes persönliches Fazit („keine Frau ist“ – „fürs Leben.“, Z.14f.).

Das Gedicht weist weder ein klares Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen eher unharmonischen, abgehackten Eindruck hinterlässt. Jedoch werden durch die Anaphern zu Beginn jeder Strophe („Ich bin die Frau die“, Z.1,4,7,10,13) und die Parallelismen (gleicher Satzbau: HS,NS,NS in 1.+2. Strophe und HS,NS in 3.-5. Strophe) ein rhythmischer Gleichklang erzeugt, der jedoch eher eintönig und langweilig wirkt und nur durch Zeilensprünge und Inversionen 3.-5. Strophe, jeweils 2. und 3. Zeile) unterbrochen wird. Außer dem Punkt am Ende des Gedichts gibt es keinerlei Interpunktion, so dass die einzelnen Strophen nicht für sich stehen, sondern die von Strophe zu Strophe ununterbrochen steigende Resignation der Frau unterstreichen. In Z. 13 und 14 gibt es ein scheinbares Paradoxon, das die Schlusspointe in Z.15 vorbereitet.

3. Interpretation

Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eine Frau, die wohl darunter leidet, kaum angerufen zu werden (Z.1). Darauf deuten der Konjunktiv („könnte“) und das sehr vage “man wieder mal“ (Z.2) hin, was bedeutet, dass es ihr letztlich egal ist, wer anruft, Hauptsache, es ruft sie überhaupt irgendjemand an, wobei das „wieder mal“ die Seltenheit eines Anrufs unterstreicht. Dieses „man“ repräsentiert zugleich die Außensicht, d.h. für sie steht im Vordergrund, was andere von ihr denken. Die 3. Zeile der 1.Strophe verdeutlicht ihre geringen Erwartungen an die Motivation des/der AnruferIn, da sie glaubt, dass dies nur dann geschieht, wenn z.B. das Fernsehen langweilt. Sie setzt damit voraus, dass diese/r kein wirkliches Interesse an ihr hat und sie nur – wenn überhaupt – 2. Wahl ist.

Die 2. Strophe folgt dem gleichen Muster, geht aber inhaltlich über die 1. Strophe hinaus. Sie möchte sicher auch gerne – von wem auch immer – nicht nur angerufen, sondern auch eingeladen werden. Der abermalige (wohl eher irreale) Konjunktiv („könnte“) und das unbestimmte “man wieder mal“ (Z.5) deuten gleichfalls auf die Unerfülltheit auch dieses Wunsches hin. Ihr ist bewusst, dass dies kaum oder nicht geschieht – und wenn, dann nur als Lückenbüßerin für den Fall der Absage einer/s anderen.

Daraus zieht sie in der 3. u. 4. Strophe insofern wohl resignierend die Konsequenzen, als sie gar nicht mehr die vage Möglichkeit einer Kontaktaufnahme in Betracht zieht, sondern nur noch für sich begründet, warum man sie „lieber nicht einlädt“ (Z.8) oder einladen sollte(?!).

Recht überraschend folgt dann „zur Hochzeit“ als Zeilensprung und Inversion (s.o.). Diese Inversion (eigentlich müsste es heißen: … die man lieber nicht zur Hochzeit einlädt) führt zur Pointe, was wie eine Rechtfertigung für fehlende Einladungen klingen könnte. Vielleicht glaubt sie, nicht die richtige Person für solche Art von Einladungen zu sein. Oder drückt sich hierin doch der uneingestandene Wunsch nach einem glücklichen Leben (Heirat) aus? Vielleicht möchte sie aber auch „lieber nicht“ (Z.8) mit einer Hochzeit in Verbindung gebracht werden.

In der 4.Strophe folgt eine Steigerung gegenüber der 3. Strophe, da sie jetzt sogar nach einem weiteren Grund dafür sucht, weshalb man sie „lieber nicht fragt“ (Z.9). Zunächst könnte man denken, dass vielleicht niemand etwas von ihr wissen will. Damit nähme „man“ Rücksicht auf ihren bemitleidenswerten Zustand, der nicht zu so einem Lebensglück verheißenden Fest wie einer Hochzeit passt. Vielleicht ist aber auch ihre (unbequeme, unkonventionelle) Antwort bzw. Art bekannt und nicht erwünscht (?!).

Diese Vermutungen werden durch das 2. Enjambement und die 2. Inversion (eigentlich müsste es heißen: … die man lieber nicht nach einem Foto vom Kind fragt) wieder mit einer überraschenden Pointe aufgelöst. Dieses ungewöhnliche Ende der 4.Strophe wirft mehrere Fragen auf:

Weshalb glaubt sie, dass sie niemand danach fragen wird/sollte? Hält sie sich nicht für interessant genug? Glaubt sie, dass Männer fürchten, dass sie Kinder habe oder (Frauen?) ihr es nicht zutrauen? Meines Erachtens steht in Z. 12 bewusst „vom Kind“ (und nicht: von einem/meinem Kind).

Wenn sie ein Kind hätte und stolz darauf wäre oder aber kein Kind haben möchte, stünde hier wohl eine eindeutige Formulierung. Auf jeden Fall weist dies auf mangelndes Selbstwertgefühl der Frau hin.

Vermutlich drückt sich in dieser Uneindeutigkeit ihr innerer Zwiespalt aus: Sie weiß oder fürchtet, dass sie keiner nach einem solchen Foto fragen wird/möchte/sollte (weil das an einem wunden Punkt in ihrem Leben rühren könnte?!), weiß aber auch, dass ein Kind (wie auch die Hochzeit!) durchaus zu einer Frau im traditionellen Sinne gehört.

Vermutlich repräsentieren Einladungen, Hochzeit und Kind (Z.5,9,12) Stationen eines konventionellen Lebens einer Frau, die sie nicht ist, aber wohl vielleicht doch (wenn auch nur uneingestanden) sein möchte.

In der 5. Strophe sind die Verse deutlich kürzer, Zeichen ihrer Resignation. Sie zieht hier für sich die radikale Konsequenz, dass sie (als Frau) einfach keine Frau ist. Dieses (scheinbare) Paradoxon zeigt, dass sie sich durchaus an dem traditionellen Frauenbild misst, was zur damaligen Zeit (um 1980) zwar schon durch Gesetzgebung (verändertes Ehe- u. Familienrecht seit 1977) als staatliches Leitbild aufgehoben war, jedoch noch in den meisten Köpfen (nicht nur der Männer!) verankert war – und leider nicht selten noch ist! Auch das 3. Enjambement und die 3. Inversion (eigentlich müsste es heißen: … die keine Frau fürs Leben ist.) führt zu der Schlusspointe, dass sie als Frau nicht „fürs Leben“; Z.15), d.h. für eine dauerhafte Partnerschaft (im traditionellen Sinne) geeignet ist. Diese nüchterne, emotionslose Bestandsaufnahme klingt sehr nach Einsamkeit, Verzweiflung, Selbstaufgabe. Sie sehnt sich wohl nach dauerhafter Liebe zu einem Mann anstelle von kurzfristigen Affären, bei denen sie nur die Rolle einer zeitweiligen Ersatzfrau (bestenfalls: Lebensabschnittsgefährtin) spielen darf.

Diese traurige Grundstimmung des Gedichts wird noch durch fehlende Metaphern und die betont nüchterne, schnörkellose, ganz alltägliche Sprache verstärkt, die vielleicht darauf hindeutet, dass zumindest ihre momentane Stimmung (oder gar ihr Leben?) eher trist, einfach oder langweilig ist. Man erfährt kaum etwas über das lyrische Ich. Es wird nur aufgezählt, was nicht passiert und was sie nicht ist, aber nicht, wer oder wie sie tatsächlich ist. Die Verneinungen erzeugen ein Bild der Unzufriedenheit und bieten kaum Anhaltspunkte, um das lyrische Ich anders als eine abgelehnte, ausgestoßene, nicht erwählte Frau zu sehen. Die Frau scheint resigniert zu haben, sie unternimmt offenbar nichts, um den beschriebenen Zustand zu ändern, sondern berichtet lediglich davon. Sie spricht nur von Dingen, die andere nicht tun, sagt aber nichts darüber aus, was sie selbst unternimmt. Sie setzt also der Resignation, die sich in den vielen verneinten Sätzen ausdrückt, nichts entgegen, sondern nimmt die Gegenwart einfach hin.

So wird das Gedicht zum Ausdruck einer enttäuschten Frau, die sich nicht aktiv mit ihrer Unzufriedenheit auseinandersetzt, sondern diese nur passiv durchleidet. Um 1980 hätte eine Frau durchaus zahlreiche Möglichkeiten gehabt, die Leere ihres Lebens selbständig zu überwinden, da sie nicht mehr nur an Haus und Mann gebunden war.

Ihr offensichtlicher Mangel an Fantasie oder Kreativität wird noch durch die Gleichförmigkeit des Aufbaus (s.o.) verdeutlicht. Im gesamten Gedicht kommen nur 2 Pronomen vor: das persönliche Fürwort „ich“ und das unbestimmte Pronomen „man“. Zunächst einmal kann man daraus schließen, dass die Frau von den anderen abgegrenzt ist. Es wird eine Distanz aufgebaut, die auch das Gefühl der Unbeliebtheit der Frau widerspiegelt.

Ihre Suche nach Aufmerksamkeit zeigen schon der Titel „Ich bin die Frau“ und die Wiederholung als Anapher in jeder Strophe. Auch wird nur das Wort „Ich“ als einziges am Zeilenanfang groß geschrieben, was zeigt, wie wichtig sie sich selbst nimmt. Dies könnte auch ein indirekter Hinweis darauf sein, dass sie als Konsequenz sich ihrer selbst durchaus bewusst ist und zu ihrer Entscheidung, keine traditionelle Frau für ein herkömmliches Leben (Heirat, Kind) zu sein, steht. Vielleicht möchte sie mit der 3.-5. Strophe („lieber nicht“, „keine Frau ist fürs Leben“; Z.8,11,14f.) auch andere Männer warnen, sich mit ihr einzulassen, weder als kurze Affäre, noch als traditionelle Ehe- oder Hausfrau.

4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These in der Einleitung bezüglich der resignativen Grundstimmung des Gedichts. Es enthält aber manche Unbestimmtheiten, die Ansätze selbstbewussteren Verhaltens der Frau erkennen lassen. Vielleicht hat Ulla Hahn als damals 35-jährige selbst solche zwiespältigen Stimmungen gehabt und durchlitten. Somit könnte das Gedicht auch ein Aufruf an Leserinnen als der Hauptzielgruppe sein, sich mit Personen in ähnlicher Lage mehr zu befassen. Die Unsicherheit bezüglich der Geschlechterrollen ist auch – und gerade heute noch – aktuell und ein zeitloses Problem. Heute würde die Verneinung der traditionellen Geschlechterrollen sicher sehr viel selbstbewusster formuliert werden.

Mir hat die Einfachheit des lyrischen Textes sehr gut gefallen, der immer noch gültig ist und vielfältigen Interpretationsansätzen breiten Raum lässt.

6. Ulla Hahn: Keine Tochter (1983)

       Ja der Kuchen ist gut – Ich habe

       nie gern Süßes gegessen – Ich esse

       gern noch ein Stück

       Nein mir geht es nicht schlecht.

  5   Viel Arbeit. Ja. Älter werde ich auch.

       Noch kein Mann? Nein kein Mann.

       Vorm Eigenheim mit Frau und Kind

       des Sohnes wuchs der Ableger

       von der Clematis vorm Elternhaus an.

10   Überm Fernsehen schläfst du ein.

       Dein Kopf sackt nach vorn deine Schulter

       auf meine. Ich halte still.

       Näher kommst du mir nicht.

       Ich bin dir wie vor meiner Zeugung

15   so fern. Verzeih ich möchte

       auch keine Tochter haben wie mich.

1. Überblicksinformation

Im Alltagsgedicht „Keine Tochter“ (1983) von Ulla Hahn aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um eine Tochter, die sich mit der Beziehungskälte von und zu ihrer Mutter, ihrer als mangelhaft empfundenen Tochterrolle und ihrem negativen Selbstbild auseinandersetzt.

In dem kurzen Dialog der ersten 2 Strophen antwortet die Tochter abwehrend auf die lästigen, stereotypen Fragen ihrer Mutter. Als diese vorm Fernseher einschläft und sich bei ihr anlehnt, spürt sie trotz körperlicher Nähe große Distanz zwischen ihnen und stellt am Schluss fest, dass sie auch keine solche Tochter wie sie haben möchte.

2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 5 Strophen zu meist je 3 Zeilen. Nur die 5. Strophe hat 4 Zeilen. Es ist in 3 Teile gegliedert. Die ersten 2 Strophen geben einen Ausschnitt aus einem Dialog zwischen Tochter und Mutter wieder.

In der 3.Strophe geht es um das konventionelle Leben des Sohnes bzw. Bruders. Die 4. und 5.Strophe dreht sich erneut um die Tochter-Mutter-Beziehung, wobei die distanzierten Gedanken und Gefühle sowie die Unsicherheit der Tochter bezüglich ihrer Rolle thematisiert werden.

Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime auf, was einen unharmonischen, abgehackten, gehetzten Eindruck hinterlässt und durch Ellipsen besonders in der 2. Strophe und nicht gesetzte Kommas (Z.1, 4, 6, 11, 15) verstärkt wird.

Auch die fehlenden Alliterationen zeigen mangelnden Wohlklang bzw. Harmonie zwischen Mutter und Tochter.

Der parataktische Satzbau (nur HS) erzeugt einen rhythmischen Gleichklang, der eher eintönig und langweilig wirkt, jedoch durch einen komplexen HS (3. Strophe) sowie durch überraschende Zeilensprünge in den Strophen (außer der 2.) und Inversionen (3.-5. Strophe) unterbrochen wird. 2 verkürzt wiedergegebene Fragen der Mutter (Z.5,6) verdeutlichen das Dialogische der ersten 2 Strophen.

Ein Paradoxon in der 1.Strophe zeigt den Widerspruch zw. den Antworten u. Gedanken der Tochter. Neben Anaphern (Z.1f., 1+5, 12+14f.), die dauernde Rechtfertigungsversuche der Tochter unterstreichen, u. einer Epipher, die die kurze, abwehrende Bestätigung der bohrenden mütterlichen Fragen hervorhebt (Z.6), gibt es wenige, nichtssagende Alltagsmetaphern („der Kuchen ist gut“,Z.1; „mir geht es nicht schlecht“,Z.4; „Dein Kopf sackt nach vorn“,Z.11) und ein symbolisches sprachlichen Bild, das sich auf das traditionelle Verhalten ihres verheirateten Bruders bezieht.

Der Vergleich („wie vor meiner Zeugung so fern“, Z.14f.), durch eine Inversion (s.o.) hervorgehoben, weist ebenfalls auf die schwierige Tochter-Mutter-Beziehung hin. Die Gedankenstriche geben hier die wahren Gedanken und Empfindungen der Tochter wieder. Außer in der 1.Strophe enden alle Strophen und Sätze mit einem Punkt.

Dies liegt daran, dass mit der 4. Zeile zwar die 1. Zeile der 2.Strophe beginnt (schwacher Strophensprung), aber zugleich ihre Antwort aus der 1.Strophe erst endet. Die letzte Strophe wirkt durch ihre Überlänge bewusst hervorgehoben und wirkt abschließend.

3. Interpretation

Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eindeutig eine Tochter, die wohl bei ihrer Mutter zu Besuch ist und distanziert-oberflächlich in der 1.Strophe deren selbst gebackenen Kuchen lobt („Ja der Kuchen ist gut“, Z.1). Ihre Empfindungen in Gedankenstrichen sind aber ganz konträr (Z.1f.) dazu, wobei zunächst unklar bleibt, ob die Mutter deren Abneigung gegen Süßes nicht kennt oder ignoriert. Aus lauter Höflichkeit nimmt sie sogar noch ein 2. Stück Kuchen von ihrer Mutter an, um diese nicht zu enttäuschen. Danach fragt die Mutter sie wohl direkt und wenig einfühlsam oder gar ehrlich besorgt nach deren Befinden.

Die wieder sehr floskelhaft-oberflächliche Antwort der Tochter zu Beginn der 2.Strophe, dass es ihr „nicht schlecht“ (Z.4) gehe, zeigt, dass sie ihrer Mutter nicht ihre wahren Gefühle mitteilen möchte. Ihr geht es nicht besonders gut, da sie sonst eine viel positivere Formulierung gewählt hätte.

Offensichtlich hat die Mutter keine gute oder intensive Beziehung zu ihrer Tochter, da sie sie lediglich nach ihrer Arbeit und einer festen Partnerschaft fragt (Z.5f.), wobei das lyrische Ich diese lästigen Fragen kurz und abwehrend beantwortet. Aus der Folge von „Nein – Ja – Nein“ ergibt sich die gespannte atmosphärische Wirkung des Dialogs. Die einzige Frage („Noch kein Mann?“, Z.6) enthält zugleich einen indirekten Vorwurf.

Der Bruder des lyrischen Ichs entspricht in der 3. Strophe wohl dem mütterlichen Ideal eines ‘Nachwuchses’ (Enkel!) viel eher, weil er ein „Eigenheim mit Frau und Kind“ (Z.7) hat. Das überraschende Enjambement („des Sohnes“, Z.8) betont die Wichtigkeit des männlichen Nachwuchses für die Mutter und drückt zugleich (auch mit der abwertenden Metapher „der Ableger“ (Z.8,) womit auch der Sohn gemeint ist) die Distanz des lyrischen Ichs zu seinem Bruder aus. Vielleicht ist das ihr immer wieder vorgehaltene brüderliche Vorbild das Trauma der Tochter?!

Der überraschende Wechsel von Tempus und Sprechweise sowie der komplex gebaute Satz mit mehreren präpositionalen Wendungen („vorm“, „mit“, „von“, „vorm“, wobei „vorm“ vor Eigenheim und Elternhaus dessen Verbundenheit u. Ähnlichkeit betont) deutet dies ebenfalls an.

Auch Clematis als Name für die an Hauswänden sich emporrankende Kletter- und Zierpflanze, von der es über 300 Arten gibt, passt sehr gut zum Bruder, der sich am Elternhaus orientiert, eine Zierde für die Mutter ist und als „Ableger“ genau so ist, wie die Mutter ihn sich wünscht. Zugleich symbolisieren die zahllos vorkommenden Arten der Clematis dessen Gewöhnlichkeit und fehlende Individualität bzw. Seltenheit.

Mit der 4. Strophe spricht das lyrische Ich wieder die Mutter an, nun aber eher in Gedanken: Die Mutter ist eingeschlafen. In den stillen Worten an die schlafende Mutter verbalisiert die Tochter ihr Gefühl völliger Beziehungslosigkeit und Ferne der Mutter gegenüber.

Dies zeigt auch deren Interesselosigkeit gegenüber ihrer Tochter, die wohl nicht sehr oft zu Besuch kommt. Der Kopf der Mutter „sackt nach vorn“ (Z.11), eine Metapher, die fehlende Lebendigkeit und emotionale Wärme der Mutter verdeutlicht. Schon die Tatsache, dass die Mutter fernsieht, zeigt, dass beide sich nichts mehr zu sagen haben. Zwar lehnt Mutters Schulter auf der ihrer Tochter (erneut unvermutetes Enjambement, Z.11f.), was die Anlehnungs- und Unterstützungsbedürftigkeit der Mutter unterstreicht und zeigt, dass das lyrische Ich in Wahrheit die Mutter trägt. Jedoch hält die Tochter lediglich still, d.h., sie hält – und erträgt die Mutter – nur still.

Auch jetzt in der 5. Strophe entsteht keine wirkliche Nähe. Dieser Zustand ist für das lyrische Ich „wie vor meiner Zeugung“(Z.14). Hierin drückt sich vielleicht der unbewusste Wunsch aus, nie gezeugt bzw. geboren zu sein. Die Tochter hat ein sehr geringes Selbstwertgefühl und leidet wohl so sehr unter der emotionslos-oberflächlichen Beziehung zu ihrer Mutter, dass sie am liebsten gar nicht auf der Welt sein möchte.

Durch die überraschende Pointe („so fern“, Z.15) durch Inversion mit Enjambement wird diese pessimistische Perspektive etwas entschärft, jedoch nicht entkräftet. Größer als „vor meiner Zeugung“ (Z.14) kann eine Distanz zwischen Mutter und Tochter eigentlich gar nicht mehr sein.

Die hastige (ohne Komma!) Entschuldigung am Schluss („Verzeih“, Z.15) klingt ebenso aufrichtig wie hilflos und resignativ. Es fragt sich, wofür das lyrische Ich die Mutter um Verzeihung bitten möchte. Dafür, dass die Tochter sie bitter enttäuscht hat, da diese sich anders entwickelt hat, als die Mutter wollte und für richtig hielt?! Oder hat sie sich viel zu wenig um ihre (einsame) Mutter gekümmert, die wohl verwitwet ist?!

Auf jeden Fall formuliert sie in der vorletzten Zeile zum 1. Mal einen Wunsch („möchte“, Z.15), der jedoch durch die Wendung und Schlusspointe in Form eines abschließenden Enjambements („auch keine Tochter haben wie mich“, Z.16), wieder nur offenbart, was sie nicht möchte.

Ob sie überhaupt eine Tochter haben möchte, bleibt zunächst unklar. Auf keinen Fall sollte sie aber so wie sie sein. Daraus lässt sich schließen, dass sie sich gar nicht zutraut, eine wirkliche Mutter mit einer richtigen (ihre Tochterrolle im positiven Sinne ausfüllenden) Tochter zu sein. Ihr negatives Selbstbild ist dermaßen übermächtig, dass ein/e „Ableger“/-in von ihr noch nicht einmal in ihrer Fantasie eine wünschenswerte Vorstellung ist.

Dies führt zurück zum paradoxen Titel des Gedichts, da sie als Tochter weiß, dass sie keine Tochter im herkömmlichen Sinne elterlicher bzw. mütterlicher Erwartungen ist. Sie bereut dies wohl offensichtlich und beneidet vielleicht insgeheim ihren Bruder, der genau diesem Idealbild entspricht. Zugleich zeigt sie große Distanz zu ihm und bezeichnet ihn als Sohn (ihrer Mutter) und nicht als Bruder. Auch zu ihrer Schwägerin und zu ihrem Neffen bzw. ihrer Nichte hat sie keine oder keine intensivere Beziehung („Frau u. Kind“, Z.7).

Vielleicht hat sie als Kind zu wenig Liebe erfahren (früher Tod des Vaters?), wobei ihr Bruder, wie in Familien durchaus üblich, die (meiste?) Zuwendung von der Mutter erhalten hat, was Enttäuschung und mangelndes Selbstwertgefühl der Tochter und ihre große Distanz zur Mutter erklären würde. Auch die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit „nie gern Süßes gegessen“ (Z.2) hat, dies aber wohl weder in ihrer Kindheit noch heute ihrer Mutter einzugestehen wagt und, um dies zu verheimlichen, noch ein Stück nimmt, zeigt, wie sehr sie – früher u. heute – ihre Gefühle unterdrückt und wie wenig sie sich beachtet und geliebt fühlt. Dies führt zwangsläufig zu Bindungs- und Beziehungsängsten („kein Mann“, Z.6) u. der Verdrängung von Gefühlen durch erhöhten beruflichen Einsatz („Viel Arbeit“, Z.5).

4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These der Einleitung bezüglich des negativen Selbstbildes der Tochter und ihrer großen Distanz zur Mutter, was offensichtlich durch deren mangelnde Liebe und geringes Verständnis wesentlich beeinflusst worden ist.

Vielleicht hat Ulla Hahn (geb. 1946) als Tochter selbst unter mangelnder Zuwendung gelitten. Somit könnte das Gedicht auch ein Aufruf besonders an die nicht selten in ähnlichen Konflikten stehende weibliche Leserschaft als Hauptzielgruppe sein, sich z.B. innerhalb der eigenen Familie stärker um gleichgewichtige Zuwendung und Verständnis für alle Familienmitglieder zu bemühen.

Die zentrale Bedeutung der Familie, besonders psychische Entwicklung und Selbstbild des einzelnen sowie die Übernahme positiver familialer Rollenmuster sind unbestritten, zeitlos gültig sowie die Basis jeder späteren erfolgreichen Partnerschaft und Familiengründung.

7. Ulla Hahn: Mit Haut und Haar (1981)

       Ich zog dich aus der Senke deiner Jahre

       und tauchte dich in meinen Sommer ein

       ich leckte dir die Hand und Haut und Haare

       und schwor dir ewig mein und dein zu sein.

  5   Du wendetest mich um. Du branntest mir dein Zeichen

       mit sanftem Feuer in das dünne Fell.

       Da ließ ich von mir ab. Und schnell

       begann ich vor mir selbst zurückzuweichen

       und meinem Schwur. Anfangs blieb noch Erinnern

10   ein schöner Überrest der nach mir rief.

       Da aber war ich schon in deinem Innern

       vor mir verborgen. Du verbargst mich tief.

       Bis ich ganz in dir aufgegangen war:

14   da spucktest du mich aus mit Haut und Haar.

1. Überblicksinformation

In dem Gedicht „Mit Haut und Haar“ (1981) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um die leidenschaftliche, aktive u. völlige Hingabe des lyrischen Ichs an ein geliebtes Du am Beginn einer auf Dauer angelegten Beziehung. Das lyrische Ich erleidet jedoch zunehmenden Persönlichkeitsverlust u. Selbstentfremdung als Folge der totalen Vereinnahmung und Dominanz durch den älteren Partner.

Nach völliger Selbstaufgabe des Ichs beendet dieser verächtlich die für ihn wertlose Beziehung.

2. Formale Analyse

(Das 4-strophige gereimte Gedicht (strenge Form des englischen Sonetts: 3 Quartette und ein 2-Zeiler) weist in der 1. + 2. Strophe einen harmonisch fließenden Sprachrhythmus auf, der zeigt, dass diese 2 Strophen auch inhaltlich zusammengehören. Sie unterscheiden sich jedoch bezüglich des Reimschemas (1.Strophe: Kreuzreim; abab; 2.Strophe: umarmender Reim: abba).

Wo dieser Sprachfluss in der 2.Strophe durch Dissonanzen gestört wird, lassen sich inhaltliche Unstimmigkeiten vermuten (Z.5: rhythmischer Bruch in der Versmitte – Satzschluss mit starker Zäsur).

Hier geschieht der gewaltsame Eingriff des Mannes in die Gefühlswelt der Frau; Derselbe formale Bruch (Z.7) unterstreicht die zerstörerische Selbstaufgabe der Frau, die „schnell“ geschieht, was die Kürze dieser Zeile verdeutlicht.

Mit der 3.Strophe (erneut Kreuzreim: abab) beginnt der 2. Teil des Gedichts, in dem der zunehmende Persönlichkeitsverlust und die Selbstentfremdung des lyrischen Ichs durch eine starke rhythmisch-syntaktische Zäsur im Versfluss nach „Schwur“ (Z.9: Motiv des widernatürlichen Selbstverrats) und der metrische Zwang zur ungewohnten Betonung von „Anfangs“(Z.9) den Rhythmus behindern und damit die innere Unbeholfenheit des lyrischen Ichs signalisieren.

Die 4. Strophe (3.Teil des Gedichts) schließt das Sonett ab, wobei der Paarreim (aa) ironischerweise die nicht zukunftsfähige Zweierbeziehung beendet. Der Doppelpunkt in Z.13 kündigt die bittere (logische?) Konsequenz der völligen Selbstaufgabe der lyrischen Ichs an: Ihr Partner macht der für ihn wertlosen Beziehung ein abruptes, mitleidsloses und sie demütigendes Ende.

Der Satzbau in der 1. + 2. Strophe ist gleichmäßig und weitgehend parataktisch (4HS + EI) und ab der 3. Strophe hypotaktisch, wobei in der 3.Strophe der NS an 2., in der 4.Strophe jedoch an 1. Stelle steht, was die Dreiteilung des Gedichts auch formal unterstreicht.

Von der 1. zur 2.Strophe kehrt sich die Reihenfolge des Ich und Du um (1. Ich – ich – du – du; 2. du – du, ich – ich). In der 3. u. 4. Strophe bleibt diese Reihenfolge gleich (3. ich – du, 4. ich – du, Z.11-14), was zeigt, wie stark diese 4 letzten Zeilen inhaltlich zusammengehören.

Eine Inversion (Z.8f.), 4 Zeilen- und Strophensprünge mit gleichzeitigem Satzende im Zeileninnern (Z.5,7.9,12) und eine Ellipse (Z.10) verdeutlichen den unharmonischen, abgehackten Eindruck des Gedichts, der durch Alliterationen (Z.3,6,14 ) und Anaphern (Z.1+3,5+12,7+11+14) jedoch abgemildert wird.

Ungewöhnliche sprachliche Bilder praktisch in jeder Zeile signalisieren die Intensität des Erlebens des lyrischen Ichs. Die zentrale Metapher „Mit Haut und Haar“(Titel und Z.14) bildet die äußere Klammer dieses Gedichts.

Die wenigen Satzzeichen (nur Punkte u. 1 Doppelpunkt) ermöglichen einen fließenden (auch strophenübergreifenden) Übergang zwischen den Zeilen und zeigen deren inhaltlichen Zusammenhang. Der Punkt nach Zeile 13 signalisiert, dass das Gedicht unvorbereitet und plötzlich endet. 2 Oxymora („sanftem Feuer“, Z.6; „schöner Überrest“, Z.10) unterstreichen das Widersprüchliche und Unmögliche dieser Beziehung.

3. Interpretation

Zu Beginn der 1.Strophe erfahren wir aus der typisch weiblichen Perspektive und Rückschau des lyrischen Ichs (eine Frau) von ihrer früheren Beziehung zu einem wohl älteren und sich vielleicht am Tiefpunkt befindenden Du („Senke deiner Jahre“, Z.1), die wohl anfangs von ihr bestimmt wird („Ich zog dich…“, Z.1), wobei sie ihm das Glück ihrer Liebe („meinen Sommer“, Z.2) und ihrer Lebensenergie schenkt. Ihr emanzipatorisches Handeln schlägt jedoch sehr schnell in Unterwürfigkeit um (Hundemetapher: „leckte dir die Hand und Haut und Haare“, Z.3), eine geradezu animalische Zärtlichkeit, wobei ihre Hingabe total ist (Titel: „Mit Haut und Haar“). Dennoch will sie Gleichrangigkeit zwischen ihnen beiden, indem sie sich treu zu bleiben verspricht („schwor dir ewig mein und dein zu sein“, Z.4). Dieses naiv überschwängliche Treueversprechen zeigt ihren unlösbaren Zwiespalt von Selbsthingabe und Selbstbewahrung.

Der fehlende Punkt in Z.2 unterstreicht die Atemlosigkeit des scheinbar endlosen Glücks. Auch suggeriert die zweifache Konjunktion „und“ die anfangs geglückte Balance zw. Eigenständigkeit u. Hingabe („mein und dein zu sein“, Z.4), wobei hier bereits ihre Hingabe an ihn an 1. Stelle steht. Diese vertrauensselige Hingabe birgt das mit dem am Anfang der Beziehung nicht bedachte Risiko des Selbstverlustes, der Selbsttäuschung und der Enttäuschung.

In der 2.Strophe wird die männliche Figur aktiv u, manipulativ („wendetest mich um“, Z.5), handelt besitzergreifend und gewaltsam („branntest mir dein Zeichen mit sanftem Feuer in das dünne Fell“, Z.5f.: Brandzeichen als Eigentumsmerkmal bei Tieren), wozu auch psychischer Druck gehört. Er scheint sie jetzt wie ein Tier zu behandeln und als sein persönliches Eigentum zu betrachten.

Zwar wendet er keine physische Gewalt an („sanftem Feuer“), jedoch nimmt er keine Rücksicht auf ihr „dünne(s) Fell“ (Z.7), d.h. ihre Empfindsamkeit und Verletzlichkeit. Er aber gibt nicht, er nimmt nur, und zwar die Partnerin nicht so, wie sie ist, sondern wie er sie haben will. Folge: Die Frau verliert ihr Selbstverständnis und entfremdet sich von ihren Wünschen („und schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen“, Z.7f.). Die Verben ‘ablassen’ und ‘zurückweichen’ signalisieren die Distanzierung der Frau vom eigenen Ich.

Übergangslos (strophenübergreifendes Enjambement) berichtet sie in der 3.Strophe, dass sie sich damit selbst verrät, indem sie ihren Schwur bricht (rechtliches u. moralisches Vergehen). Dies wird durch den abrupten Rhythmuswechsel in Z.9 unterstrichen.

Wehmütig erinnert sie sich noch bruchstückhaft („schöner Überrest“, Z.10) an ihr früheres Selbstwertgefühl und ihre Eigenständigkeit und ihre aufgegebene Identität. Allerdings ist sie schon total von ihm vereinnahmt und sich selbst entfremdet („Da aber war ich schon deinem Innern vor mir verborgen. Du verbargst mich tief.“, Z.11f.). Durch die Wortwiederholung (verbergen, tief verbergen) wird die Unentrinnbarkeit aus der Vereinnahmung betont, da dem eigenen Zurückweichen (Z.8) das gleichzeitige Verbergen durch den Partner entspricht.

In der 4.Strophe zieht das dominante und überlegene Du, das sich eigentlich beglückt und dankbar fühlen sollte, daraus die brutale und herzlose Konsequenz, dass es die durch ihr Verhalten wehrlos Gewordene und völlig von ihm Abhängige („Bis ich ganz in dir aufgegangen war“, Z.13) am Schluss fortwirft, wobei das pointierte Zusammentreffen von Höhepunkt (völlige Hin- und Selbstaufgabe der Frau) und unerwartetem Schluss den schockierenden Endpunkt der Beziehung verdeutlicht. Dies wird auch durch die fehlende Übereinstimmung von metrischer und natürlicher Betonung unterstrichen, ein Hinweis auf die vom lyrischen Ich als willkürlich empfundene Trennung, worauf auch die elliptische Abtrennung eines Satzteils aus der 12. Zeile hindeutet. Die Metapher in Z.13 („ganz in dir aufgegangen“) ist ein Bild für Ende einer eigenständigen Persönlichkeit der Frau und eine Anspielung auf die in Zeile 3 ausgesagte Totalität, aber mit umgekehrten Vorzeichen.

Das vollständige ‘Ausspucken‘ des lyrischen Ichs („mit Haut und Haar“, Z.14) kennzeichnet das Verächtliche des Vorgangs und die Radikalität der Trennung, wobei die Beendigung der Beziehung durch den Partner von der Frau als Verstoßensein empfunden wird. ‘Liebe` kann in einem solchen Rollenverhalten nicht zustande kommen. Zugleich ist mit diesem Verb (ausspucken, Z.14) die Assoziation des Überflüssigen, Überdrüssigen, Widerlichen für den Partner bzw. der Demütigung für das lyrische Ich verbunden.

Figurenperspektive

Zur Rollenverteilung der Gedicht-Figuren gehört die einseitige Perspektive, aus der das Geschehen vermittelt wird. Der Leser erfährt die Vorgänge nur aus der Sicht der Frau. Was der Mann denkt oder fühlt, bleibt völlig im Dunkeln. Damit entsteht ein Ungleichgewicht, das den unterschiedlichen emotionalen Einsatz der beiden Figuren verdeutlicht. Die Frau erscheint als selbstlos und liebesfähig (wobei der Titel „Mit Haut und Haar“ die problematische totale und radikale Hingabe des lyrischen Ichs symbolisiert), der Mann als egoistisch und kaltherzig.

Deutlich wird hier der Gegensatz weiblichen und männlichen Rollenverhaltens herausgestellt: Weibliches lyrisches Ich: sensibles Registrieren der sich ändernden Befindlichkeit und Selbstwahrnehmung; – Männlicher Partner: selbstverständliche, unwiderrufliche Inbesitznahme sowie wenig rücksichtsvoller und einfühlsamer Umgang mit der Partnerin, gefühllose Beendigung der Beziehung.

Der Titel „Mit Haut und Haar“ spiegelt also sowohl die Radikalität der unbedingten Hingabe der Frau als auch die völlige Verachtung und Trennung durch den Mann wider.

4. Fazit

Das Liebes-Gedicht charakterisiert sich durch den Verlauf eher als ,Anti-Liebesgedicht` bzw. gibt den LeserInnen zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen Liebe scheitern muss. Typisch für Ulla Hahn und die Gegenwartslyrik ist die Verbindung von Identitätsproblematik mit Liebeserfahrung sowie die Kompliziertheit der Gefühlslage. Dies steht in starkem Kontrast zu den traditionellen Formelementen (Reim, Metrum, Strophen) und der Verwendung typischer Signalwörter der Liebeslyrik (schwören, ewig, Schwur, in dir aufgehen, dein zu sein), d.h. der lyrische Text ist Liebesgedicht und Anti-Liebesgedicht in einem. Dieses Gedicht zeigt fast idealtypisch die oft gegensätzlichen Empfindungsweisen zwischen den Geschlechtern.

8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

       Als sie einander acht Jahre kannten

       (und man darf sagen: sie kannten sich gut),

       kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

       Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

   5  Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

       versuchten Küsse, als ob nichts sei,

       und sahen sich an und wußten nicht weiter.

       Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

       Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

 10  Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

       und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

       Nebenan übte ein Mensch Klavier.

       Sie gingen ins kleinste Café am Ort

       und rührten in ihren Tassen.

  15  Am Abend saßen sie immer noch dort.

       Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

       und konnten es einfach nicht fassen.

Biografischer Hintergrund des Gedichts:

Mit 21 Jahren verliebte Erich Kästner (1899-1974) sich in die 18-jährige Ilse Julius. Er begann 1919 sein Studium an der Universität in Leipzig, während sie in Rostock Chemie studierte. Ilse und Erich sahen sich so zunächst selten. Ihren Kontakt hielten sie hauptsächlich durch einen Briefwechsel. Sein Studium musste Kästner durch umfangreiche journalistische Tätigkeiten finanzieren.

Für eine Freundin – zumal in einer anderen Stadt – blieb so wenig Raum, an eine feste Bindung oder gar Heirat mochte Kästner nicht denken. Ilse Julius mag sich eine solche eher vorgestellt und auch dafür gekämpft haben, obwohl sie, für die damalige Zeit, eine ungeheuer emanzipierte Frau war.

Trotz starker Bindungen beider aneinander, waren die Umstände gegen eine dauerhafte Beziehung der beiden. Dazu mag die Entfernung beigetragen haben, die Zeit und die unterschiedlichen Interessen: Kästner promovierte 1925 an der Universität Leipzig. Im gleichen Jahr legte Ilse Julius in Dresden ihr Chemie-Diplom ab. Es dauerte dennoch bis Ende 1926, bis sich ihre Wege endgültig trennten.

1. Überblicksinformation

Im Gedicht „Sachliche Romanze“ (1929) von Erich Kästner (1899-1974) aus der Literaturepoche der Neuen Sachlichkeit geht es um ein (wohl eher unverheiratetes (Z.1+Biografie) Paar, das sich 8 Jahre kennt, aber wohl auseinandergelebt hat, ohne dies wahrhaben zu wollen, und am Ende fassungs- und verständnislos vor den Trümmern ihrer ihnen längst abhanden gekommenen Liebe steht.

2. Formale Analyse

Das 4-strophige (S.) Gedicht (3 Quartette, 1 Quintett, damit wichtigste Strophe) ist traditionell gebaut  (Kreuzreim: abab; in Z.16 durch Paarreim (aa) gedehnt, obwohl das Paar keins mehr ist), hat rhythmisch-lyrisch-beschwingten Sprechton und wirkt durch konventionellen Sprachgebrauch (vollständige Sätze, meist Satzzeichen (+ Doppelpunkt), 2 Zäsuren (Z.4, 8), 1 Einschub (Z.2), 1 überraschende Enjambements, Z.4, 10f.) und Erzählweise ausgewogen und harmonisch, was auch Anaphern (Z.5, 13, 16; das Paar, das keins ist!) und Alliterationen (Z.7f., 10, 13, 15) unterstreichen. Hierdurch und durch den meist parataktischen Satzbau (nur 2 NS in Z.1+6) wird jedoch zugleich die Monotonie und Einförmigkeit in dieser Beziehung verdeutlicht. Alliterationen, Rhythmus und Reime sollen fehlende Harmonie des Paares nur übertünchen.

Die indirekte Rede (Z.10f.) unterstreicht, dass beide nie offen und direkt miteinander sprechen. Der „sachliche“ (Titel) Stil des Gedichts wird durch Verzicht auf fast alle typischen Stilmittel wie auffällige Metaphern, Personifikationen oder besondere Symbole betont. Viele Aufzählungen (u.a. 8-mal „und“) unterstreichen die Monotonie der Beziehung.

Es gibt einen Vergleich (Z.4), der durch eine Art elliptischen Enjambements und Punkt besonders betont wird.

Nur sehr indirekt lässt sich der Sinn einiger bildhafter oder symbolischer Wörter („betrugen“, Z.5, „Schiffen winken“, Z.9, „Klavier“, Z.12 usw.) erschließen, was die Kompliziertheit und fehlende Transparenz in der Beziehung dieses Paares zeigt.

Jedoch gibt es eine sarkastisch-ironische Bemerkung (Z.2) oder Untertreibung (zu gut!), 1 Paradoxon (Titel) und einen Gegensatz (Z.5), was die widersprüchliche Beziehung unterstreicht. Der Punkt in Z.3 soll das Besondere, Ungewöhnliche bzw. eigentlich Unmögliche in Z.4 hervorheben.

Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1. + 2. S.: fehlende Liebe und Trauer, 3. S.: Verdrängung, Blick in die Ferne, 4. S.: (scheinbarer) Ortswechsel (Café) und fassungslose Resignation). Auch die sich reimenden Wörter sind hier aussagekräftig: „Gut – Hut“ (Z.2,4) bedeutet, dass nur äußere Dinge gut und wichtig sind. „Heiter – weiter“ (Z.5,7) zeigt, dass beide heiter weiter so machen, obwohl sie für Fröhlichkeit gar keinen Grund haben. „Winken – trinken“ (Z.9,11) zeigt eher passives Verhalten. „Ort – Wort“ (Z.13,16) signalisiert, dass Sprache hier weniger mit Personen verbunden wird. „Tassen – fassen“ (Z.14,17): Das Begreifen und das „(An-)fassen“ wird ebenfalls mit Gegenständen, nicht mit Personen in Verbindung gebracht – Zeichen für Sachlichkeit und Oberflächlichkeit dieses Paares.

3. Interpretation

Diese Sachlichkeit (d.h. das mangelnde subjektive Empfinden) zeigt sich auch beim fehlenden lyrischen Ich. Es gibt nur einen Gedichtsprecher, der außerhalb steht, nicht selbst betroffen ist und als neutraler Beobachter meist ‘sachlich’ berichtet.

In der 1.Strophe wird berichtet, dass einem Paar, obwohl es sich 8 Jahre (verflixtes 7. Jahr!) gut kennt (Z.1f.) und miteinander vertraut ist, „plötzlich ihre Liebe abhanden“ kommt wie „ein Stock oder Hut“ (Z.3f.). Der ironische Einschub (Z.2, wobei „darf“ nur scheinbare Zurückhaltung ist, um die Wirkung der sarkastische Einmischung zu verstärken) stellt nicht nur die Intensität der Beziehung des Paares infrage (nicht gut oder untertreibend: zu gut), sondern verdeutlicht durch das ironische „plötzlich“ (Sie haben es erst jetzt bemerkt!) und den Vergleich von Liebe mit Alltagsgegenständen („Stock oder Hut“, Z.3 u. Adjektiv „sachlich(e)“ im Titel !), die man achtlos verliert, auch ihr wenig emotionales Liebesverständnis bzw. ihre schon längst erkaltete Liebe.

Das Paar erträgt in der 2. S. diese Verlusterfahrung zuerst mit Fassung und versucht, seine Trauer zu überspielen (Gegensatz: traurig – heiter, Z.5). wobei „betrugen sich“(Z.5), was grammatisch von ‘betragen’ kommt, durch den Anklang an ‘Betrug’ zugleich auch ihren Selbstbetrug signalisiert. Sie „versuchten Küsse“, was ihre fehlenden Gefühle füreinander und die Verkrampftheit ihrer Beziehung zeigt.

Dennoch versuchen sie, ihr eintöniges Leben weiterzuleben, „als ob nichts (passiert) sei“(Z.6). Hilf- und ratlos „sahen (sie) sich an und wussten nicht weiter“(Z.7). Sie sehen keine Alternativen zu ihrem tristen und gefühlsarmen Alltag. Schließlich lässt die Frau ihren Ohnmachtsgefühlen und ihrer Verzweiflung durch Weinen freien Lauf. Er dagegen (nicht nur durch einen Punkt optisch, sondern auch emotional von ihr getrennt) „stand dabei“(Z.8), hilf- und emotionslos sowie unfähig, sie zu trösten bzw. hierauf angemessen zu reagieren.

In der 3. S. blickt wohl der Mann („man“, Z.9) zur Ablenkung durch das Fenster in die Ferne, wo das wirkliche Leben stattfindet.

Das Paar kann nur passiv-resignativ den sich fortbewegenden „Schiffen winken“(Z.9), wobei nicht gesagt ist, dass sie dies auch tun.

Die Schiffe bewegen sich fort zu neuen Ufern, wo Ungewöhnliches, Interessantes wartet. Die beiden bleiben jedoch statisch und unbeweglich am selben Fleck. Sie können höchstens dem an ihnen vorbei ziehenden Leben zuwinken, wobei dieses Winken zugleich einen Anklang an den Abschied von ihrer Beziehung symbolisiert.

Der Mann sagt – wenn auch nur indirekt, also ohne direkten Blickkontakt oder direkte Ansprache! –, etwas Banales („Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken“, Z.11), wobei er verdrängt, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist. Vielleicht weist dies auch auf einen festen, starren Lebensrhythmus hin, der auf reinen Äußerlichkeiten beruht. „Irgendwo“ signalisiert das Bedürfnis des Mannes, irgendwohin (nur ja weg von dieser depressiven Situation!) zu gehen. Er überspielt nur Monotonie (8-mal „und“), Leere und Stille, was zeigt, dass sie sich in Wahrheit nichts mehr zu sagen haben. Sie hören zwar, dass „Nebenan … ein Mensch Klavier“(Z.12) spielt, der ein wirklicher Mensch ist, da er seine Gefühle musikalisch durch Höhen und Tiefen ausdrückt. Das Paar jedoch – und besonders der Mann – ist unfähig zu solchen wirklich menschlichen Emotionen.

Auch der Rückzug in eine intimere, vertraute Umgebung („kleinste Café“, Z.13) in der 4.Strophe kann die Liebe nicht zurückholen. „Am Ort“ (Z.13) heißt nur ein scheinbarer Ortswechsel, da sie unfähig zu wirklicher Veränderung sind. Vergeblich suchen sie Intimität und Romantik, die längst verloren gegangen ist. Sie „rührten (stundenlang sprachlos) in ihren Tassen“ (Z.13-15; Vermeidungsverhalten; keine emotionale Rührung oder gar körperliche Berührung), wobei der Paarreim („dort“ – „kein Wort“, Z.15f.) die fortdauernde Sprachlosigkeit unterstreicht. Die beiden sind kein Paar mehr, sondern „allein“ (Z.16), da ihre Beziehung zu Ende ist, wobei beide die Gründe hierfür „ einfach nicht fassen“ (Z.17) können. Keine der beiden spielt hier eine dominante Rolle.

Die Frau könnte hier diese Rolle übernehmen, aber in der damaligen Zeit wäre dies sehr ungewöhnlich gewesen. Daher bleibt der Frau angesichts der emotionalen Defizite des Mannes nur die hilflose Resignation – ein Musterbespiel für Einsamkeit in der Zweisamkeit.

Der Titel „Sachliche Romanze“ verdeutlicht die Unvereinbarkeit von wirklicher Liebe mit sachlich-gefühllosem Zusammenleben im eintönigen Alltag wie im Gedicht.

4. Fazit (mit Bezug zur Biografie Kästners)

Kästner zeigt mit diesem Gedicht, wie sehr sich ein Paar durch den banalen Alltag einer längeren intensiven (verflixtes 7.Jahr!), aber letztlich mit der Zeit nur noch oberflächlichen Beziehung entfremden kann – bis hin zur totalen Sprachlosigkeit und Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und sein eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Bei einem Ehepaar käme damals natürlich hinzu, dass eine Scheidung damals nur schwer möglich war, so dass der gesellschaftliche Druck oft ein zwangsweises Zusammenleben ohne wirkliche Liebe erzwang. Allerdings gab es immer auch die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen ohne Scheidung, was allerdings viel Selbstbewusstsein und Selbstreflexion sowie finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit erforderte.

Kästners eigene (unverheiratete) Beziehung zu Ilse Julius legt allerdings den Schluss nahe, dass es sich auch im Gedicht um ein unverheiratetes Paar handelt, dass sich nicht täglich trifft, eigentlich sehr aneinander hängt, aber deren Liebe erloschen ist, weil sie sich vielleicht zu sehr auf äußerliche Gemeinsamkeiten konzentriert haben und zu wenig Spannung und Leidenschaft in ihrer Beziehung zugelassen haben.

Diese Thematik ist auch heute noch aktuell, da es immer noch Paare (Hauptzielgruppe) gibt, die sich längst auseinander gelebt haben, ohne sich das einzugestehen, und die nicht die Kraft und Energie aufbringen, durch eine Trennung bzw. Scheidung die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, aus Angst vor Einsamkeit. Dies betrifft gerade ältere Paare.

Die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen und mit Emotionen (z.B. weinen) des Partners angemessen umzugehen, ist auch heute bei vielen Beziehungen noch unterentwickelt. Allerdings weichen allzu viele heute diesen Konflikten durch Scheidung aus (fast jede 2. Ehe wird geschieden), anstatt sich konstruktiv mit ihren Beziehungsproblemen auseinanderzusetzen, was meist zu Lasten ihrer Kinder geht.

Das Gedicht weist auch biografische Bezüge auf, denn Kästners eigene Beziehung mit Ilse Julius scheiterte nach 8 Jahren, da sie sich offensichtlich auseinandergelebt hatten. Jedoch spielten bei Kästner die längere räumliche Trennung und die unterschiedlichen Interessen eine zentrale Rolle.

Im Gedicht dominieren dagegen die Unfähigkeit des Mannes, Gefühle zu zeigen und besonders die Sprachlosigkeit des Paares, was bei einem sprachgewaltigen und einfühlsamen Dichter wie Kästner und einer emanzipierten, gebildeten Frau wie Ilse Julius sehr ungewöhnlich wäre.

9. Ernst S. Steffen: Elsa (1970)

       Sie war gerade sechzehn geworden,

       Man sah es ihr noch an.

       In ihrem Busen schlummerten Torten

       Und Schweinchen aus Marzipan.

  5   Sie hatte so große Puppenaugen

       In ihrem kleinen Gesicht

       Und blickte dich an mit diesen Augen

       Und fand doch die Liebe nicht.

       In ihrem Seelchen wuchsen Mimosen,

10   Die hatte der Pastor gepflanzt

       Und in ihr Herzchen einen zu großen

       Paulusbrief zur Firmung gestanzt.

       Sie kam in der Nacht in mein Zimmer geschlichen

       Und fand mich und brauchte kein Licht.

15   Wir haben die Sache dann durchgestrichen.

       Doch die Liebe fand sie nicht.

       Sie hat sich mit mir noch ein bisschen gestritten:

       Das könne die Liebe nicht sein.

       Dann ging sie und hat sich den Puls durchgeschnitten,

20   Und ich war wieder allein.

       Sie war gerade sechzehn geworden,

       Man sah‘s ihr auch jetzt noch an.

       In ihrem Busen schluchzten die Torten

       Und Schweinchen aus Marzipan.

       P.S.

25   Der Jugend heute fehle die Haltung,

       Sagte der Pastor am Grab.

       Er empfahl ihr Seelchen der Himmelsverwaltung,

28   Und dann warf er Dreck hinab.

Ernst S. Steffen – zur Person:

Ernst S. Steffen (1936-70), aus einfachsten Verhältnissen stammend, lebte seit seinem 12. Lebensjahr bis 1967 in Heimen oder im Knast (13 Jahre wegen zahlreicher Einbruchs- und Diebstahldelikte). Dort beginnt er zu schreiben. Seine angriffslustigen, authentischen Texte sind von hoher literarischer Qualität. Er gab nie sich selbst, sondern immer der Gesellschaft die Schuld an seinem Schicksal.

Nach seiner Entlassung 1967 kommt er mit dem Leben draußen nicht mehr zurecht. Er verschuldet er sich hoffnungslos und muss immer vor seinen Gläubigern fliehen. Schließlich resigniert er und macht seinem Leben durch einen Autounfall mit einem roten Sportwagen ein Ende. Kurz vor seinem Tod wird das Gedicht „Elsa“ veröffentlicht.

1. Überblicksinformation

Im Gedicht „Elsa“ (1970) von Ernst S. Steffen geht es um ein 16-jähriges, sehr religiöses und kindliches Mädchen, das nach der 1. Liebensnacht mit einem älteren Jungen Selbstmord begeht, da es diesem wohl nur um Sex geht.

Der Pastor, der bei der streng moralischen Erziehung des Mädchens wohl starken psychischen Druck ausgeübt hat, beklagt am Grab nur die fehlende Moral der Jugend und ist um Elsas Seelenheil besorgt.

2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 7 Strophen zu je 4 Versen mit Kreuzreimen (abab), wobei viele Reime Zeilen mit gleicher Bedeutung verbinden (s.u.). Die 7. Strophe wird mit P.S. überschrieben, um das Beiläufige des Begräbnisses und die fehlende innere Anteilnahme des Pastors zu unterstreichen.

Das Gedicht ist in 5 Teile gegliedert. In den ersten 2 Strophen (kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.1+5) wird Elsas kindliches Aussehen und Gemüt beschrieben. In der 3.Strophe übt das lyrische Ich deutliche Kritik an dem psychisch-moralischen Druck des Pastors auf Elsa, der zu ihrer zu großen Empfindsamkeit geführt hat. In der 4. + 5.Strophe (wieder kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.13+17) berichtet das lyrische Ich von Elsas Enttäuschung über die 1. Liebesnacht und ihren Selbstmord.

Die 6.Strophe hält fest, dass Elsa nicht zur Frau geworden, sondern ein Kind geblieben ist. Durch P.S. abgesetzt wird in der 7.Strophe nebenbei und ohne innere Anteilnahme des Pastors von Elsas Begräbnis berichtet.

Der parataktische Satzbau (nur HS) bewirkt einen eher eintönigen Gleichklang. Durch die häufige Verwendung des Bindewortes „und“ wirken die einzelnen Teile des Gedichts wie eine unabhängige Kette von Ereignissen, die nur durch 2 überraschende Enjambements (Z.5f. und 11f.) unterbrochen wird. Die Interpunktion ist ebenfalls wenig überraschend und entspricht dem Satzbau.

Das gleichförmige Reimschema verstärkt den monotonen Charakter des Gedichts und verharmlost dessen bestürzenden Inhalt. Nur einmal wird die indirekte Rede (Z.18) verwendet, um den zentralen Aspekt des Streits zu verdeutlichen und Elsa auch einmal – wenn auch nur indirekt – zu Wort kommen zu lassen.

Die Alliterationen (Z.15,16,17,20) erzeugen einen Wohlklang, der jedoch nur fehlende Harmonie übertünchen soll. Neben vielen Anaphern  (Z.1+5,12+14f.), die ebenso Harmonie vorspiegeln sollen, und der fast wortgleichen 1.+6.Strophe, die die fehlende Veränderung Elsas durch die Liebensnacht andeuten, gibt es außer nichtssagenden (Z.5,8,18,25) auch ausdrucksstarke, z.T. sehr ungewöhnliche Metaphern („In ihrem Busen schlummerten Torten und Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f,23f. und Z15,27,28) In der 4.+5.Strophe wird jeweils die 1.+3.Zeile, in der 7. Strophe nur die 3.Zeile durch Überlänge hervorgehoben.

3. Interpretation

Das lyrische Ich ist hier männlich und wohl deutlich älter, da es in der 1.Strophe Elsas Alter („gerade erst 16 geworden“, Z.1) u. ihre Jugendlichkeit (Z.2) betont. Auch seine kritische Bewertung der Einstellung und der Grabrede des Pastors zeigt, dass er klüger und „aufgeklärter“ ist als sie.

Mit einer ungewöhnlichen Metapher wird dann Elsas Jugend verdeutlicht. Süßigkeiten, wie Kinder sie lieben („Torten u. Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f.) sind noch in Elsa. Wenn diese „schlummern“ (Z.3), – wobei das Reimpaar in Z1/3 (ihr Alter und die Torten) zusammengehört –, heißt das, dass sie wieder erwachen können und jedenfalls nicht verschwunden sind. Auch mit der Verniedlichung „Schweinchen“(Z.4) wertet das lyrische Ich Elsa als bloßes „Kindchen“ ab.

In der 2.Strophe wird dies mit den „große(n) „Puppenaugen“ bekräftigt. Große Augen „in ihrem kleinen Gesicht“ (Z.6) – als Enjambement besonders betont – sind Teil des Kindchen-Schemas, auf das Erwachsene mit Hilfsbedürftigkeit und Zuwendung reagieren, aber nicht mit der Liebe. Auch hier gehört das Reimpaar in Z6/8 zusammen. Da sie ein kleines Gesicht hat, also noch Kind ist, kann sie die Liebe nicht finden.

„Puppen“ (Z.5) als Spielzeuge kleiner Mädchen zeigen, dass Elsa noch ein Kind ist. Sie „blickte dich an“ (vielleicht auch andere?) anstatt „mich“, was die Distanz des lyrischen Ichs zu Elsa ausdrückt und erklärt, dass dieses Kind die Liebe im Sex nicht finden kann.

Dies wird auch in der 3.Strophe wieder durch die Verkleinerungsformen („Seelchen“ und „Herzchen“, Z.9,11) verdeutlicht. „Mimosen“ (Z.9) steht für Elsas extreme jungmädchenhafte Empfindsamkeit. Der „zu große Paulusbrief“(Z.11f.) – wieder durch Enjambement besonders hervorgehoben –, d.h. die ihr zur Firmung verabreichte Frömmigkeit (Paulusbrief) ist für ihre Erlebensmöglichkeiten zu groß, hat sie also überfordert. Angesichts der Ablehnung von Sexualität bei Paulus wird klar, dass Elsa die Liebe nicht finden kann. Wenn der Pastor diesen Brief „gestanzt“(Z.12) hat, wird ausgedrückt, dass er seelische Gewalt bei seiner Erziehung zur Frömmigkeit ausgeübt hat; was ihm vom lyrischen Ich vorgeworfen wird. Die Tätigkeiten des Pastors im Firmunterricht reimen sich („gepflanzt / gestanzt“, Z.10/12). Beides hat er zum Schaden Elsas getan.

In der 4.Strophe berichtet er, dass Elsa in sein „Zimmer geschlichen“(Z.13) kommt – vielleicht auf einer Jugendgruppenfahrt, bei der er als Gruppenleiter teilnimmt?! Sie findet ihn auch ohne Licht (Z.14). Die Liebesbegegnung wird dann sehr distanziert erzählt: „Wir haben die Sache dann durchgestrichen“ (Z.15). Der Liebesakt ist für das ihn (der mit „Wir“ in Wahrheit nur sich meint) nur eine Sache, die er abgehakt hat (wie bei einer Einkaufsliste oder erledigten Programmpunkten), so dass Elsa dabei die (wahre) Liebe natürlich nicht finden kann (Z.16), was bei den rein sexuellen Erwartungen des lyrischen Ichs wohl auch gar nicht möglich ist. Es fragt sich natürlich auch, ob Elsas Vorstellungen von Liebe nicht völlig unrealistisch sind.

Die 5.Strophe zeigt, dass sie dies wohl schnell erkannt und sich mit ihm nur „noch ein bisschen gestritten“ (Z.17) hat. Der Doppelpunkt kündigt die im Konjunktiv („könne“, Z.17) formulierten enttäuschten Wünsche und Erwartungen Elsas an das lyrische Ich an. Dieser Streit ist wohl der direkte Anlass für ihren Selbstmord (Z.19) – hier zeigt sich, dass das Reimpaar in Z.17/19 zusammengehört. Das lyrische Ich beklagt jedoch nicht diesen tragischen Tod, sondern egoistisch nur sein erneutes Alleinsein (Z.20).

In der 6.Strophe wiederholt das lyrische Ich die Beschreibung der 1.Strophe und fügt nur „auch jetzt“ (Z 22) und „-‘s“ hinzu. Auch nach der Liebesnacht hat sie zwar ihre Jungfräulichkeit verloren, ist aber keine Frau geworden, sondern Kind geblieben. Dadurch bewertet bzw. erklärt das lyrische Ich, was dieses nächtliche Erlebnis für Elsa bedeutet. Die Torten und Schweinchen „schluchzten“, was Trauer um Elsas Tod und Kindlichkeit anzeigt (Z. 23).

Scheinbar absichtslos erzählt er in einem Nachtrag, als ob er es beinahe vergessen hätte (P.S.), in der 7.Strophe von Elsas Begräbnis. Sowohl in diesem „P.S.“ wie in der Art, in der er vom Pastor und dessen Einstellung spricht, zeigt sich, dass es Abstand vom kirchlichen Begräbnis hält. Schon Elsas Tod hat es nicht berührt (Z.20) Es zeigt kein Mitgefühl mit Elsas Tod, äußert kein Wort des Bedauerns, obwohl es mit dem Mädchen geschlafen hat.

Im „P.S.“ wird der Pastor in seinem amtlichen Verhalten bewertet. Statt Trauer über Elsas aus Verzweiflung verübten Selbstmord zu zeigen, beklagt dieser nur floskelhaft, „der Jugend heute fehle die Haltung“ (Z.25). Dies offenbart seine Heuchelei bzw. mangelnde Selbstwahrnehmung, da gerade sein Firmunterricht dazu beigetragen hat, dass Elsas Seele verkorkst und sie unfähig zu einer erwachsenen Liebe ist. Auch wertet er sie mit einer Verniedlichung („Seelchen“) als Kind ab, obwohl er ihre Unmündigkeit verstärkt hat.

Mit der Metapher „Himmelsverwaltung“(Z.27) wertet das lyrische Ich die vom Pastor wohl beschworene Fürsorge Gottes zur Verwaltung eines Betriebs ab. Damit kann gemeint sein, dass der Pastor seine Verantwortung auf dem Dienstweg an den Himmel abgibt, vielleicht aber auch, dass es „im Himmel“ genauso lieblos wie in einem Büro zugeht – die Seelen werden verwaltet. Das lyrische Ich sieht den Pastor nicht „Erde“ hinabwerfen, sondern „Dreck“ (V. 29) und bewertet damit des Pastors Handeln als ehrfurchtslos bzw. hält ihm vor, dass dieser mit Dreck (= Verleumdung, Abwertung) nach dem tragischen Opfer streng-religiöser Erziehung (Elsa) wirft.

Auch der Titel „Elsa“ ist nichtssagend und zeigt, dass das lyrische Ich sie nicht als individuelle Person wahrnimmt. Bezeichnend ist, dass er Elsa im Gedicht nie mit ihrem Namen, sondern meist mit verniedlichend-abwertenden Begriffen benennt. Durch die gleichförmigen Reime verniedlicht das lyrische Ich wohl bewusst dieses tragische Ereignis und verkleinert damit auch seine möglichen Schulanteile.

4. Fazit

Die Analyse bestätigt die o.a. These von der 16-jährigen, sehr religiösen, kindlichen Elsa, die sich nach der 1. enttäuschenden Liebesnacht umbringt.

Sehr auffällig ist die Mitleidslosigkeit des lyrischen Ichs bezüglich dieses tragischen Schicksals, das typisch für die streng religiös-moralische Erziehung der 1960er Jahre ist. Dessen Opfer waren oft Mädchen, die mit diesen kirchlichen Ansprüchen überfordert und hin- und hergerissen waren zwischen z.T. völlig unrealistischen Vorstellungen von wahrer Liebe, kirchlichen Verboten und eigenen sexuellen Bedürfnissen. Diesem Dilemma konnten sie infolge ihrer Kindlichkeit und Unmündigkeit nicht selten nur durch Selbstmord entkommen. Bei aller berechtigten Kritik am Pastor verdrängt das lyrische Ich seine eigenen Schuldanteile, da es hätte wissen müssen, was sein reines Verlangen nach Sex bei Elsa anrichten würde.

Der Autor ist sehr früh (mit 34 Jahren) bei einem Autounfall ums Leben gekommen, hat seine Jugend in Heimen, 13 Jahre wegen vieler Einbrüche im Gefängnis verbracht und ist erst dort zum Dichter geworden. Da er sehr authentisch schreibt, hat er wohl selbst so etwas Ähnliches erlebt. Typisch für ihn ist, dass er seine Erlebnisse meist als Anklagen gegen die Gesellschaft formuliert und eigene Schuldanteile gerne verdrängt.

Das Gedicht richtete sich damals sicher an eine männlich orientierte Zielgruppe, die Schuldabwehr, Sexismus und Kritik an kirchlicher Moral teilte.

Seine Kritik an überstrenger moralischer Erziehung und pastoralem Fehlverhalten ist dennoch berechtigt und zeitlos gültig, wobei es heute z.B. um Zeugen Jehovas u.a. Sekten, aber auch streng muslimische Familien in der BRD geht, in denen Mädchen Opfer von „Ehrenmorden“ werden können.

10. Jürgen Theobaldy: Schnee im Büro (1976) 

       Eine gewisse Sehnsucht nach Palmen. Hier

       ist es kalt, aber nicht nur. Deine Küsse

       am Morgen sind wenig, später sitze ich

       acht Stunden hier im Büro. Auch du

   5  bist eingesperrt und wir dürfen nicht

       miteinander telefonieren. Den Hörer abnehmen

       und lauschen? Telefon, warum schlägt

       dein Puls nur für andere? Jemand fragt:

       „Wie geht’s?“, wartet die Antwort nicht ab

 10  und ist aus dem Zimmer.

       Was kann Liebe bewegen? Ich berechne

       Preise und werde berechnet. All die Ersatzteile,

       die Kesselglieder, Ölbrenner, sie gehen

       durch meinen Kopf als Zahlen, weiter nichts.

 15  Und ich gehe durch jemand hindurch

       als Zahl. Aber am Abend komme ich zu dir

       mit allem, was ich bin. Lese von

       Wissenschaftlern: auch die Liebe ist

       ein Produktionsverhältnis. Und wo sind

 20  die Palmen? Die Palmen zeigen sich am Strand

       einer Ansichtskarte, wir liegen auf dem Rücken

       und betrachten sie. Am Morgen kehren wir

       ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.

 24  Er hat eine Nummer, wie das Telefon.

Jürgen Theobaldy – zur Person:

Geboren 1944 in Straßburg, aufgewachsen in Mannheim. Zunächst Lehre im kaufmännischen Bereich, dann Gelegenheitsarbeiter, schließlich ab 1966 Studium an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg und Heidelberg. 1970 Lehrerexamen, anschließend Studium der Politologie und Germanistik. Seit Mitte der 70er Jahre freier Schriftsteller, lebt heute in Berlin. Theobaldy verbindet in seiner Lyrik Leben und Literatur, Ideologie und Wirklichkeit miteinander. Er lebt, wie er schreibt, und er schreibt, wie er lebt.

1. Überblicksinformation

Das typische Alltagslyrik-Gedicht „Schnee im Büro“ (1976) von Jürgen Theobaldy (geb. 1944) aus der Epoche der Gegenwartslyrik spiegelt die Gedankenwelt einer in einer festen Partnerschaft in der 1970er Jahren lebenden Person wider, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet.

Die von nüchternen Zahlen bestimmte Tätigkeit beeinflusst massiv das eintönige Privatleben dieser Person und seine wenig erfüllte sowie emotionsarme Beziehung zum anderen Partner.

Mit dieser restlos durchkalkulierten Welt haben sich – trotz aller Kritik – beide wohl am Schluss abgefunden, da sie morgens wieder zu ihrem Arbeitsplatz im Büro zurückkehren.

2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 2 Strophen, wobei die 1. Strophe aus 10 und die 2. Strophe aus 14 Zeilen besteht. In beiden Strophen befasst sich das lyrische Ich mit der Beeinträchtigung des Privatlebens durch den Büroalltag.

Während die 1.Strophe die zu kurze Zeit der Zärtlichkeit zu Hause und die Isolation im Büro zeigt, beschreiben die Gedanken des lyrischen Ichs in der längeren 2. Strophe den sein tristes Leben dominierenden Kreislauf vom Büro zum eintönigen Privatleben am Abend und wieder zurück zum Büroalltag am nächsten Morgen.

Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen sehr unharmonischen, konturlosen, zerfahrenen, unpoetischen Eindruck hinterlässt. Die Ellipsen (Z.1,2,6f.,12f.,14,23f.) zeigen die nur angedeuteten Wünsche und Gefühle des lyrischen Ichs. Viele Metaphern („Schnee im Büro“,Titel; „Palmen“,Z.1; „Es ist kalt“, „Deine Küsse am Morgen sind wenig“, Z.2f.; “Auch du bist eingesperrt“, 4f.; „Telefon, warum schlägt dein Puls nur für andere?“, Z.7f.; „Was kann Liebe bewegen?“ und „Ich berechne und werde berechnet“, Z.11f.; „sie gehen durch meinen Kopf als Zahlen“, Z.13f.; „“Ich gehe durch jemand hindurch als Zahl“, Z.15f.; „Die Palmen zeigen sich am Strand“, Z.20) verdeutlichen Sehnsüchte, aber auch Beziehungslosigkeit und Isolation der Person. Es gibt einen Vergleich (Z.24), 2 Alliterationen (Z.2,16) und eine Verdopplung (Z.20).

Auffällig sind 5 Fragen in beiden Strophen. Die ersten 3 Fragen stellen seinen Büroalltag, die 4. Und 5. sein Privatleben in Frage. Sehr bedeutsam sind die fast durchgängigen Enjambements in beiden Strophen, die den Gedanken meist eine überraschende Wendung geben.

Der Satzbau ist fast nur parataktisch (HS). Es gibt nur einen NS (Z.17). Dies zeigt das einförmige Leben des lyrischen Ichs, das kaum Abwechslung kennt und in den immer gleichen Strukturen gefangen (Z.5) ist.

3. Interpretation

Das lyrische Ich ist wohl ein Mann, da nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“(Z.1), wenig „Küsse am Morgen“(Z.2f.), der „nicht nur“ als „kalt“ (Z.2) empfundene beziehungslose Büroalltag, die wissenschaftliche Lektüre über Liebe als „Produktionsverhältnis“(Z.19) eher männliche Denk- sowie Verhaltensweisen widerspiegeln und die Biografie des Autors auf die Verarbeitung eigener Erlebnisse hinweist (s.u.).

Er befindet sich im Büro und lässt seine Gedanken zu der geliebten Partnerin und ihrem Privatleben abschweifen. Zugleich wird sein durchgeplanter, von Zahlen bestimmter Büroalltag geschildert. Nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“ (Z.1) hat das lyrische Ich zu Beginn der 1. Strophe, was zeigt, dass sich sein Verlangen nach Urlaub, Wärme und einer anderen, erfüllteren Welt in Grenzen hält.

Die Situation „hier im Büro“ (Z.1,4) ist kalt. Das Enjambement in Z.1f. verstärkt noch den Kontrast zwischen Arbeits- und Gedankenwelt. Die Person fühlt sich „8 Stunden“ genauso „eingesperrt“(Z.4f.) wie seine Partnerin.

Deren „Küsse“(Z.2) lassen auf eine innige Beziehung schließen, jedoch wird diese durch das Enjambement „am Morgen sind wenig“ (Z.3) als unzureichend bezeichnet. Die Gedanken an den Beginn des Büroalltags lassen kaum Raum für intensivere Zärtlichkeiten. Dieser ist durch Ge- u. Verbote geregelt.

Die 1. Frage („Den Hörer abnehmen u. lauschen?“, Z.6f.) drückt die Einsamkeit des lyrischen Ichs aus angesichts des Verbots privater Telefonate am Arbeitsplatz. Selbst dieser verständliche Wunsch wird noch durch ein Fragezeichen relativiert, was die Verunsicherung des lyrischen Ichs zeigt.

Es scheint ihm selbst nicht klar zu sein, worauf es lauschen möchte. Der Puls des Lebens („Telefon“ als Symbol für menschliche Kommunikation und Beziehungen) schlägt nicht für das lyrische Ich, sondern „nur für andere“. Dies wird in die direkt anschließende 2. Frage (Z.7f.) gekleidet, die für die Person nicht beantwortbar und ein hilfloser, verzweifelter Aufschrei ist, aus dieser Isolation auszubrechen. Die 3. floskelhafte Frage („Wie geht’s?“, Z.9) verdeutlicht die Oberflächlichkeit der kollegialen Beziehungen, die von Gleichgültigkeit bestimmt ist. Eine mögliche Antwort wird am Ende der 1. Strophe gar nicht erst abgewartet, da keiner echtes Interesse am wirklichen Befinden des lyrischen Ichs hat.

Die 2. Strophe beginnt mit der rhetorischen und resignativen 4. Frage: „Was kann Liebe bewegen?“ (Z.11), wobei statt einer möglichen Antwort (‘fast nichts’ oder vielleicht sogar ‘nichts’) ein reines, aus der Arbeit abgeleitetes Zahlenwerk folgt, das schließlich eben auch auf das Beziehungsverhältnis übergreift. So wie er Preise berechnet, wird er auch berechnet (Z.1f.), d.h. er wird auch unter Kosten-Nutzen-Aspekten beurteilt. „Ersatzteile“ (Z.12) symbolisieren die Ersetzbarkeit, Austauschbarkeit, fehlende Individualität u. Verdinglichung, die ihm als einziges durch den Kopf geht (Z.13f.) und sein ganzen Denken bestimmt, so dass er sogar selbst „durch jemand hindurch“ (Z.15) geht, diesen also gar nicht richtig wahrnimmt. Das überraschende Enjambement „als Zahl“ (Z.16) zeigt, dass er schon selbst im Büro zu einer anonymen Ziffer geworden ist u. seinen Kollegen nur noch in gleicher (kalkulationsdominierten) Weise begegnen kann.

Das „aber am Abend komme ich zu dir“ (Z.16) lässt nur scheinbar hoffen, dass das lyrische Ich zu Hause diese eintönige, von nüchternen Zahlen bestimmte Bürowelt hinter sich lassen kann, da mit dem erneuten Enjambement („mit allem, was ich bin“, Z.17) deutlich wird, dass die Person die frustrierende Last des Arbeitsalltags mit nach Hause nimmt. Er kann auch im Privatleben nicht abschalten, das durch den Büroalltag weitgehend dominiert wird.

Selbst beim Lesen greift er statt zu entspannender Lektüre zu wissenschaftlichen Büchern, laut denen auch „die Liebe“ den Gesetzen des Marktes gehorcht bzw. von Kosten-Nutzen-Aspekten bestimmt ist, was er wohl resignierend hinnimmt. Seine verzweifelte 5. Frage, wo die Palmen (d.h. die Wünsche und Sehnsüchte nach einem anderen Leben) seien, wird nur scheinbar beantwortet. Sie „zeigen sich am Strand“ (Z20), sind aber für ihn – so das wiederum überraschende und ernüchternde Enjambement in der nächsten Zeile – nur auf „einer Ansichtskarte“ (Z.21), also in weiter Ferne. Beide Partner „liegen auf dem Rücken“ (Z.21). Dies könnte vielleicht ihre Hilflosigkeit (am Boden?!), psychische Erschöpfung (nach dem frustrierenden Arbeitsalltag) oder auch Unfähigkeit symbolisieren, wieder auf die Beine zu kommen. Mit dem Enjambement „und betrachten sie“ (Z.22) wird diese (gewollte) Vermutung dann relativiert, jedoch bleiben beide beim Betrachten einer Ansichtskarte, und nichts deutet darauf hin, dass sie sich ihre Wünsche auch erfüllen.

Hier zeigt sich die Genügsamkeit im abendlichen Miteinander, wenn der Blick auf die Ansichtskarte die vielleicht nicht erfüllende, aber doch hinreichende Abendbeschäftigung ist. Insgesamt leben das lyrische Ich und dessen Geliebte ein leidenschaftsloses, indifferentes, unterkühltes Leben ohne Höhepunkte, auf einem ewig gleichbleibenden mittleren Niveau. Am Morgen „kehren“ beide wieder wie immer „ins Büro zurück, jeder an seinen Platz“ (Z.22f.). Dies bedeutet, dass der/die PartnerIn einen ähnlichen Beruf hat wie das lyrische Ich und wohl ebenso darunter leidet. Mit dieser nüchtern kalkulierten Welt hat sich das lyrische Ich zuletzt, bei aller Kritik, doch abgefunden. Zwar ist diese Welt kalt, „aber nicht nur“ (Z.2).

Die Erwartungen an das Leben sind insgesamt durch die Bedingungen und Anforderungen des Arbeitsalltags geprägt. Dieser ist als das eigentliche Lebensfeld anerkannt, wenn das lyrische Ich die zentrale Standortbestimmung vornimmt: Nicht zu Hause ist man an seinem Platz. Im Gegenteil. Entlarvend und uneingeschränkt wird festgestellt: „Am Morgen kehren wir jeder ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.“ (Z.22f.) Dort ist man zugeordnet seinem nummerierten Platz, seiner Telefonnummer sowie dem eigenen Leben als Zahl, was somit als gegeben und Ausdruck eines scheinbar unabänderlichen Kreislaufes hingenommen wird.

Der Titel „Schnee im Büro“ weist auf die (gefrorene) Beziehungskälte im Büroalltag hin, die aktive Lebensfreude, Spontaneität und tiefere emotionale Beziehungen auch im Privatleben verhindert.

4. Fazit (mit Bezug zur Biografie des Autors)

Die Analyse bestätigt die These in der Einleitung von dem lyrischen Ich als Person, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet, was erhebliche Auswirkungen auf ihr Privatleben hat. Jedoch scheint der Mittelpunkt seines Lebens das Büro und nicht das ebenso unterkühlte Privatleben zu sein. Die Hauptzielgruppe sind daher berufstätige kinderlose Paare, die unter der Beziehungskälte am Arbeitsplatz leiden, so dass auch ihre private Beiziehung dadurch beeinträchtigt wird. Theobaldy, der schreibt, wie er lebt, hat hier laut Selbstaussage eigene frühe Erlebnisse im kaufmännischen Bereich verarbeitet und für sich daraus durch Lehrerexamen und z.B. Politologie-Studium die richtigen beruflichen Konsequenzen gezogen.

Sehr anschaulich schildert er als Politologe die Verdinglichung des Menschen durch seine Arbeit und möchte meines Erachtens vor der Gefahr warnen, dass infolge die Deregulierung der Gefühle am Arbeitsplatz dieser als sicherer und verlässlicher Zufluchtsort erscheint. Die Entmenschlichung von Arbeit ist auch heute noch angesichts des überall wachsenden negativen Arbeitsstresses aktueller denn je.

Mich hat diese Alltagslyrik sehr berührt, da sie die Auswirkungen des durchkalkulierten Büroalltags auf das Privatleben sehr lebensnah zeigt.

11. Erich Fried: Die mit der Sprache (1972)

       Ich beneide die mit der großen Sprache

       die reden von den Leuten

       als ob es die Leute gäbe

       sie reden vom Vaterland

  5   als ob es ein Vaterland gäbe

       und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit

       als gäbe es alle drei

       Tapferkeit Feigheit Liebe

       und sie reden vom Schicksal

10   als ob es ein Schicksal gäbe

       Und ich bestaune die mit der scharfen Sprache

       die reden von den Leuten

       als ob es sie gar nicht gäbe

       und vom Vaterland

15   als ob es kein Vaterland gäbe

       und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit

       als wäre es klar

       daß es das alles nicht gibt

       und sie reden vom Schicksal

20   als ob es kein Schicksal gäbe

       Und manchmal weiß ich nicht

       wen ich beneide und wen ich bestaune

       als gäbe es nur Staunen und keinen Neid

       oder als gäbe es nur Neid und kein Staunen

25   als gäbe es nur Größe aber nicht Schärfe

       oder als gäbe es nur Schärfe und keine Größe

       und ich weiß dann nicht ob es

       etwas gibt wie Reden und Wissen

       oder wie Geben und mich

30   nur daß es so nicht geht

Aufgabe:

Analysieren Sie das Gedicht „Die mit der Sprache“ (1972) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

Lehrererwartungshorizont (LEH)

Der Schüler, die Schülerin

1.1. benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit etc.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für zeitlose gesellschaftskritische Gegenwartslyrik der 70er Jahre dar.

1.2. gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:

oberflächlicher, rein rhetorischer Gebrauch von Sprache besonders bei wertkonservativen + links intellektuellen Politikern am Beispiel des Begriffs „Vaterland“ und dessen emotionale Eigenschaften / Tugenden (Liebe, Tapferkeit, Feigheit)

1.3. beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts,

mit Verweis auf 3 Strophen (je 10 Z.), fehlende Interpunktion, lyrisches Ich, weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime), Zeilensprung (Z.27 f.), These – Gegenthese – Schlussfolgerung (Ablehnung beider Positionen), gleichförmiger Satzbau etc.

1.4. erläutert deren Funktion, z.B. 3-teiliger Aufbau als Erörterungsansatz mit Schlussfolgerung;

Unsicherheit der Positionen wird unterstrichen durch fehlende Interpunktion, Vorbereitung der Schlussfolgerung (Z.30), Hervorhebung der Z.28 durch Enjambement, Gleichförmigkeit der scheinbar konträren Positionen, Unterstreichung der inhaltlichen Ungereimtheiten durch fehlende Endreime etc.

1.5. untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.

Vordergründiger Neid des lyrischen Ichs auf die

  pathetische Haltung der wertkonservativen Politiker (Z.1-2)

  Verallgemeinerung der Menschen (Z.2f.)

  unkritische Annahme eine festen Vorstellung des Begriffs „Vaterland“ (Z.4f., Missbrauch durch Nazis)

  Zuschreibung von vaterländischen Tugenden (Z.6-8) aus militärischem Bereich (Anklang an NS-Zeit?)

  Verantwortungsabgabe für NS-Zeit durch inhaltsleeren Schicksalsbegriff (Z.8-10), Fatalismus

Vordergründige Bewunderung des lyrischen Ichs für die

  scharfe Kritik der radikalen Intellektuellen (Z.11)

  Missachtung der menschlichen Bedürfnisse (Z.12f.) und des einfachen Volkes

  Verneinung des Vaterlandbegriffes (Z.14f.) und dessen Zuschreibungen (Verneinung des Staats?)

  unbedingter Machbarkeitswahn (Z.19f.)

Ablehnung des Ausschließlichkeitsanspruchs der beiden konträren Positionen in Strophe 1 und 2

  unsichere Einstellung (Z.21-22)

  Kritik an vorschneller, emotional beeinflusster Übernahme fremder Positionen durch das Volk (Z.21-24)

  Entlarvung beider Gegenpositionen (scharf/groß) als Scheingegensätze infolge missbräuchlichen Umgangs mit Sprache (Z.25f.)

   Infragestellung zentraler Wirklichkeitsformen („Reden u. Wissen“, Z.28), des pol. Engagements des Einzelnen und des Verantwortungsbewusstseins der Politiker sowie der Intellektuellen („Geben und mich“, Z.29)

  Schlussappell: Ablehnung von Positionen mit unbedingtem Wahrheitsanspruch.

1.6. beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.

Emphasen, Parallelismen, Aufzählungen,, Ironie, Anaphern, Klimax, Konjunktiv, indirekte Frage, Als-ob-Konstruktionen, Chiasmus (Z.6-8,23f.,25f.), Scheinwiderspruch (Z.25), Floskeln, Verallgemeinerungen („den Leuten“, Z.2), Alliterationen (Z.4,6,11,14,16,24), Metaphern (Z.1,11) etc.

1.7. erläutert deren Funktionen (z.B.)

 Verstärkung der Gleichartigkeit der scheinbar gegensätzlichen Positionen (Scheinwidersprüche), Entlarvung der Inhaltsleere der pathetischen Redeweisen, Lächerlichmachung der scheinbar überlegenen Positionen,

 Aufforderung, solche Positionen kritisch zu hinterfragen, Anzweifelung des Realitätgehalts dieser gegensätzlichen Haltungen, Bezug auf anonyme Instanzen; scheinbarer Wohlklang steht im Widerspruch zur Inhaltsleere etc.

1.8. arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.

 Anlass zur kritischen Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf meinungsbildende Instanzen.

 Kritik an Autoritätsgläubigkeit und fehlendem politischen Engagement

 Warnung vor den manipulativen Tendenzen medialer Öffentlichkeit.

 indirekter Appell zur Übernahme von Verantwortung und Selbstbestimmung

1.9. ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.

  weitgehend apolitische Haltung der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit

  restaurative (rückwärtsgewandte), konservative Politiker in den 60er Jahren

  antinationale Haltung der APO, terroristische Radikalisierung durch RAF

  radikale Ablehnung konservativer Werte wie Vaterland

  pazifistische (Krieg ablehnende) Grundhaltung der 68er Bewegung

1.10. wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung.

Dabei verweist er/sie z.B. auf zeitlose Aktualität, Verwendung von Floskeln, ästhetische Gestaltung, vergleichbare Texte des Autors / anderer Autoren, die durch Sprache hervorgerufene Autoritätsgläubigkeit etc. Komplizierter Satzbau und Unentschlossenheit (Z.30) entsprechen Komplexität des Problems. Appell an ausgewogene politische / gesellschaftskritische Argumentation.

1.11. setzt sich mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

Dabei verweist er/sie z.B. auf den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs- u. Rezeptionsbedingungen, den Adressatenkreis (Intellektuelle der oberen Mittelschicht, Studenten, Medien = Mainstream) den gesellschaftlichen Einfluss von Dichtern, die Sensibilisierung für eigenes Sprachverhalten, eigene Werthaltungen, gesellschaftliches Handeln etc.

Appell an sprachliche Sensibilität kann nur langfristig Wirkung entfalten; abhängig von öffentlichem Diskurs

12. Erich Fried: Gründe (1966)

       „Weil das alles nicht hilft

       Sie tun ja doch was sie wollen

       Weil ich mir nicht nochmals

       die Finger verbrennen will

  5   Weil man nur lachen wird:

       Auf dich haben sie gewartet

       Und warum immer ich?

       Keiner wird es mir danken

       Weil da niemand mehr durchsieht

10   sondern höchstens noch mehr kaputtgeht

       Weil jedes Schlechte

       vielleicht auch sein Gutes hat

       Weil es Sache des Standpunktes ist

       und überhaupt wem soll man glauben?

15   Weil auch bei den andern nur

       mit Wasser gekocht wird

       Weil ich das lieber

       Berufeneren überlasse

       Weil man nie weiß

20   wie einem das schaden kann

       Weil sich die Mühe nicht lohnt

       weil sie alle das gar nicht wert sind“

       Das sind Todesursachen

       zu schreiben auf unsere Gräber

25   die nicht mehr gegraben werden

       wenn das die Ursachen sind

Aufgabe:

Analysieren Sie das Gedicht „Gründe“ (1966) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

Lehrererwartungshorizont (LEH)

Der Schüler, die Schülerin

(1.1.) benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit usw.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für gesellschaftskritische Lyrik der Gegenwart dar.

(1.2.) gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:

 fehlendes politisches und / oder gesellschaftliches Engagement und mögliche Konsequenzen

(1.3.) beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts, indem er z.B. verweist auf

 dreizehn zweiteilige Abschnitte (Unglückszahl?!)

 die zweiteilige Gliederung: 11 Doppelzeilen als Zitate und 2 Doppelzeilen als Kommentierung

 den lyrischen Sprecher in der vorletzten Doppelzeile, lyrisches Ich in den Zitaten

 den weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime)

 Zeilensprünge (Z.3f.,11f.,15f., 17f.), Inversionen (Z.6, 23)

 die Besonderheiten der Interpunktion, Satzbau etc.

(1.4.) erläutert deren Funktion, z.B.

 Anführungszeichen als Abgrenzung

 zweiteilige Gliederung als Ausdruck der Dominanz von Abwehrhaltungen

(1.5.) untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.

 die resignative und pessimistische Haltung (Z.1f.)

 den Hinweis auf vergleichbare negative Erfahrung in der Vergangenheit (Z.3f.)

 die Erwartung von Spott und Missachtung (Z. 5 – 6)

 den Hinweis auf bereits geleistetes Engagement; Erwartung von Dank (Z.7f.)

 den Verweis auf fehlende Möglichkeiten, komplexe gesellschaftliche Strukturen zu durchschauen (Z.9f.)

 die Relativierung und kritiklose Hinnahme von Missständen (Z.11f.)

 Orientierungslosigkeit (Z.13f.)

 Bagatellisierung und Verharmlosung der Situation (Z.15f.)

 den Rückzug aufgrund vermeintlich fehlender Kompetenz (Z.17f.)

 die Sorge um negative Konsequenzen (Z.19f.)

 Ablehnung von Engagement aufgrund fehlender Wertschätzung anderer (Z.21f.)

 die Entlarvung der „Gründe“ als „Todesursachen“ durch den lyrischen Sprecher (Z. 23-26)

(1.6.) beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.

die Aneinanderreihung von Einzeläußerungen (direkte Rede), die Dominanz und Wiederholung der Kausalkonjunktion „weil“, Konditionalsatz in der letzten Zeile, die indefiniten Pronomen  „man“, „niemand“, „sie“, „sie alle“, Redensarten, Floskeln, Formulierungen mit negativer Konnotation, Metaphern, Ellipsen, Anaphern, rhetorische Fragen, Alliterationen (Z.3,4,7,26,), Ironie (Titel!)

(1.7.) erläutert deren Funktionen. z.B.

 den Eindruck der Unmittelbarkeit und Authentizität der Aussagen (direkte Rede)

 der vordergründige Bezug auf anonyme Instanzen (Pronomen)

 die Entlarvung der „Gründe“ als „Todesursachen“, die eine tatsächliche kausale Bedeutung erlangen (Wechsel von Kausalsätzen zum Konditionalsatz)

(1.8.) arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.

 Entlarvung der „Gründe“ als Ausreden und Vorwände

 Anlass zur kritischen Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf (kommunikative) Gewohnheiten

 Kritik an Passivität und fehlendem gesellschaftspolitischen Engagement

 Warnung vor den Konsequenzen fehlender Mitwirkung und Mitverantwortung

 indirekter Appell zur Übernahme von Verantwortung

(1.9.) ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.

 das zunehmende Militärengagement der USA im Vietnam-Krieg (1964-1973)

 die Anfänge der Studentenbewegung und antiamerikanischen Protestbewegung

 weitgehend apolitische Haltung der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit

(1.10.) wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung;

dabei verweist er/sie z.B. auf

 die Verwendung von Floskeln und Redensarten

 das Fehlen eines konkreten kommunikativen Bezugsrahmens / zeitlose Aktualität

 Korrespondenztexte des Autors / anderer Autoren

 die ästhetische Gestaltung

(1.11.) setzt sich mit Möglichkeiten u. Grenzen der Wirkung pol. Lyrik auseinander; dabei verweist er/sie auf

den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs- und  Rezeptionsbedingungen, Adressatenkreis, gesellschaftlichen Einfluss von Dichtern, die Sensibilisierung für eigenes Sprachverhalten, eigene Werthaltungen und gesellschaftliches Handeln etc.

13. Heinrich Heine: Zur Beruhigung (1844)

       Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief –

       Doch jener erwachte und bohrte tief

       In Cäsars Brust das kalte Messer!

       Die Römer waren Tyrannenfresser.

  5   Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.

       Ein jedes Volk hat seinen Geschmack,

       Ein jedes Volk hat seine Größe;

       In Schwaben kocht man die besten Klöße.

       Wir sind Germanen, gemütlich und brav,

10   Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,

       Und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,

       Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.

       Wir sind so treu wie Eichenholz,

       Auch Lindenholz, drauf sind wir stolz;

15   Im Land der Eichen und der Linden

       Wird niemals sich ein Brutus finden.

       Und wenn auch ein Brutus unter uns wär,

       Den Cäsar fänd er nimmermehr,

       Vergeblich würd’ er den Cäsar suchen;

20   Wir haben gute Pfefferkuchen.

       Wir haben sechsunddreißig Herrn

       (Ist nicht zuviel!), und einen Stern

       Trägt jeder schützend auf seinem Herzen,

       Und er braucht nicht zu fürchten die Iden des Märzen.

25   Wir nennen sie Väter, und Vaterland

       Benennen wir dasjenige Land,

       das erbeigentümlich gehört den Fürsten;

       Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.

       Wenn unser Vater spazieren geht,

30   Ziehn wir den Hut mit Pietät;

       Deutschland, die fromme Kinderstube,

       Ist keine römische Mördergrube.

Interpretation einer Schülerin (Gymnasium, Klasse 13)

Das von Heinrich Heine im Jahr 1844 veröffentlichte Gedicht „Zur Beruhigung” beschäftigt sich mit den politischen Problemen in Deutschland zu der Zeit, vor allem mit der Einstellung zum Deutschen Bund und richtete sich an das deutsche Volk während dieser vorrevolutionären Phase. Liest man das Gedicht zum ersten Mal, so könnte man denken, dass es einfach nur dazu dient, den Fürsten die Angst vor einem Umsturz zu nehmen. Jedoch erkennt man beim genaueren Lesen die Ironie, die hier vom Schriftsteller verwendet wurde, was typisch für viele Werke dieses Lyrikers ist. In dieser Dichtung verdeutlicht der Autor die Situation in Deutschland im Jahre 1844, also kurze Zeit vor der Märzrevolution. Heine strebt einen Vergleich des deutschen Volkes mit den Römern an, die er als Tyrannenmörder bezeichnet. Davon ausgehend macht er, unter vollem Gebrauch von seinem bekannten Sarkasmus und Ironie, deutlich, dass sich die Deutschen im Vormärz genauso verhalten haben.

„Zur Beruhigung” besteht aus 8 Strophen zu je 4 Zeilen, welche dem Reimschema aabb folgen (Paarreim). In der ersten Strophe leitet Heine das Gedicht ein, indem ein Vergleich der beiden Völker gezogen wird („Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief –”, Z.1). Mit „Wir” bezeichnet er das gesamte deutsche Volk, welches schläft und somit auch keine Gefahr von ihm ausgeht. Dies ist eine Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen. Mit dem Gedankenstrich am Ende der 1. Zeile wird wiederum eine Betonung auf das Verb „schlief” gelegt, das, obwohl es auf Brutus bezogen ist, durch den Vergleich auch eine Aussage über die Deutschen trifft. Auch stellt er diese mit den Mördern Cäsars gleich. Allerdings ändert sich dies in der zweiten Zeile, indem ein „Doch” (Z. 2) eingeworfen und somit verdeutlicht wird, dass Unterschiede vorhanden sind. Heine schreibt, dass „jener” (Brutus) „erwachte und bohrte” (Z. 2). Der erwachende Brutus ist gleichzustellen mit dem hoffentlich bald erwachenden deutschen Volk und das „Bohren” stellt eine Metapher für das Erdolchen der Herrscher dar. In der letzten Zeile der 1. Strophe folgert der Autor aus dieser Aktion, dass die Römer Tyrannenfresser waren und somit vor einem Mord nicht zurückschreckten, um sich damit eines unangenehmen Machthabers zu entledigen.

In der zweiten Strophe wird der zuvor angedeutete Unterschied direkt angesprochen: „Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.” (Z. 5). Damit verdeutlicht Heine, dass „Wir” keine Römer seien und daher auch keine Tyrannenfresser, sondern ein kultiviertes und zivilisiertes Volk, das Tabak raucht und sich den sinnlichen Begierden hingibt. In den nächsten beiden Zeilen spricht das lyrische Ich nicht von den Deutschen oder den Römern, sondern von Völkern allgemein. Dass „jedes Volk (…) seinen Geschmack” (Z. 6) und „seine Größe” (Z. 7) hat. Von der „Größe” kann man auch auf den Mut oder die Angst bezüglich eines Widerstandes gegen die Staatsmacht schließen. Die letzte Zeile der 2. Strophe (Z. 8 „In Schwaben kocht man die besten Klöße.”) ist wie ein plötzlicher Einwurf, und zwar ohne Zusammenhang zu den vorherigen Zeilen und hier nicht nur fehl am Platz, sondern auch noch vollkommen belanglos. Es wirkt daher eher als ein Mittel, die zuvor erläuterten Auffassungen ins Lächerliche zu ziehen. Somit wird der Sarkasmus aufgezeigt, der in fast jeder Zeile vorhanden ist. Aus diesem Grund müssen die ersten Strophen unter ein anderes Licht gestellt werden, und so kann man nun darauf schließen, dass Heine dem deutschen Volk zumindest das Potenzial zu einer Revolution einräumt.

Eine weitere Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen wird in der 3. Strophe durch die Äußerung „Wir sind Germanen, gemütlich und brav, / Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,” (Z.9-10) noch verstärkt, denn Pflanzen ist es nicht möglich zu schlafen/denken. Die wirkliche Bedeutung liegt jedoch darin, dass sich die Deutschen wahrscheinlich sehr intensiv mit den damaligen Geschehnissen auseinandersetzten. Es scheint, als spielt Heine auf die deutsche Treue an, die das Volk veranlasst, nie Hand an ihre Staatsoberhäupter zu legen. Aber wenn man den vom Autor so typischen Sarkasmus berücksichtigt, wird das genaue Gegenteil ausgesagt, sprich, dass es den Deutschen sehr wohl nach dem Blute ihrer Fürsten dürstet.

Die 4. Strophe führt den Gedanken der Treue fort durch „Wir sind so treu wie Eichenholz” (Z. 13). Eichenholz ist sehr beständig und hart. Dies könnte eine der ganz seltenen Stellen sein, in der Heine keinen Sarkasmus zu verstecken versucht. Jedoch wird eine Zeile weiter die deutsche Treue mit „Lindenholz” (Z. 14) verglichen. Lindenholz ist leicht verformbar und leicht zu bearbeiten. Es scheint also, als ob die deutschen Seelen und Geister Wachs in den Händen der Herrscher seien und deswegen kein „Tyrannenfresser” (Z. 4) unter diesen zu finden sei.

Die folgende Strophe ist auf zwei Arten zu deuten. Denn „Und wenn auch ein Brutus unter uns wär, / Den Cäsar fänd er nimmermehr, / Vergeblich würd er den Cäsar suchen;” kann sich entweder auf das politische Problem beziehen, dass die Fürsten zu viel Macht haben und ein „Brutus” niemals an diese herankommen könnte. Oder es soll auf die territoriale Situation der Partikularstaaten hinweisen, die zu viele „Cäsaren” (Fürsten) haben, und somit einem „Brutus” das Auffinden des Cäsaren unmöglich macht. Ein Anschlag auf einen höchsten Herrscher könnte es so nicht geben, da es einen solchen Führer ebenfalls nicht gibt und sich viele Fürsten die Gewalt über das eigentliche deutsche Herrschaftsgebiet teilen. Dies erweckt den Eindruck, dass Heine gegen die Vielstaaterei klagt und für einen einheitlichen Machthaber ist. Weiterhin kritisiert er, dass die Fürsten nicht mehr sind wie Cäsar. Cäsar festigte die römische Weltmachtstellung, gründete zahlreiche neue Kolonien, stellte die Wirtschaft auf eine gesunde Grundlage, begann zahlreiche bedeutende Bauwerke, ließ Rechte erfassen und führte den Julianischen Kalender ein. Die Fürsten waren im Deutschen Bund jedoch mehr an der Sicherung ihrer fürstlichen Rechte, als am Aufbau eines einheitlichen Nationalstaates interessiert. Mit „Wir haben gute Pfefferkuchen” (Z. 20) wirft der Autor wieder eine zusammenhangslose Zeile ein und zieht somit wieder alles zuvor Genannte ins Lächerliche.

In der 6. Strophe geht der Schriftsteller weiter auf das Thema der Kleinstaaterei ein, indem er mit den „sechsunddreißig Herrn” (Z. 21) beginnt, womit alle Fürsten der deutschen Staaten gemeint sind. Im darauf folgenden Vers zeigt Heine durch die äußerliche Gestaltung einer Zeile seinen Sarkasmus sehr deutlich auf, wie in keinem der restlichen Teile des Gedichts. Indem er „(Ist nicht zu viel!“, Z. 22) durch die Setzung der Klammern und des Ausrufezeichens versieht, hebt er somit noch einmal seine Meinung zur damaligen territorialen Lage hervor. Danach setzt er mit den Worten fort „und einen Stern/trägt jeder schützend auf seinem Herzen”, (Z. 22f.). Dieser „Stern” bezieht sich auf die Fürsten und stellt deren Adels- und Machtanspruch dar. Dazugehörig wird in Zeile 23 und 24 hinzugefügt, dass dieser sie beschütze und sie daher keine Furcht vor den Ideen des Vormärz haben müssen. Doch dies ist wieder nur eine von Ironie gespickte Textpassage von Heine, denn die revolutionären Gedanken richteten sich vor allem gegen die Regentschaft, die Machtgrundlagen und die Prinzipien des Adels.

Fortfahrend beschäftigt sich die vorletzte Strophe wieder mit der Thematik der Rolle der Fürsten und bezeichnet sie als „Väter” (Z. 25). Weiterhin benennt der Autor das Land, welches den Fürsten „erbeigentümlich” (Z. 27) gehört, als „Vaterland” (Z. 26). Dies ist wieder sarkastisch gemeint und soll einen falschen Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, darlegen. Denn wie kann EIN Volk, das deutsche Volk, zu mehreren Vaterländern zugehörig sein!? Zudem wird auch kritisiert, dass ein großes Land in mehrere Eigentümer unterteilt ist, denn es sollte eine Einheit sein, die auch dementsprechend regiert wird. Dies lässt auf eine demokratische Lösung der politischen Probleme in Deutschland schließen. Danach folgt in Zeile 28 zum dritten Mal eine Verspottung („Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.”), die wieder vollkommen zusammenhangslos eingefügt wurde und ein Fingerzeig Heines auf seinen Sarkasmus darstellt.

Die 8. und letzte Strophe von „Zur Beruhigung” steht nicht im direkten Zusammenhang zur vorherigen und bildet somit einen deutlich abgegrenzten Abschluss. Sie beginnt mit der Zeile 29-31 („Wenn unser Vater spazieren geht, / Ziehn wir den Hut mit Pietät;”) sehr ruhig und ausgeglichen, sogar fast idyllisch. Jedoch wirkt der letzte Vers im totalen Gegensatz dazu und zerstört die vorher aufgebaute Harmonie. Der „deutschen Kinderstube” (Z. 31) wird nun die „Mördergrube” (Z. 32) gegenübergestellt. Die Zeile 32 „Ist keine römische Mördergrube.” wirkt jedoch so sarkastisch, dass es schon fast wie ein Aufruf zu einer Revolution klingt.

Heinrich Heine schuf meiner Meinung nach ein Leitbild für alle politischen Gedichte. Er schrieb nicht nur einen plumpen Aufruf an das deutsche Volk, dass sie endlich „ihren Hintern hoch bekommen und Widerstand leisten sollen”, sondern er verpackt es viel überlegter und anspruchsvoller durch seinen Sarkasmus. Somit übt er mittels seiner wunderbar unterschwelligen Botschaften schwerste Kritik an der politischen Situation seines Vaterlandes in der Zeit des Vormärz. Mit seiner scharfzüngigen und brillanten Dichtung über den Zustand seiner Heimat, zeigt er dem Volk seine Fehler durch ironisch, verpönende Weise auf und gab ihm Anlass sich zu erheben. Schlussfolgernd ist zu sagen, dass der Titel des Gedichts „Zur Beruhigung” schon allein Ironie ist, denn für die damaligen Herrscher wird es alles andere als beruhigend gewesen sein.

14. Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1962)

soll der geier vergißmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom schakal,
daß er sich häute; vom wolf? soll
er sich selber ziehen die zähne?

  5   was gefällt euch nicht
an politruks und an päpsten,
was guckt ihr blöd aus der wäsche
auf den verlogenen bildschirm?

       wer näht denn dem general
10   den blutstreif an seine hosen? wer
zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
wer hängt sich stolz das blechkreuz
vor den knurrenden nabel? wer
nimmt das trinkgeld, den silberling,
15   den schweigepfennig? es gibt
viel bestohlene, wenig diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
lechzt denn nach lüge?

seht in den spiegel: feig,
20   scheuend die mühsal der wahrheit,
dem lernen abgeneigt, das denken
überantwortend den wölfen,
der nasenring euer teuerster schmuck,
keine täuschung zu dumm, kein trost
25   zu billig, jede erpressung
ist für euch noch zu milde.

ihr lämmer, schwestern sind,
mit euch verglichen, die krähen:
ihr blendet einer den andern.
30   brüderlichkeit herrscht
unter den wölfen:
sie gehen in rudeln.

gelobt sei´n die räuber; ihr,
einladend zur vergewaltigung,
35   werft euch aufs faule bett
des gehorsams, winselnd noch
lügt ihr, zerrissen
wollt ihr werden, ihr
39   ändert die welt nicht mehr.

Kurzinterpretation eines Schülers (Klasse 13)

In seinem 1962 verfassten Gedicht „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ klagt Hans Magnus Enzensberger den durchschnittlichen, politisch nicht engagierten, aber wirtschaftlich benachteiligten Arbeitnehmer an, indem er ihn unter Rückgriff auf Metaphern bewusst macht, dass er seine Opferrolle gegenüber den politisch wie wirtschaftlich Mächtigen selbst verschuldet, weil er durch sein Handeln ihre Machtausübung erst ermöglicht.

Zur formalen Seite lässt sich sagen, dass das Gedicht ohne Reim auskommt und in freien Metren verfasst ist, so dass die Einteilung der 40 Zeilen in fünf tendenziell kürzer werdende Abschnitte nur dazu dient, Absätze von der Qualität gedanklicher Einschnitte zu schaffen. Auffällig ist die Kleinschreibung aller Wörter, in Hinblick auf Interpunktion und Syntax genügt Enzensberger weitgehend den gängigen Regeln der Prosasprache.

Enzensberger beginnt seinen Gedankengang – man könnte mit Blick auf die Überschrift von einem Plädoyer sprechen – mit einer geballten hintereinander Reihung rhetorischer Fragen, die sich an den vielzitierten „kleinen Mann“ in unserer Gesellschaft richten, der sich beim Ansehen der Fernsehnachrichten über die großen Einflussträger in Politik, Wirtschaft und auch Gesellschaft („politruks und päpste“) empört. Durch seine Eingangsfragen, in denen Enzensberger die Mächtigen bildlich als Geier, Schakal und Wolf darstellt, will er dem entrüsteten Kleinbürgertum verdeutlichen, dass man von „denen da oben“ einfach nicht erwarten kann, dass sie sich aus eigenem Antrieb ändern, also „sich selber … die Zähne [ziehen]“. Schließlich liegt es ja in der Natur eines Geiers und Schakals, Aas zu fressen und die Gefährlichkeit des Wolfes ist ebenfalls in seinem Wesen als Raubtier begründet.

Im zweiten Abschnitt erfolgt die grobe Übertragung dieser Tiersymbolik auf gesellschaftliche Verhältnisse: Nachdem sich die Kritik am „blöden“ Betrachter des „verlogenen bildschirms“ schon am Ende des ersten Abschnitts gesteigert hat, prangert der Autor nun – wiederum mit vielen rhetorischen Fragen – das Verhalten der Kleinbürger als systemtragend und damit für die Unrechtsausübung der Machthaber förderlich an. Die Begriffe „general“, „wucherer“, „blechkreuz“ etc. sind hier jeweils als pars pro toto zu verstehen. Sie repräsentieren moralisch negativ behaftete gesellschaftliche Kräfte (Militär, Großkapital), die jedoch erst in Interaktion mit den breiten Gesellschaftsschichten unter ihnen wirksam werden können. So können beispielsweise die militärischen Werte Hierarchie, Ehre und Tapferkeit (symbolisiert durch „blutstreif“ und „blechkreuz“) nur auf der Grundlage breiter gesellschaftlicher Anerkennung bestehen („…wer applaudiert ihnen denn, wer steckt die abzeichen an, …“). Die Frage „wer hängt sich stolz das blechkreuz vor den knurrenden nabel?“ kann als historische Bezugnahme auf den teilweise fanatischen Einsatz deutscher Wehrmachtssoldaten gedeutet werden, die sich über ihren körperlichen Mangel aufgrund Unterversorgung mit Nahrungsmitteln durch militärische Ehrenabzeichen hinwegtrösten ließen. Mit dem bewusst abwertend-sachlichen Ausdruck „blechkreuz“ meint Enzensberger offenbar das „Eiserne Kreuz“ oder ähnliche Orden.

Aber auch im wirtschaftlichen Bereich machen diejenigen, die sich unterprivilegiert fühlen, sich in Wahrheit zu Sekundanten und Wasserträgern der Privilegierten. Sie ordnen sich den ökonomischen Strukturen unter womit sie sich selbst schaden, indem sie es den Reichen ermöglichen, den Reichtum auf ihre Kosten noch weiter auszubauen. Dabei lassen sie sich mit einem „trinkgeld“ abspeisen und mit einem „schweigepfennig“ ruhigstellen. Aus der Feststellung „es gibt viele bestohlene, wenig diebe“ spricht wohl die vom Linksradikalen Enzensberger aus der marxistischen Ideologie entnommene Vorstellung von der zwangsläufigen Akkumulation von Kapital in den Händen weniger auf der einen Seite und vom Elend der Massen auf der anderen. Dies kann nach Marx nur so lange „gutgehen“ wie ein ideologischer Überbau die Gesellschaft zusammenhält und somit eine Revolution des Proletariats verhindert. Was Enzensberger nun den Benachteiligten dieser Entwicklung vorwirft – wie es auch Bertolt Brecht in seinen Werken zu tun pflegt – ist das bereitwillige Festhalten an dieser falschen Ideologie („…, wer lechzt nach der lüge?“).

Im dritten Abschnitt wird dieser systemerhaltende Mechanismus und vor allem der Beitrag, den die Kleinbürger dazu leisten, schonungslos konkretisiert: Aus Feigheit und Bequemlichkeit verzichten sie auf eine eigene aufrichtige Wahrheitssuche und überlassen das Denken ihren Ausbeutern, den „wölfen“. Sie sind leicht zu führen („der nasenring euer teuerster schmuck, …“) und zufriedenzustellen („keine täuschung zu dumm, kein trost zu billig, …“).

Eine sprachliche Auffälligkeit in diesem Abschnitt ist der gehäufte Gebrauch von Partizipien („scheuend“, „abgeneigt“, „überantwortend“) und die hintereinander Reihung von durch Kommata abgetrennten Ellipsen („der nasenring…billig,…“). Das verstärkt die Eindringlichkeit des negativen Bildes, das hier vom einfachen, politisch passiven Arbeiter gezeichnet wird, weil viele Eigenschaften auf engem Raum gebündelt präsentiert werden und man – aufgrund des sperrigen Satzbaus – nicht so leicht über diese Stelle hinwegliest.

Aus diesem letzten Grund nimmt Enzensberger vermutlich auch im ersten Satz des dritten Abschnitts eine Inversion vor: „…, schwestern, mit euch verglichen, die krähen: …“.

Nachdem schon zuvor die Erwähnung der Wölfe in der Rolle der wirtschaftlichen Ausbeuter und politisch Mächtigen den Bezug zum Titel hergestellt hat, werden jetzt entsprechend die Leser, an die der Autor das Gedicht adressiert, als „lämmer“ direkt angesprochen. Diesen wirft der Autor vor, sich im Grunde weniger sozial als Krähen und Wölfe („sie gehen [immerhin] in rudeln“) zu verhalten, da sie sich gegenseitig eine gesellschaftliche Moral vorgaukeln („ihr blendet einer den andern“).

Den letzten Abschnitt leitet Enzensberger mit dem provokativen Satz „gelobt sein die räuber“ ein. Dies meint er nicht wörtlich, sondern nur im Vergleich zur völlig passiven, bereitwilligen und im größten Leiden noch verlogenen Handlungsweise der Opfer.

Der deutliche Übertreibungscharakter dieser Schlusssätze („einladend zur vergewaltigung“, „zerrissen wollt ihr werden“) ermöglicht eine eindringliche, komprimierte Zusammenfassung des Kernproblems, das den Gegenstand des Gedichts bildet: Das Proletariat trägt die Schuld an seiner benachteiligten Situation, weil ihm der Wille zur Veränderung der Welt fehlt, nicht aber die Macht.

Vor diesem Hintergrund ist das Gedicht als eine sozialrevolutionäres Werk einzuschätzen, das die Unterprivilegierten zum Erkennen ihrer eigenen Situation und zum gemeinsamen Ändern der Umstände auffordert (im Sinne des alten Arbeiterliedes „Mann der Arbeit, aufgewacht \ und erkenne Deine Macht! \ Alle Räder stehen still \ wenn Dein starker Arm es will…“).

Das Gedicht ist handwerklich geschickt gestaltet und könnte – rein von der Versprachlichung her – eine große Überzeugungswirkung haben, wenn auch die inhaltliche Argumentation viele Ansatzpunkte zur Kritik bietet, da sie sehr undifferenziert von der marxistischen Grundhaltung ausgeht.

15. Erich Fried: Spruch (31.12.1945)

1     Ich bin der Sieg

2     mein Vater war der Krieg

3     der Friede ist mein lieber Sohn

4     der gleicht meinem Vater schon

Erich Fried – zur Person:

Erich Fried, geboren 1921 in Wien war ein österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist jüdischer Herkunft. Nach dem Tod seines Vaters Hugo 1938, verursacht durch Folterungen während eines Verhörs durch die Gestapo, wanderte Fried mit seiner Mutter aus dem mittlerweile an Deutschland angegliederten Österreich nach London aus. Dort schlug er sich während des Krieges mit Gelegenheitsarbeit durch und arbeitete anschließend für verschiedenste neue Zeitschriften. Fried war politisch sehr engagiert. So trat er dem „Freien Deutschen Kulturbund“, „Young Austria“, sowie später auch dem „Kommunistischen Jugendverband“ bei, den er allerdings 1943 aufgrund stalinistischer Tendenzen wieder verließ. Von 1952 bis 1963 arbeitete Fried als politischer Kommentator für den German Service der BBC. Seinen ersten Gedichtband, die antifaschistische Lyrik-Sammlung „Deutschland“, erschien 1944. Im Jahr 1963 trat er der durch Hans-Werner Richter gegründeten literarischen Gruppe 47 bei. Nach 1968 engagierte er sich insbesondere in Deutschland schriftstellerisch und politisch. 1988 verstarb der Lyriker in Baden-Baden an Darmkrebs.

2 Kurzinterpretationen

1. In dem Gedicht „Spruch“ von Erich Fried (1921-1988), das er 1945/46 auf einer Neujahrkarte

verschickte, behandelt der Autor die Beziehung von Krieg und Frieden. Das Gedicht gehört zur Nachkriegsliteratur, was sich auch in der behandelten Thematik Krieg/Frieden zeigt.

In seinem Gedicht „Spruch“ stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden konträren Punkten „Krieg“ und „Frieden“ her. In diesem Vergleich stellt der „Krieg“ den Vater und der Friede dessen Enkel dar. Das lyrische Ich, der „Sieg“, versteht sich als Übergang, der beide verbindet. Bedenklich scheint dem Sprecher die politische Situation: Der Friede nehme bereits erneut die Gestalt des Krieges an.

Das kurze Spruch- Gedicht hat vier Zeilen, die in Form von Paarreimen organisiert sind. Die Zeilen haben kein einheitliches Metrum. Die Sätze, die ausschließlich Aussagen darstellen, sind einfach strukturiert und verwenden eine schlichte, verständliche Sprache. Satzzeichen tauchen nicht auf. Der Charakter des Gedichtes ist ein einfacher Spruch, wie bereits der Titel des Gedichtes vermuten lässt. „Spruch“, das lässt an Kalendersprüche oder knapp formulierte Lebensweisheiten erinnern. Dieser Vierzeiler soll einfach zugänglich und leicht zu behalten sein, weswegen eine gehobene Sprachwahl nicht sinnvoll erscheint.

Fried verwendet in seinem Gedicht eine Reihe von Personifikationen. So stellt er „Sieg“ (Z.1) als lyrische Ich, den „Krieg“ (Z. 2) als dessen Vater und den „Frieden“ (Z. 3) als den Sohn des lyrischen Ichs dar. Indem er Krieg und Frieden gegenüberstellt bedient sich der Dichter einer Antithese, die er in Form eines Vergleiches formuliert. Damit stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden gegensätzlichen Dingen „Krieg“ und „Frieden“ her. Diese Verbindung kommt über die Komponente „Sieg“ zustande. Das bedeutet, dass am Anfang der Krieg in Form desVaters stand. Dieser brachte das lyrische Ich, somit den Sieg, hervor. Dieser wiederum zeugte einen Sohn und zwar den Frieden.

Abschließend schreibt Fried: „Der [Sohn] gleicht meinem Vater schon“ (Z. 4). Das bedeutet, dass der Sohn dem Großvater, also der Friede dem Krieg, immer ähnlicher werde. Damit stellt der Autor die These auf, Krieg und Frieden seien keine Gegensätze, sondern sich ähnelnde Dinge. Aus Krieg werde durch den Sieg einer Partei Frieden, der nach einiger Zeit wieder zu einem neue Krieg führe.

Diese gesellschaftskritische These ist ein Resultat der Erlebnisse und Erfahrungen Frieds während des Zweiten Weltkriegs, als er vor den Nationalsozialisten, die bereits seinen Vater umgebracht haben, nach London flüchtet, wo er den Krieg erlebt. Es zeigt sich, dass der Autor dem Frieden nicht traut. Diese lässt sich an der Phase zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg veranschaulichen. Dort ist aus dem Frieden, der dem Deutschen Reich diktiert wurde, ein neuer Krieg entstanden.

Das Gedicht „Spruch“ ist ein typisches Beispiel für ein Gedicht des politisch sehr engagierten Erich Fried, in dem er in der literarischen „Stunde Null“ den eigenen politischen Standpunkt und seine Befürchtungen verarbeitet.

2. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ ist uns von Heraklit von Ephesus (ca. 500 v. Chr.) überliefert. Und auch Erich Fried bezeichnet in seinem „Spruch“ aus dem Jahre 1945 den Krieg als den Vater des Sieges, verkörpert durch das lyrische Ich, und als den Großvater des Friedens.

Während Heraklits Sentenz auf den ersten Blick und ohne Kenntnis seiner Philosophie schwierig zu erschließen ist, schafft Fried in seinem Vierzeiler ein sofortiges Verständnis beim Leser, indem er Heraklits Familien-Analogie weiterführt und ein ausgeprägtes Porträt der Familie menschlicher Lauf der Dinge liefert. Denn nicht weniger beschreibt der Spruch als den Gang der Welt seit Menschengedenken.

Zum Neujahrswechsel 1945/46 versandte Fried den Spruch auf einer Postkarte an seine Freunde. Ein pessimistischer Neujahrgruß, ein halbes Jahr nach Ende des blutigsten aller jemals gefochtenen Kriege. Der geborene Jude Fried verfolgte das Kriegsende von London aus, nachdem er 1938, auf den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland hin, aus Wien geflohen war.

Großbritannien gehörte zu den Siegermächten des zweiten Weltkrieges, doch die Menschen litten Not. Vor allem für überlebende Juden war der Untergang der Nazis kaum als Sieg über jene zu bezeichnen, in Anbetracht der grausamen Vergehen an Familienmitgliedern und Freunden. Schon die erste Zeile entpuppt sich demnach im historischen Kontext als ambivalent. Ein Sieg ist nicht immer glücklich, ein Sieg macht nicht immer glücklich.

Ein Sieg folgt immer auf einen Krieg bzw. Konflikt – auch Heraklits „Krieg“ ist in diesem allgemeinen Sinne zu verstehen: Das altgriechische Wort „polemos“ kann auch Kampf, Konflikt bedeuten; und auf einen Sieg folgt immer eine kurze oder lange Periode des Friedens. Krieg und Frieden wechseln sich also immer ab, denn nach dem Frieden steht irgendwann wieder der Krieg vor der Tür, der dem Frieden nach Fried sogar „gleicht“.

Diese Periodizität zweier Zustände finden wir nicht nur in Krieg und Frieden, Vater und Sohn, sondern in vielfältiger Weise im natürlichen Lauf der Dinge. Tag und Nacht wechseln sich ab, Sommer und Winter, Warmzeit und Eiszeit. Abstrakt lässt sich von einem Dualismus der Prinzipien Konstruktion und Destruktion sprechen, und vor allem am zweiten Weltkrieg ist dies sehr anschaulich. Fried prophezeite also eine Periode des Friedens, und diese war eine Phase des Wiederaufbaus, der Konstruktion. Nachdem die Kriegsmächte ihre Städte im zweiten Weltkrieg gegenseitig zerbombt, also destruiert hatten, bauten sie sie nach 1945 wieder auf.

Die verheerende Zerstörung Deutschlands war überhaupt die Voraussetzung für einen Neuanfang zur Stunde Null und somit für das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre.

Frieds Spruch ist also sehr realistisch; gleichzeitig aber auch pessimistisch, weil er pünktlich zum ersten Friedensjahr einen neuen Krieg prophezeit, indem er die Ereignisse in einen unentrinnbaren, weil natürlichen Kreislauf stellt. Das lapidare Auslassen von Satzzeichen verstärkt den fatalistischen Charakter des Gedichts. Denn was nützt (deutsche) Korrektheit schon, wenn es um Leben und Tod geht. Frieds Erkenntnis scheint banal, was unterstützt wird durch den pauschalen Titel und den einfachen Paarreim, doch sie ist eminent zum Verständnis der Welt.

Dazu lohnt es, das Gedicht aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ein Sohn erfordert Vater und Großvater, ohne Großvater kein Enkel. Stellen wir uns eine Welt vor ohne Krieg, ohne Streit, ohne Konflikt. Wer wüsste in einer solchen Welt den Wert von Frieden und Harmonie zu schätzen?

Sobald etwas selbstverständlich ist, schätzen wir es nicht mehr. Gäbe es keine Krankheiten auf der Welt, so gäbe es auch keine Gesundheit, weil Gesundheit nur aus ihrem Kontrastpartner ihre Existenzberechtigung schöpft. Darf ich meinen (Groß)Vater überhaupt verurteilen? Verdanke ich ihm doch meine Existenz!

Diese dialektische Weltsicht lohnt es sich, gerade in Friedenszeiten wie unserer, immer wieder vor Augen zu führen. Das Gute ist nicht selbstverständlich, und es ist nur gut, weil es auch Schlechtes gibt.

16. Erich Fried: Was es ist (1979)

       Es ist Unsinn

       sagt die Vernunft

       Es ist was es ist

       sagt die Liebe

  5   Es ist Unglück

       sagt die Berechnung

       Es ist nichts als Schmerz

       sagt die Angst

       Es ist aussichtslos

10   sagt die Einsicht

       Es ist was es ist

       sagt die Liebe

       Es ist lächerlich

       sagt der Stolz

15   Es ist leichtsinnig

       sagt die Vorsicht

       Es ist unmöglich

       sagt die Erfahrung

       Es ist was es ist

20   sagt die Liebe

Kurzinterpretation

Es ist eines der absoluten Liebesgedichte, u. es handelt sich um eine absolute Definition von Liebe! Der Titel kommt schon – sich selbst – behauptend daher: „Was es ist“! Es heißt nicht: Was ist es? Es ist eben keine Frage, keine Befragung, keine Unsicherheit, sondern nur mehr Antwort, Erklärung, Tatsache, Existenz. Und es ist das „es“, das Faktum per se! Und es existiert, unabhängig von den großen gedanklichen und emotionalen Versuchen, die die Liebe in ihrem existentiellen und essentiellen Da-Sein in Frage stellen wollen.

Es treten auf in der Reihenfolge ihrer vergeblichen Bemühungen: die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie alle behaupten Dinge über unsere Liebe, die die Liebe vollkommen aufzuheben und zu zerstören trachten!

Die Vernunft! (Pah, was ist schon die Vernunft? Sie bemüht sich vernünftig zu sein, „sei doch vernünftig“ etc.) sagt gleich, fällt mit der Tür ins Haus, darf als erste sprechen, angreifen: das ist Unsinn, Quatsch, Einbildung, gibt es gar nicht, ohne irgendwelchen Sinn, Unsinn, Verkehrung allen Lebens, das darf es nicht geben. Und bei Unsinn kann auch die Bedeutungsebene von Sinnen, Sinnenhaftigkeit gemeint sein, also Unsinn: du täuschst dich, in dem was deine Sinne da wahrnehmen an Augenblicken, Gerüchen, Tasten, Streicheln, Wärme… alles Unsinn, sagt die Vernunft.

Die Liebe antwortet ruhig, gleichmütig, stets in der Gewissheit in immer gleicher Formulierung, gibt Antwort, stellt sich geduldig den Angriffen, unverletzbar, unerschütterlich, und sie wird das letzte Wort behalten mit eben dem gleichen, alle Not wendenden Wort.

Die Berechnung tritt auf, oh ja jene Instanz in uns, die die teils unfassbaren Dinge des Lebens in ein berechenbares Maß zwingen will – vergeblich. Sie ist kalt, berechnend, sie rechnet mit dem Schlimmsten, sie droht mit dem Unglück, das alles zerstört. (siehe auch das Gedicht von Fried: Fast Glück)

Von Unsinn zu Unglück handelt es sich durch die Wiederholung um eine poetische Steigerung, um eine Verstärkung des Angriffs auf die Liebe.

Immer drohen die „Angreifer“ mit dem, was kommen könnte, zuerst: mit dem Schmerz droht die Angst, unsere Angst, es könnte schief gehen, vergeblich sein, wehtun, wenn es scheitert; die Einsicht (welche Einsicht? Wessen Einsicht?) droht sogar mit der Aussichtslosigkeit, fast Blindheit: du gewinnst nichts mit der Liebe. „es ist aussichtslos“ hat in dieser Formulierung sogar noch einen stärkeren Klang. Und Berechnung, Angst und Einsicht fallen gemeinsam über die Liebe her, und behaupten eben auch: „So ist es!“, nicht so sei es , oder es könnte so sein. Sie befragen die Liebe nicht, sondern „hauen ihr ihre Behauptungen um die Ohren“. Wieder antwortet die Liebe stark und fest.

Und es droht der Liebe sogar noch mehr an Gefährdung: es ist lächerlich, man wird dich auslachen, du wirst isoliert und man wird dich für verrückt halten, so kommt der Stolz scheinbar stolz daher. Wie oft sind wir in unseren liebevollen Verrückungen uns selbst nicht sicher und machen die tollsten Sachen, um unserer Liebe zu dienen, sie zu erfüllen auch gegen alle Anfeindungen, als könnten wir den Verlust der Liebe unbeschadet überstehen, aus ihrem Nichterfüllen auch noch Stolz ziehen: das hab ich hinter mir. Bitterer Stolz, eine Einsamkeit (der „Hagestolz“), die die Liebe verraten hat.

Da meldet sich die Vorsicht: es ist leichtsinnig, du gefährdest deine Existenz, pass auf, was du tust, wenn du der Liebe folgst, begehst du einen großen Fehler und hinterher tut es dir leid.

Und da tritt auch noch die Erfahrung auf den Plan: sie behauptet, dass doch das ganze Leben bisher eben ohne die Liebe funktioniert habe, dass es sie gar nicht gibt, sie sei unmöglich.

Das ist nun der Gipfel der Unverfrorenheit, die totale Infragestellung der Existenz von Liebe, man hatte sich eingerichtet und mit Mario Simmel: „Liebe ist nur ein Wort“ nachgeplappert, nach all den schwierigen Erfahrungen und Verlusten haben wir einfach behauptet: gibt`s nicht, kommt bei uns nicht vor. Um die ersten Verluste zu schützen, um unser Weiterleben im mittelmäßigen Dahin-Dümpeln zu rechtfertigen, um den Riss zwischen liebvoller Utopie und dunklem Alltag wenigstens rhetorisch zu überdecken, um die Balance des Ringens zwischen Pessimismus und Optimismus jeweiligen Situationen verräterisch anzupassen, haben wir die Liebe und die Liebenden sich immer weiter wie „Scheusal“ zurückziehen und vereinsamen lassen.

Aber: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“

Punkt. Aus! So ist es. Es ist da. Und es ist unvernichtbar. Und es erfüllt uns, unverwundbar gegen die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie bildet die Grundlage allen Lebens, kein noch so großes Bemühen, sie zu verleugnen, kann sie überhaupt in Frage stellen.

Und sie ist jeder noch so schlüssigen Erklärung der Vernunft, der Berechnung, der Angst, der Einsicht, des Stolzes und der Vorsicht unerreichbar.

Dieses Gedicht tut allen Liebenden gut, die da zweifeln und fragen, die angegriffen werden und manchmal vor überbordender Liebe kaum mehr wissen, wie ihnen geschieht, und dass sie auserwählt sind, die Welt zusammenzuhalten, ohne dafür eine Erklärung zu haben, nur die innere Kraft.

„Wenn dir die Liebe winkt, folge ihr, möge das unterm Gefieder versteckte Schwert dich auch töten“ (aus: Ghalil Gibran, Der Prophet“)

Erich Fried hat mit diesem Gedicht in dieser sprachlichen Pointierung eines der grundlegendsten Gedichte und Verdichtungen über die Liebe geschaffen.

Das Gedicht teilt sich mit, gibt sich aber nicht preis. Es gibt die Liebe, die hier spricht, nicht preis, sondern lässt sie auf deren Anfeindungen mit einer in sich ruhenden Kraft reagieren.

„Es ist was es, sagt die Liebe“ so die interpunktionslose handschriftliche Anordnung durch Erich Fried selbst, die sich einer Interpretation nicht gleich erschließt. Wollte er die Einheit der Aussage betonen?

Die „Vernunft“ steht in der 1. Strophe herausgehoben einleitend und schafft der „Liebe“ Raum sich zu exponieren; dann folgen zwei Strophen, in denen jeweils drei „Gegner“ auftreten, die sich in den Strophen noch steigern und in der Behauptung der Unmöglichkeit von Liebe gipfeln. Jeder Liebende spürt mit jeder Zeile seine Kraft zur Liebe wachsen, weil er sich dieser poetischen Provokation mit Liebe entgegenstellen will. Insofern hat Fried ein Gedicht geschaffen, das uns stärken soll und tut.

ZUR FORTSETZUNG ALLTAGS- & LIEBESLYRIK 2  

Goethe will also mit seinem Gedicht zum Ausdruck bringen, dass sich alles um uns herum ändert, vergänglich ist, auch unser Körper, dass aber unsere Seele und unser Verstand, was also unseren Charakter ausmacht, unvergänglich sind. Er sieht die Welt in ständigem Wandel, das Individuum aber als etwas, das in seiner Einzigartigkeit trotz kleiner Veränderungen im Grunde gleich bleibt.

1.1. Märchen in Europa

Schon im 16. und 17. Jahrhundert schufen die Italiener Giovanni Straparola und Giovanni Battista Basile ganze Märchenzyklen (s.u.). Die sogenannten Feenmärchen waren im Frankreich des 17. Jahrhunderts sehr beliebt als Unterhaltung für den Adel. Ab 1704 erschloss die Übersetzung der „Geschichten aus 1001 Nacht“ von Antoine Galland neue Märchenwelten. Bereits 1697 hatte Charles Perrault eine französische Märchen-sammlung vorgelegt, die im 18. Jahrhundert auch in Deutschland erschien. „Dornröschen“, „Rotkäppchen“ und „Der gestiefelte Kater“ gehen nachweislich auf seine Sammlung zurück (s.u. Märchen Nr. 3 +5).

Im Unterschied zur Sage und Legende sind Märchen frei erfunden und ihre Handlung ist weder zeitlich noch örtlich festgelegt. Allerdings ist die Abgrenzung vor allem zwischen mythologischer Sage und Märchen unscharf, beide Gattungen sind eng verwandt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Märchen Dornröschen, das etwa von Friedrich Panzer als märchenhaft ‚entschärfte‘ Fassung der Brünnhilden-Sage aus dem Umkreis der Nibelungensage betrachtet wird. Dabei kann man die Waberlohe als zur Rosenhecke verniedlicht und die Nornen als zu Feen verharmlost ansehen.

Neben Märchen, Sage und Legende gibt es noch weitere Erzählformen wie Schwank, Witz, Rätsel, Novellen etc. die sich teilweise überlappen, so dass es Mischformen wie Schwankmärchen, Legendenmärchen, Rätselmärchen, Tiermärchen etc. gibt. Dies soll die nachstehende Abbildung veranschaulichen:

Charakteristisch für Märchen ist unter anderem das Erscheinen phantastischer Elemente in Form von sprechenden und wie Menschen handelnden Tieren, von Zaubereien mit Hilfe von Hexen oder Zauberern, von Riesen und Zwergen, Geistern und Fabeltieren (Einhorn, Drache usw.); gleichzeitig tragen viele Märchen sozialrealistische oder -utopische Züge und sagen viel über die gesellschaftlichen Bedingungen, z. B. über Herrschaft und Knechtschaft, Armut und Hunger oder auch Familienstrukturen zur Zeit ihrer Entstehung, Umformung oder schriftlichen Fixierung aus. Nach der schriftlichen Fixierung der Volksmärchen setzte eine mediale Diversifikation ein (Bilder, Illustrationen, Übersetzungen, Nacherzählungen, Parodien, Dramatisierungen, Verfilmungen, Vertonungen etc.), die nun an die Stelle der mündlichen Weitergabe trat. Insofern ist die ‚Rettung‘ der Märchen etwa durch die Brüder Grimm zwar einerseits begrüßenswert, aber andererseits setzt dies auch der mündlichen Weitergabe eines mono-medialen Texttyps ein jähes Ende.

Erst im 18. Jahrhundert begann der Siegeszug des Märchens als Sammelbegriff für die Gattung. Dabei wird vor allem an die französischen Feenmärchen angeschlossen, die conte de fees, ins Englische übersetzt als fairy tales. Märchen wird seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert oft synonym mit Volksmärchen verwendet. Seine besondere, bis heute gültige Prägung erfuhr der Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der deutschen Romantik durch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, André Jolles (Einfache Formen, s.u. Nr. 9) hat daher schon 1930 zu Recht von der „Gattung Grimm“ gesprochen.

1.2. Volksmärchen

Hier ist zunächst der traditionelle Zugriff auf das Volksmärchen als ursprüngliches Märchen oder als Märchen im engeren Sinn zu erläutern. Eine ältere Begriffsbestimmung lautet: Zum Begriff des Volksmärchens gehört, dass es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist, während man das Kunstmärchen zur Individualliteratur rechnet, geschaffen von einzelnen Dichtern und genau fixiert, heute meist schriftlich, in früheren Kulturen durch Auswendiglernen überliefert. Das hier betonte Definitionsmerkmal der mündlichen Tradierung ist heute nicht mehr haltbar. Die mündliche Weitergabe von Märchen – womöglich durch eine alte Bäuerin, die sie ihren Enkeln abends am Kaminfeuer erzählt – ist ein Mythos. Auch die Brüder Grimm haben ihre Märchen entweder älteren Märchensammlungen entnommen oder von „überdurchschnittlich gebildete(n) Frauen aus gutsituierten Familien“ erhalten (besonders von Marie Hasenpflug sowie Mutter und Tochter Wild, Heinz Rölleke, S.76, s.u. Nr.19) und dann im Sinne ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ z.T. sehr stark (‚kindgerecht‘) bearbeitet.

Alle Märchen haben einen Autor, selbst wenn sich dieser heute nicht mehr feststellen lässt. Dass Autoren voneinander abgeschrieben haben, ist nichts Neues und schon gar kein Grund, eine Überlieferung durch das ,Volk‘ – was immer das sein mag – anzunehmen. Bearbeitungen von Stoffen sind originäre Leistungen von Autoren, nicht nur bei Märchen – kein Mensch würde auf die Idee kommen, Goethes Faust oder Thomas Manns Doktor Faustus als reine Bearbeitungen des mittelalterlichen Sagenstoffes einzustufen. Bestimmte Stoffe sind so alt wie die Menschheit, aber das hat nichts mit der Tradierung, sondern vielmehr etwas mit den zentralen Bedürfnissen und Problemen der Menschen zu tun, die überall auf der Welt gleich oder ähnlich sind.

Das Besondere der mündlichen Tradierung soll nicht geleugnet werden, es gilt nur, seine Bedeutung zu relativieren. Da bis ins 18. Jahrhundert schriftliche Zeugnisse u.a. in Deutschland fehlten oder schwer zugänglich waren, weil die Märcheninteressierten Analphabeten waren, sind zweifellos durch das mündliche Erzählen Veränderungen vorgenommen worden, die sich gehalten haben oder wiederum Grundlage für weitere Veränderungen wurden (nach dem Prinzip der ,stillen Post‘). Solche Vorgänge lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren, und es scheint deshalb müßig, darüber nachzudenken, ob man die Personen, die stoffliche Veränderungen initiierten, als Autoren etikettiert. Auch Lüthis Begriff des „Zurechterzählens“ (Lüthi, s.u. Nr.12) im Sinne einer Vervollkommnung und Weiterentwicklung hilft bei einer fachgerechten Interpretation nicht weiter.

Volksmärchen, für die prototypisch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm stehen, lassen sich am leichtesten über textinterne Merkmale bestimmen. Ihre Handlung ist (immer idealtypisch gesprochen) einsträngig, es gibt keine Nebenhandlungen. Das Geschehen ist ort- und zeitlos, alle entsprechenden Angaben sind so allgemein, dass man nicht rekonstruieren kann, wann und wo es sich zuträgt. Die Figuren sind eindimensional, flächig, also entweder gut oder böse, klug oder dumm, wenn beide Merkmalspaare vorkommen, gut und klug oder böse und dumm. Eine Psychologisierung findet nicht statt. Bestimmte Figuren kehren immer wieder: Königinnen und Prinzessinnen, Könige und Prinzen als gesellschaftliche Rollenzuschreibungen, Schwester und Bruder, Mutter, Vater und Stiefmutter als familiäre Rollenzuschreibungen. Daneben dienen auch Handwerksberufe zur Figurencharakterisierung. Namen finden sich selten (außer, sie sind sprechend), eher schon Attribute, z.B. ,,Das tapfere Schneiderlein“. Die Heldin oder der Held des Volksmärchens wird gleich zu Beginn mit einer Mangelsituation oder einem Problem konfrontiert, die es abzustellen oder das es zu lösen gilt. Auf dem Weg zum guten Ende helfen wunderbare Requisiten oder Figuren. In Volksmärchen können Tiere sprechen und Menschen sich mit ihnen unterhalten, manchmal gilt dies auch für Pflanzen, Minerale, Metalle oder Gebrauchsgegenstände.

Das Volksmärchen ist sprachlich einfach; es gibt hauptsächlich Hauptsätze, keine schwierigen Vokabeln und immer wiederkehrende Formeln. Auch die Symbolik und Metaphorik ist einfach und einprägsam. Die wichtigsten Symbolzahlen finden Verwendung: 3, 4, 7, 12 und 13.

Ihre Entstehung verdanken die Märchen dem Bedürfnis nach einer gemeinsamen Kultur und Geschichte der deutschsprachigen Gebiete sowie nach politischer Einheit und dem nach Transzendenz.

Mit der Französischen Revolution wurde die alte politische Ordnung des Feudalstaates in Frage gestellt, das moderne Konzept der Nation wurde populär. Grundlage waren die politische Partizipation des Bürgertums und das Aufgehobensein in einer Gruppe, die sich mit der eigenen Nation identifizierte. Durch die napoleonische Besetzung und die anschließende Restauration überkommener Ordnungen auf dem Wiener Kongress von 1815 war das Bürgertum aber weiterhin von Mitbestimmung und nationaler Identitätsbildung weit entfernt – nur auf kulturellem Gebiet waren die Bürger autonom, auf diesem Gebiet konnten sie sich und ihre Anliegen verwirklichen.

Mit Ausgang des 18. Jahrhunderts entstand ein wieder stärkeres Bedürfnis nach Transzendenz. Die Religion hatte als alleiniger Wegweiser durch das Leben ausgedient, die Entwicklung der Naturwissenschaften und der technische Fortschritt hatten dem Individuum bisher ungeahnte Freiheiten gebracht. Die Kehrseite von Freiheit und Wohlstand war Orientierungslosigkeit, auch fehlende Geborgenheit als Teil eines größeren Ganzen. Gesellschaftlich-praktisch war die Antwort das Konzept der Nation, philosophisch hingegen die Formulierung eines neuen Natur- und Geschichtsbegriffs.

Das Märchen steht zwischen Realität und Transzendenz und bietet sich deshalb wie keine andere Gattung an, die divergierenden Bedürfnisse zu erfüllen. ,,Im Märchen findet im Glauben an seine Naivität, Reinheit und Volkstümlichkeit der Wunsch nach Harmonie, Gerechtigkeit und überzeitlicher Weltordnung eine fassbare Gestalt.“ (Sinjawskij, S.26f., s.u., Nr. 25). Es bietet Trost im Alltag und ist offen für jede Art von Glauben, der über die täglich-alltäglichen Erfahrungen herausreicht; dadurch kann es zwischen tradierten religiösen und modernen, naturwissenschaftlich basierten oder philosophischen Auffassungen von Welt bestehen, sich gar in ihren Dienst stellen (oder dafür instrumentalisiert werden).

Die Moral des Märchens deckt sich gelegentlich mit der christlichen Moral, aber auf eine ganz eigene Art. Das Gute triumphiert nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, und zwar in der Regel mit Hilfe der Magie. Die Belohnung des Guten geht mit sozialer Flexibilität einher, das bekannte Spektrum reicht vom Königssohn über den Schneider bis zum Aschenputtel.

Alle Rollen bieten hervorragende Identifikationsmöglichkeiten: Ein Königssohn würde jeder gerne sein, der ,normale‘ Leser ist aber eher ein Schneider oder ein Aschenputtel – an deren sozialem Aufstieg sich partizipieren lässt. Das Trost spendende Gute ist aber, wie wir noch sehen werden, ein zweischneidiges Schwert – es kann den Triumph des Trivialen wie des Subversiven bedeuten.

In der Popularisierung der Gattung um 1800 wird ihre Funktionsgebundenheit ganz deutlich. Die Frühromantiker entwickelten den Begriff des Goldenen Zeitalters, einer mythischen Vorzeit, in der die Natur eins war, eine säkularisierte Vorstellung vom Paradies. Dieses Zeitalter war gekennzeichnet durch Intuition, die Allverbundenheit war selbstverständlich. Dem folgte das – andauernde – Zeitalter der Spaltung, die Natur differenzierte sich aus in Mineralien, Metalle, Pflanzen, Tiere und Menschen. Der Mensch bildet die Krone der Schöpfung, denn ihm ist die Fähigkeit zu denken gegeben. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihm, die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters zu antizipieren. Das bedeutet nicht eine Restauration früherer Verhältnisse, vielmehr gilt es eine höhere Stufe zu erreichen, die Intuition und Reflexion einschließt.

Dieses abstrakte Konzept ist – wie für die Romantik üblich – nirgendwo aus­ formuliert und nur bruchstückhaft entwickelt worden. Schließlich lebte man im Zeitalter der Spaltung, dem das Fragment angemessen war. Zugleich konnte das Fragmentarische in seiner Zusammenstellung kaleidoskopartig das künftige Goldene Zeitalter erahnen lassen. In den Schriften von Friedrich Schlegel, Novalis und E.T.A. Hoffmann (etwa in der Atlantis-Mythe im Goldnen Topf, die zugleich eine Parodie der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter darstellt) finden sich entsprechende Konzeptualisierungen.

Wie dem Fragment kommt dem Märchen schon theoretisch eine besondere Rolle zu, da es (im Volksmärchen) in der Zeit unmittelbar nach der Spaltung angesiedelt ist oder (im Kunstmärchen) die Verbindung der Lesergegenwart zur mythologischen Vorzeit knüpft. Deshalb ist Wunderbares weitgehend alltäglich, und deshalb können Tiere sprechen – Reminiszenzen der verloren gegangenen Einheit allen Seins. Dem Märchen liegt also ein Konzept zugrunde, das philosophische, anthropologische und psychologische Überlegungen mischt, wie sie in der Zeit um 1800 diskutiert wurden; genau deshalb ist es auch in diesen wissenschaftlichen Disziplinen bis heute stark beachtet worden.

Der größte Teil der Märchenforschung beschäftigt sich mit den Volksmärchen oder Feenmärchen, denen eine mündliche Überlieferung zugrunde liegt oder liegen soll. Die zahlreichen Übereinstimmungen von Themen und Motiven der Märchen aus aller Welt haben viele Forscher inspiriert, Gemeinsamkeiten festzustellen und sich auf die Suche nach dem Ursprung dieser Themen und Motive zu machen.

Letztlich bleibt aber wohl nur als Grund für die Attraktivität von Volksmärchen festzustellen, dass sie allgemein menschliche Probleme (sexuelle Reifung, Geschlechter- und Rollenverhalten, Riten, Wünsche etc.) thematisieren und durch ihre einfache Struktur ein breites Publikum ansprechen.

Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft handelt es sich immer in erster Linie um literarische Texte, die folglich einen Autor oder mehrere Autoren oder Bearbeiter haben, auch wenn frühere Fassungen nicht bekannt sind und die Genese der Texte nicht dargestellt werden kann. Gerade bei einfachen Motiven wie Heirat, Konflikte zwischen Eltern und Kindern, Figuren mit magischen Fähigkeiten, sprechende Tiere o. Ä. wird es nicht möglich sein, einer solchen Genese auf die Spur zu kommen, und es fragt sich daher, ob der bisher in dieser Richtung betriebene Aufwand wissenschaftlich gerechtfertigt ist. Dass natürlich jeder Leser mit Märchen auf seine Weise umgehen, sie für persönliche oder gruppenspezifische Sinnstiftungsprozesse einsetzen kann, bleibt unbenommen.

Nachstehend eine kurze Zusammenfassung der Hauptmerkmale von Volks- bzw. Glücksmärchen und ein stark vereinfachtes Handlungsschema des Zaubermärchens:

1.2.1. Merkmale des Volks- bzw. Glücksmärchens (siehe auch Lüthi, Pöge-Alder etc., s.u., Nr. 12+17 )

1. Eindimensionale Handlung (Diesseits und Jenseits nicht getrennt) und Wirklichkeitsferne: Die Motive entstammen der Wirklichkeit, werden aber durch magische und mythische Elemente entwirklicht.

2. Andeutender Erzählstil. Märchenmotive wie Liebe, Hass, Hilfsbereitschaft, Grausamkeit, Opferbereitschaft, Mord, besonders aber Sexualität und Erotik werden oft nur angedeutet und nicht ausführlich geschildert.

3. Abstrakter Stil, nur aneinandergereihte Erzählstränge, die stets dem Helden folgen,

4. Isolation und Allverbundenheit der Episoden und Märchenfiguren, die nicht aus Erfahrung lernen,

5. Allmächtige Natur und Naturkräfte, Gegenstände mit magischer Wirkung (Zauberstab, -ring),

Auftreten fantastischer Elemente wie Verwandlungen, sprechende Tiere und Zauberkräfte

6. Keine individuellen Personennamen, nur Allerweltnamen wie Hänsel und Gretel,

7. Flächenhaftigkeit der Figuren ohne individuelle Körper- bzw. Charaktereigenschaften oder Psyche (nur z.B. Schönheit, Mut, Klugheit, Größe, langes Haar),

8. Zahlen 3,4,7,12,13; dreifache, ähnliche Handlungswiederholung mit entscheidender Wendung beim 3. Mal

9. Formelhafte Redewendungen und Verse,

10. Starke Gegensätze (schön/hässlich, gut/böse, dick/dünn etc.),

11. Glückliches Ende: Das Gute siegt, das Böse wird bestraft.

12. Unbestimmte Orts- und Zeitangaben,

13. Autor und Entstehungszeit unbekannt,

14. Mündliche und schriftliche Realisierung des Märchens als Kunstwerk,

15. Funktionen: Unterhaltung, psychodramatische Konfliktbewältigung, Einbettung in eine Erzählgemeinschaft

1.2.2. Vereinfachtes Handlungsschema des Zaubermärchens (abgewandelt nach Propp, s.u. Nr. 18)

Mangel und/oder Konflikt am Anfang, Unselbständigkeit von Held/Heldin

– Held/Heldin zieht hinaus in die Welt

– steht vor schwierige/unlösbaren Problemen

– findet übernatürliche Helfer

– löst die (selbst-)gestellten Aufgaben/Probleme

– wird selbständig und kehrt heim

– Reichtum und/oder gelöster Konflikt am Schluss

1.3. Kunstmärchen

Ein Kunstmärchen ist „eine individuelle Erfindung mit unverstelltem Kunstcharakter“.10 Das Kunstmärchen ist das Produkt eines einzelnen Autors, doch reicht dies, wie wir gesehen haben, für eine klare Trennung vom Volksmärchen nicht aus.“ Das Kunstmärchen zeichnet sich durch viele inhaltliche Merkmale aus, die denen des Volksmärchens genau entgegengesetzt sind. Die Handlung von Kunstmärchen ist nicht linear, es gibt Nebenhandlungen und zeitliche Rückblenden. Zur Komplexität der Handlung addiert sich jene der Sprache – komplizierter Satzbau und schwierige Vokabeln sind keine Ausnahmen. Es finden sich häufig Orts- und Zeitangaben. Die wichtigsten Figuren werden psychologisiert, sie haben gute und böse Eigenschaften, auch wenn in der Regel das eine oder das andere überwiegt. Zur Psychologisierung gehört, dass die Heldin oder der Held eine Entwicklung durchmacht; manches Kunstmärchen konkurriert hier mit Bildungsromanen. Die Figuren werden oftmals in einer konkreten Gesellschaft und in Alltagssituationen gezeigt, man denke an Hauffs „Das kalte Herz“. Die Handlung steuert häufig nicht auf ein glückliches, sondern auf ein – zumindest teilweise – unglückliches Ende zu, verbunden mit einer relativen Offenheit des Schlusses (wie beispielsweise in Texten Tiecks).

Mit dem Volksmärchen stimmt das Kunstmärchen darin überein, dass es eine durch Mangel gekennzeichnete Ausgangssituation gibt. Bei der Suche nach einer Lösung begegnen dem Protagonisten wunderbare Gegenstände und Figuren. Die Symbolik und die Metaphorik sind ausgefeilt und originell, lehnen sich aber an die Muster des Volksmärchens an.

Das Kunstmärchen bedient sich häufig des Stilmittels der Ironie. Das hängt mit dem wichtigsten Unterschied zusammen, der die Modernität des Kunstmärchens begründet: Geschildert wird nicht ein geschlossenes Weltbild, sondern eine fragmentarisch erfahrbare, problematische Welt, in der sich ein Subjekt bewegen muss, das sich auch seiner selbst, vor allem der eigenen Wahrnehmung, nicht sicher sein kann.

Das Wunderbare ist konsequenterweise nicht Bestandteil der Wahrnehmung aller Figuren. Oftmals finden sich zwei Handlungsebenen, die man eigentlich genauer als Wahrnehmungsebenen bezeichnen müsste, da es vom Subjekt abhängt, ob es das notwendige Sensorium für Dinge mitbringt, die sich mit Naturgesetzen nicht erklären lassen (hier spannt sich ein historischer Bogen von Hoffmanns „Der goldne Topf“ bis Rowlings „Harry Potter“). Die Trennung der beiden Welten ist graduell sehr unterschiedlich, sie kann auch in die Wahrnehmung des Lesers verlagert werden (wie in Tiecks „Der blonde Eckbert“).

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Volks- und Kunstmärchen (Neuhaus, S.12):

Volksmärchen

  • angeblich mündliche Überlieferung
  • ort- und zeitlos
  • einfache Sprache
  • einsträngige Handlung
  • stereotype Handlung
  • stereotype Schauplätze
  • eindimensionale Charaktere, Typen
  • keine Psychologisierung der Figuren
  • Figuren sind gut oder böse
  • Happyend
  • Formelhafter Anfang und Schluss
  • Einfaches Weltbild

Kunstmärchen

  • Werk eines bestimmten Autors
  • Fixierung von Ort und Zeit
  • künstlerische Sprache
  • mehrsträngige Handlung
  • originelle Handlung
  • charakteristische Schauplätze
  • mehrdimensionale Charaktere
  • Psychologisierung der Figuren
  • gemischte Figuren
  • kein eindeutiges Happyend/ Schlechter Ausgang
  • keine Formeln
  • komplexes Weltbild

i.d.R. gemeinsame Merkmale

  • Held muss Aufgaben lösen
  • Magische Requisiten (Zauberstab, Besen etc.)
  • Zahlen- und Natursymbolik
  • Tiere können sprechen / animistische Weltsicht
  • Verbindung zum Mythos / Transzendenz
  • Symbolisches Verhandeln und Bewältigen alltäglicher Probleme

1.4. Die verschiedenen Interpretationsmethoden (nach Neuhaus, S.27ff., Nr.15)

 

1.4.1. Volkskundliche Deutungsansätze

Volkskundliche Deutungsansätze versuchen u.a. Motive in Märchen zu identifizieren (Brackert, Röhrig, Rölleke, Scherf, Uther u.a., s.u., Nr.2,17,19,20,25), die sie in Analogie zu Riten und Bräuchen der Gesellschaft setzen. Die Kontextualisierung von Märchenmotiven ist sicher aufschlussreich, doch dadurch kann ein möglicher Sinn eines konkreten Textes nicht erschlossen werden, wenn nicht zuvor ein hermeneutischer Verstehensprozess initiiert wurde. Volkskundliche Deutungen verfolgen aber in der Regel andere Ziele.

1.4.2. Sozialgeschichtliche Deutungsansätze

Diese in den späten 1960er Jahren entstandenen Deutungsansätze kritisierten die Märchen u.a. als oft grausam und damit pädagogisch schädlich und unterschieden zwischen ideologisch korrekten früheren, einfacheren Märchentexten und den ideologisch inkorrekten, die später von namhaften Autoren verfasst wurden. Richtig ist, dass Märchen affirmativ oder subversiv wirken können. Jedoch haben sie vorwiegend mimetische Funktion, indem sie die zeitgenössische Realität – auch manchmal kritisch – spiegeln. Die prinzipielle Deutungsoffenheit des literarischen Textes, also das, was Literatur von Sach- und Trivialliteratur unterscheidet, spielt dann keine Rolle mehr. Doch auch sozialgeschichtliche Deutungen sollten, wenn sie als Variante literaturwissenschaftlicher Interpretationsverfahren gelten wollen, den Text über der Interpretation nicht aus den Augen verlieren.

1.4.3. Strukturale Deutungsansätze

Neben anderen hat Max Lüthi ein Typensystem vorgestellt, in dem die ‚eigentlichen Märchen‘ von Schänken und Sagen unterschieden und größtenteils als Zauber- Wundermärchen klassifiziert werden (s.o., 1.2.1.).

Bereits 1928 hatte Wladimir Propp eine invariable Gesamt- und eine variable Binnenstruktur von Zaubermärchen herausgearbeitet (s.o., 1.2.2.). Heutzutage wird die Funktion der Strukturelemente nicht mehr nur auf den Text, sondern auch auf den Kontext bezogen. Es wird z. B. gefragt, welche Reaktionen diese Struktur beim Leser auslösen könnte. Ferner wird heute so ideologiefrei wie möglich gefragt, welche psychischen Prozesse Eltern-Kind-Probleme repräsentieren (Aussetzen der Kinder im Wald bei Hänsel und Gretel), welches Rollenverhalten durch die soziale Unterordnung von Frauen tradiert (Aschenputtel, Schneewittchen etc. heiraten nicht, sie werden geheiratet) oder ob Hans im Glück wirklich ein Happyend hat (siehe 2. Märchen).

Auf welche verschiedenen Arten man einen Text lesen kann, wenn man erst einmal dessen Struktur identifiziert hat, ist aus heutiger Perspektive viel lohnender als das Klassifizieren und Einteilen nach Merkmalen.

1.4.4. Tiefenpsychologische Deutungsansätze

Ein in der Märchenforschung wichtiger Ansatz geht zurück auf den Schweizer Psychoanalytiker C.G. Jung (1875-1961), der neben Freuds individuellen Unbewussten das kollektive Unbewusste stellte. Er geht davon aus, dass es psychische Dispositionen gibt, die bei allen Menschen gleich sind (Archetypen). Die elementaren Märchen- und mythologischen Motive begreift er als Strukturelemente der menschlichen Seele. Märchen als Botschaften des Unbewussten sollen ein Gleichgewicht wiederherstellen, das verlorengegangen ist. So wird ihnen eine teleologische Grundstruktur einfach übergestülpt. In der Praxis tiefenpsychologischer Märchendeutungen werden schematische Verfahren angewendet, die der Astrologie näher sind als der Literaturinterpretation. Laiblin (Das Urbild der Mutter. In: Ders. (Hg.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie, Darmstadt 1995, S. 143) behauptet: „Dornröschen … wird von der Spindel oder Nadel der bösen Fee, die nichts anderes als die fruchtbare Seite der Urmutter darstellt, in den Finger gestochen… Denn wie Siegfried den Drachen besiegt, die alles Leben lähmende Urmutter, so eröffnet erst der Freier dem Kind die Freiheit, den Weg zur Ganzheit des Lebens, zu sich selbst.“ Ganz abgesehen von der textfernen und ausufernden Fantasie des Autors: Sexuelle Freiheit eines Mannes gegenüber einem Kind? Das nennt man wohl Kindesmissbrauch.

Heute bekanntester Vertreter der tiefenpsychologischen Interpretationsrichtung ist der Theologe Eugen Drewermann, der zahlreiche Interpretationen insbesondere von Grimms Märchen vorgelegt hat. Bei ihm vermischen sich allerdings tiefenpsychologische, entwicklungspsychologische, anthropologische und religiöse Deutungsmuster. Für ihn ist Hänsel und Gretel die Kindheitsgeschichte schlechthin: „Da überlebt ein Junge das ‚Gefressenwerden‘ durch den ‚Hunger‘-Anteil seiner Mutter nur, indem er sich selbst bis zum Extrem hin mager stellt; denn einzig, wenn es ihm gelingt, jedes Anzeichen auch nur von körperlicher Wohlgenährtheit zu vermeiden, wird er am Leben bleiben; nur solange seine Mutter (und alle anderen ‚Kurzsichtigen‘)in ihm nichts weiter sehen als Haut und Knochen, wird er es verhindern, verschlungen zu werden.“ Für Drewermann ist das Knöchelchen, das Hänsel der Hexe herausstreckt, ein Phallussymbol. Daher fährt er fort: „Die Frau, jede Frau tritt wie eine Hexe an das Hänsel heran, um zu fühlen, ob es an ihm auch schon ‚groß‘, ‚dick‘ und stark genug ist. Und alsbald den ganzen Jungen auf ihrem ‚Ofen‘ zum ‚Kochen‘ bringen.“ Unabhängig von der vom Text (erst recht von der Urfassung, siehe 1. Märchen) ganz losgelösten Interpretation bzw. assoziativen Hineindeutung entspricht nach Drewermann das Verbrennen der Hexe dem Bedürfnis nach Disziplinierung und wäre damit die notwendige Befreiung von der sexuellen Bedrohung des heranwachsenden Mannes durch die Frau (Drewermann: Hänsel und Gretel etc. – Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 2003, S.70ff., s.u., Nr. 5). Besser kann man die Problematik und Absurdität tiefenpsychologischer Märcheninterpretation nicht zeigen.

Um es ganz deutlich zu sagen: Im Märchen ist nicht jeder Stab o.Ä. ein Phallussymbol, nicht jedes Blut Menstruationsblut, nicht jede Frau eine uralte Göttin, Erd-, Allmutter o.Ä., Sexualität ist nicht unterschwellig allgegenwärtig, Jungen haben dort wie auch im richtigen Leben nicht automatisch ödipale Konflikte und ständig den Wunsch, mit ihrer Mutter sexuell zu verkehren, Hunger bedeutet dort keineswegs Magersucht und die Märchensymbole stammen nicht automatisch direkt aus der mythischen Vorzeit der Jäger und Sammler. Hierfür gibt es keinerlei wissenschaftlich auch nur halbwegs haltbare Belege.

Bei manchen Märchen stoßen wir an einigen Stellen eindeutig an interpretatorische Grenzen, da wir oft weder die ursprüngliche Fassung noch Entstehungszeit, -ort, Kontext, Aussageabsicht etc. kennen. Deshalb sollte das auch ehrlicherweise zugegeben werden, anstatt seine blühende Fantasie als wissenschaftliche Erkenntnis auszugeben. Das ist nämlich nichts anderes als wissenschaftliche Scharlatanerie.

1.4.5. Psychoanalytische Deutungsansätze

Einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung ist der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1903-1990), dessen Buch Kinder brauchen Märchen 1976 erschienen ist (s.u., Nr. 1). Märchen seien Teil des kulturellen Erbes, mit dem sich das Kind vertraut machen müsse, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, sich besser kennen zu lernen und zu akzeptieren: „Sehr viele Eltern sind nicht bereit, ihren Kindern zu sagen, dass vieles, was im Leben nicht richtig ist, seine Ursache in unserer Natur hat, in der Neigung aller Menschen, aus Zorn und Angst aggressiv, unsozial, egoistisch zu handeln. Unsere Kinder sollen vielmehr glauben, alle Menschen seien von Natur aus gut. Kinder wissen aber, dass sie nicht immer gut sind, und oft, wenn sie es sind, wären sie es lieber nicht. Das widerspricht dem, was sie von den Eltern hören. Und auf diese Weise kann ein Kind in seinen eigenen Augen zum Ungeheuer werden, Ders., S.14ff.) Einerseits identifiziert sich das Kind mit dem/der siegreichen Helden/Heldin, um sein Selbstbewusstsein zu stärken und seine Moralvorstellungen auszubilden. Andererseits erfolgt im Märchen das Aufspalten einer Persönlichkeit in zwei, damit das gute Bild unangetastet bleibt. So kann das Kind die gute und die strafende Mutter auseinanderhalten und damit das Bild der guten Mutter bewahren (Ders., S.80ff.). Zwar sind diese Ausführungen Bettelheim sicher bedenkenswert sind, jedoch wendet er bei der psychoanalytischen Analyse einzelner Märchen ein allzu simples Dekodierungsschema an. Dornröschen ist bei ihm ein Märchen der Adoleszenz, „bei dem mit dem Anfang der Pubertät eine lange Periode des Schlafens einsetzt“ und „ein traumatisches Ereignis – wie die erste Blutung des jungen Mädchens zu Beginn der Pubertät und später beim Geschlechtsverkehr – tatsächlich die glücklichsten Folgen hat. (Ders., S.162ff.). Abgesehen davon, dass der 100-jährige Schlaf nirgendwo als positiv dargestellt wird, zeigt auch hier, wie willkürlich und textfern diese Analysemethode vorgeht.

Trotzdem kann die Beschäftigung mit Märchen gerade in Zeiten sich weiter auflösender Ideologien und postmoderner Beliebigkeit Teil der psychischen Hygiene werden – als eskapistische Lektüre, also als grandioses Abenteuer außerhalb der als unbefriedigend empfundenen Realität, oder als Spiegelbild zur Realität, mit deren Hilfe Erkenntnisse möglich werden, die nach der Lektüre weiterwirken.

1.4.6. Philologischer Deutungsansatz

Neben weiteren Analysemethoden soll hier der m. E. wichtigste, philologische Deutungsansatz zur Sprache kommen, den ich mit Neuhaus (S. 48ff.) für den geeignetsten halte, da er induktiv sowie textorientiert vorgeht und nicht deduktiv seine Erkenntnisse von spezifischen Theorien oder Theoremen ableitet. Daneben werde ich versuchen, auch die anderen Deutungsansätze, soweit sinnvoll, mit heranzuziehen, sowie auch psychologische Aspekte zu berücksichtigen.

Die Vielfalt und subjektive Bedeutsamkeit jeder der oben beschriebenen Deutungsmöglichkeiten von Märchen soll damit nicht eingeschränkt werden. Oft finden Leser/Hörer/-innen in einem Märchen die Darstellung eines menschlichen Grundproblems, das sie besonders anspricht oder berührt. Märchen werden ja auch erfolgreich in der Psychotherapie eingesetzt. Ich möchte mit der Analyse von 10 ausgewählten Märchen lediglich versuchen, eine philologisch-psychologische Deutung anzubieten, die möglichst nah am Text bleibt und deren psychologische Bedeutung für die heutige Zeit im Blick hat.