Literatur & Sachtexte
ALLTAGS- & LIEBESLYRIK 2
VERGLEICH ZWEIER GEDICHTE:
17. Johann Wolfgan von Goethe :Dauer im Wechsel(1815)
18. Gottfired Benn: Aber du – ? (1954)
19. Johann Wolfgan von Goethe: Im Herbst (1775)
20. Rainer Maria Rilke: Herbsttag (1902)
8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)
21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied(1933)
17. JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: DAUER IM WECHSEL (1815)
Hielte diesen frühen Segen,
Ach, nur eine Stunde fest!
Aber vollen Blütenregen
Schüttelt schon der laue West.
5 Soll ich mich des Grünen freuen,
Dem ich Schatten erst verdankt?
Bald wird Sturm auch das zerstreuen,
Wenn es falb im Herbst geschwankt.
Willst du nach den Früchten greifen,
10 Eilig nimm dein Teil davon!
Diese fangen an zu reifen,
Und die andern keimen schon;
Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal,
15 Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.
Du nun selbst! Was felsenfeste
Sich vor dir hervorgetan,
Mauern siehst du, siehst Paläste
20 Stets mit andern Augen an.
Weggeschwunden ist die Lippe,
Die im Kusse sonst genas,
Jener Fuß, der an der Klippe
Sich mit Gemsen freche maß.
25 Jene Hand, die gern und milde
Sich bewegte, wohlzutun,
Das gegliederte Gebilde,
Alles ist ein andres nun.
Und was sich an jener Stelle
30 Nun mit deinem Namen nennt,
Kam herbei wie eine Welle,
Und so eilts zum Element.
Lass den Anfang mit dem Ende
Sich in Eins zusammenziehn!
35 Schneller als die Gegenstände
Selber dich vorüberfliehn!
Danke, dass die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt,
Den Gehalt in deinem Busen
40 Und die Form in deinem Geist.
18. GOTTFRIED BENN: ABER DU – ? (1954)
Flüchtiger, du mußt die Augen schließen,
denn was eindringt, ist kein Großes Los,
abends im Lokal ist kein Genießen,
selbst an diesem Ort zerfällst Du bloß.
5 Plötzlich sitzt ein Toter an der Theke,
Rechtsanwalt, mit rotem Nierenschwund,
schon zwei Jahre tot, mit schöner Witwe,
und nun trinkt er lebhaft und gesund.
Auch die Blume hat schon oft gestanden,
10 die jetzt auf dem Flügel in der Bar,
schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden
Gott weiß wann, wo immer Sommer war.
Alles setzt sich fort, dreht von der alten
einer neuen Position sich zu,
15 alles bleibt in seinem Grundverhalten –
aber du –?
HINTERGRUNDINFOS ZU BENNS GEDICHT:
Es sind Beobachtungen eines Stoikers, der seinen letzten Lebensabschnitt heraufdämmern sieht. Das Ich beginnt die eigene Vergänglichkeit zu spüren und verweist auf kleine Rendevous mit dem Tod. Bei allen Veränderungen, die vom lyrischen Subjekt diagnostiziert werden, gibt es auch eine Konstante im „Grundverhalten“. Das lyrische Ich hält am Ende die eigene Position offen: Es ist nicht absehbar, wann und wo der Wechsel der Existenz bevorsteht. Das Gedicht wurde erstmals veröffentlicht in der „Welt am Sonntag“ vom 12.9.1954.
Die Bierkneipe ist für den späten Gottfried Benn (1886-
VERGLEICHENDE GEDICHTINTERPRETATION – ANALYSE UND DEUTUNG
GLIEDERUNG
A Einleitung: Hinweis auf Goethes verschiedene dichterische Tätigkeiten
B Hauptteil
1. „DAUER IM WECHSEL“ VON JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
1.1.1 Inhalt und Aufbau
1.1.2 1.Strophe: Klage über die Vergänglichkeit des Schönen und Zweifel, ob sich Freude an der Natur lohnt
1.1.3 2.Strophe: Appell an den Leser sich zu eilen und Aufmerksam machen auf die Situation
1.1.4 3.Strophe: Erweiterung des Blickfeldes
1.1.5 4.Strophe: Veränderung des Menschen
1.1.6 5.Strophe: Wendung, Dankbarkeit und Fazit
1.2. Form
1.2.1 Strophenform (Kreuzreim, 8 Verse, 5 Strophen)
1.2.2 Versmaß (vierhebiger Trochäus)
1.2.3 Rhythmus (Steigerung zum Höhepunkt)
1.2.4 Klangebene (Schnelligkeit vs. Dauerhaftigkeit)
1.2.5 Wortebene (Natur, Vergänglichkeit, Du)
1.2.6 Satzebene (Ausrufesätze, Fragesatz)
1.2.7 Bildebene (Abstrakta, Sinneswahrnehmungen)
1.2.8 Stilmittel (Vergleich, pars pro toto, Antithese, Paradoxon)
2. VERGLEICH MIT „ABER DU – ?“ VON GOTTFIRED BENN
2.1 Zwei konträre Grundansätze
2.2 Sicherheit der Aussagen
2.3 Fehlender Schöpfungsglaube im 20. Jahrhundert
2.4 Schauplatz
2.5 Umwelt
2.6 Verbitterung
2.7 Fehlende Appelle, Resignation
2.8 Sicht des Individuums
2.9 Zeitgeschichtliche Aspekte
2.10 Grundstimmung
2.11 Lyrisches Ich, Einstellungen der Dichter
2.12 Zusammenfassung
C SCHLUSS: KAUM VERWUNDERUNG ÜBER DIE GEGENSÄTZLICHEN AUFFASSUNGEN
Johann Wolfgang von Goethe, dem wir wunderbare Erzählungen verdanken, beschäftigte sich auch zeitlebens mit Gedichten. Nicht nur seine Dramen – wie zum Beispiel „Faust“ – sind eine Errungenschaft deutscher Dichtkunst, auch seine Gedichte sind es formal und inhaltlich wert, sich mit ihnen zu beschäftigen. Im Folgenden soll nun Goethes Gedicht „Dauer im Wechsel“ genauer erschlossen und später mit dem Gedicht „Aber du –?“ von Gottfried Benn verglichen werden.
Inhaltlich beschäftigt sich Goethe in diesem Gedicht mit dem Thema der Dauer und der Veränderung der Umwelt und des Individuums. Es beginnt mit der Klage über die Vergänglichkeit des Schönen, das man nicht halten kann, und gleichzeitig fragt das lyrische Ich, ob sich die Freude am Vergänglichen lohnt. Diese Feststellungen u. Zweifel werden an den Veränderungen der Natur auch im Laufe der Jahreszeiten, festgemacht (Zeile 1-
Die 2. Strophe beginnt mit der Aufforderung an den Leser oder alle Mitmenschen, den Menschen allgemein, sich zu eilen, da alle Freuden vergänglich sind. Wir werden aufmerksam gemacht auf das in der 1. Strophe beklagte Problem der Vergänglichkeit der Natur, die das Umfeld der Menschen darstellt.
Gleichzeitig klagt das lyrische Ich immer noch über dieses Übel. (Zeile 9-
Diesem Thema ist die vierte Strophe gewidmet, in der von der äußerlichen Veränderung des Individuums die Rede ist („ das gegliederte Gebilde…“, Z.27). Der Grundton ist hier wieder mehr bedauernd und weniger appellierend. Neben dem Altem wird hier auch der Tod kurz berührt („und so eilt’s zum Element“, Z. 32) (Z. 25-
Die letzte Strophe beinhaltet eine Wendung. Sie zeigt die Möglichkeit des Dauernden, das Unvergängliche von Seele („… Gehalt in deinem Busen“, Z. 39) u. Geist, also Verstand, auf. Sie ist ein Dank („Danke,…“, Z. 37) an diese Gabe, an die Schöpfung, dass das Individuum trotz äußerlicher Veränderungen im Grunde es selbst bleibt, losgelöst von den Äußerlichkeiten. Sie ist zugleich eine Aufforderung, die Veränderung der Umgebung u. des Körper nicht so ernst zu nehmen, sondern sich an der Unvergänglichkeit seines Inneren zu erfreuen, das man durch die Musen bildet. (Z. 37-
Dies alles lässt sich noch besser begreifen, wenn man das Gedicht auch in sprachlicher Hinsicht genauer betrachtet. Es ist in fünf Strophen gegliedert, die aus je 8 Zeilen bestehen. Die Strophen weisen alle das gleiche Schema auf, womit wohl die Sicherheit der Behauptung, die gefestigte Grundaussage, unterstrichen werden soll.
Das Reimschema des Kreuzreimes (ababcdcd) uns auch das Versmaß werden durchgehend eingehalten. Es sind vierhebige Verse im Trochäus („Hielte diesen frühen Segen“, Z. 1), wobei jedoch jede zweite Zeile auf einer betonten Silbe endet, um der Aussage Kraft zu geben. ( „Ach, nur eine Stunde fest“, Z. 2)
Dies ist ein Wechsel zwischen harter und weicher Kadenz. Die Versform ist alternierend, das heißt, Hebungen und Senkungen wechseln sich –
Mit den Aufforderungen, der Hinwendung zu den Mitmenschen, gewinnt das Gedicht an Dynamik und endet am Schluss in einer fast euphorischen Stimmung, als die Unvergänglichkeit des Inneren entdeckt wird. Das Gedicht steigert sich also zum Höhepunkt am Schluss.
Auch auf der Klangebene lässt sich einiges finden. Helle Vokale (e;i) dominieren in allen 5 Strophen. Umlaute sind häufig vertreten, vor allem in der ersten Strophe das „ü“ („frühen“ Z.1, „Blütenregen“, Z.3, „Grünen“. Z.5) Das soll die Freude beim Anblick der Natur vermitteln, aber durch die eingebrachte Schnelligkeit gleichzeitig die Vergänglichkeit betonen. „A“, „u“ und „o“ finden sich vorrangig in Wörtern, die entweder das Dauerhafte oder etwas Schlechtes in der Natur ausdrücken. („Gunst“, Z.37, „Musen“, Z.37 / „Schatten“, Z.6, „falb“, z.8)
Auch an den gegensätzlichen Begriffen „Anfang“ (Z.33) und „Ende“ (Z.33) lässt sich diese Beobachtung festmachen. Der Anfang kommt langsam, scheint noch viel offen zu lassen, erinnert an Ewigkeit, wird jedoch vom Ende, das schnell kommt und vergänglich ist, abgelöst. Es finden sich auch 2 Alliterationen: „gegliedertes Gebilde“ (Z.27) und „Namen nennt“ (Z.30). Diese dienen jedoch nur zum guten Klang des Gedichts.
Besonders interessant ist die Wortebene. In der 1. Strophe, in der es um die Natur geht, stehen vorwiegend Wörter aus diesem Wortfeld: „Blütenregen“, „Grünen“, „Herbst“, „lauer West“. Diese sind auch in der 2. Strophe vorhanden. („Früchte“, „reifen“, „keimen“, „Regengusse“, „Flusse“, „Tal“), jedoch kommt hier etwas Neues dazu, und zwar das „du“. Von Z. 9 an wird das „du“ zum zentralen Thema, was auch an der häufigen Verwendung deutlich wird: “du“ (Z.9), „dein“ (Z.10), „du“ (Z.16), „Du“ (Z.17) „dir“ (Z.18) etc.
Einen weiteren wichtigen Aspekt bilden Wörter, die auf die Veränderung, Schnelligkeit und Vergänglichkeit hinweisen. Solche sind in vielen verschiedenen Wortarten häufig zu finden: „frühen“ (Z.1), „schon“ (Z.4), „erst“ (Z.6), „eilig“ (Z.10), „anfangen“ (Z.11), „reifen“ (Z.11), „keimen“ (Z.12), „ändert“ (Z.14), „gleich“ (Z.13), „bewegen“ (Z.26), „schneller“ (Z.35), „Anfang“ (Z.33), „Ende“ (Z.33), „vorüberfliehen“ (Z.36).
Zur Satzebene ist besonders zu bemerken, dass fast in jeder Strophe (mit Ausnahme von Strophe 4) ein Ausrufesatz zu finden ist. In der zweiten, dritten und fünften Strophe sind das Aufforderungen, also im Imperativ, in der ersten Strophe die Äußerung eines Wunsches. Dieser Wunsch ist sehr emotional, fast schon voller Verzweiflung und endet daher mit einem Ausrufezeichen.
Auch die Frage in Z. 5/6 ist wichtig. Sie deutet an, dass das lyrische Ich sich zwar an der Natur erfreuen kann, aber nicht weiß, ob das so sinnvoll ist. Diese Frage ist die einzige Stelle im Gedicht, in der gezweifelt wird an dem, was ausgesagt wird.
Im gesamten Gedicht wird stark mit Sinneswahrnehmungen, vor allem dem Sehen, gespielt. Worte wie „Blütenregen“ (Z.3) oder „felsenfest“ (Z.17) lassen sofort deutliche Bilder im Kopf entstehen. Auch das Wort „Regengusse“ (Z.13) animiert die Erinnerung an den Geruch von Regen, das Gefühl, wenn er auf die Haut tropft, den Anblick des Regens, das Plätschern, das man hören kann. Hier zeigt sich die Grundaussage, dass Natur etwas Schönes ist, wieder.
Abstrakte Begriffe werden kaum verwendet, außer in den letzten beiden Zeilen: „den Gehalt in deinem Busen und die Form in deinem Geist.“ Die übrigen abstrakten Begriffe, die genannt werden, sind oft symbolisch gemeint („Anfang und Ende“) und nicht schwer zu entschlüsseln.
Man findet in diesem Gedicht auch eine große Anzahl weiterer Stilmittel. Es gibt zwei Vergleiche, in denen der Mensch mit Tieren und der Natur verglichen wird. Die „Gemsenfreche“ wird dem jungen Menschen zugeordnet (Z.23/24) und das Altern wird mit einer schnell herannahenden Welle verglichen. (Z.31/32). Der Mensch wird auch einmal mit Gegenständen verglichen (Z.35/36). Diese Vergleiche unterstreichen die Ansicht, dass der Mensch eins ist mit der Natur, seiner Umgebung und den ihm untergeordneten Lebewesen. Jedoch wird der Mensch am Ende hervorgehoben, indem er als einzigartig und besonders herausgestellt wird.
Die Natur ist eines von den Themen, die Goethe immer zur Assoziation von Freude, aber auch von Vergänglichkeit gebrauchte. Die Sicht des Individuums wird deutlich in der Trennung von Körper und Geist. Der Körper wird als „gegliedertes Gebilde“, also als von der Seele unabhängig, unwichtiger, dargestellt. Hier findet sich ein „pars pro toto“. „Lippe“, „Hand“ und „Fuß“ stehen für eben diese Gebilde. In der Abstrahierung der Seele, des Geistes, wird deutlich, dass Goethe diesen Teil des Menschen als wichtiger, komplizierter und hochwertiger als die Hülle begreift.
Es gibt auch einige Ausrufe, beginnend mit dem Wort „Ach“ (Z.2/15). Das steigert noch einmal die Emotionalität des Gedichtes und des Themas. Das Wort „Danke“ (Z.37), auch als Ausruf, zeigt, dass Goethe die Natur und den Menschen (vor allem letzteren) als etwas betrachtet, das uns von etwas Höherem gegeben wurde. Er ist jemandem, wem auch immer, dankbar für alles, für die Einzigartigkeit des Menschen. Das Zusammenziehen von Anfang und Ende (Z.33) ist zugleich Antithese und Paradoxon. Das unterstreicht noch einmal die Aussage, dass der Geist nicht vergänglich ist und nicht abhängig vom äußeren Werden und Vergehen. Auch die Überschrift „Dauer im Wechsel“ ist so ein Paradoxon, das das gleiche bezweckt.
Goethe will also mit seinem Gedicht zum Ausdruck bringen, dass sich alles um uns herum ändert, vergänglich ist, auch unser Körper, dass aber unsere Seele und unser Verstand, was also unseren Charakter ausmacht, unvergänglich sind. Er sieht die Welt in ständigem Wandel, das Individuum aber als etwas, das in seiner Einzigartigkeit trotz kleiner Veränderungen im Grunde gleich bleibt.
Gottfried Benn jedoch, ein Dichter des 20. Jahrhunderts, der in einer gänzlich unterschiedlichen Zeit lebt, sieht alles gegensätzlich. Er sieht im Äußeren das Andauernde und im Individuum den Wechsel. Er gesteht dem Äußeren zwar Veränderung zu, „alles setzt sich fort“ (Z.13), aber er glaubt, dass „alles [ ] in seinem Grundverhalten [bleibt]“. Außer eben das Individuum, was in seinem Zusatz „aber du –
Der Schöpfungsglaube aber fehlt bei Gottfried Benn. Dies liegt sicher auch an der Zeit, in der er lebt. Denn der Glaube ist zu einem unwichtigen Lebensbestandteil für viele Menschen geworden. Sie sind nicht mehr so dankbar für alles, was sie sind und was sie umgibt. Aber gerade deshalb beginnen sie Antworten zu suchen, versuchen sie die Welt zu erklären und ihre Sicht zur Welt und zu sich selbst zu finden. Goethes Gedicht weist keinen genauen Schauplatz auf, handelt aber von der Natur, die zu seiner Zeit noch ein sehr wichtiger und kaum zerstörter Bestandteil des Lebens war.
Im 20. Jahrhundert dagegen gehen viele Menschen nicht mehr in die Natur, sie haben vergessen, wie schön es dort ist. Man sucht sein Glück in dem, was der Mensch geschaffen hat. Deshalb spielt Benns Gedicht wohl auch in einer Kneipe, in einem Lokal. Doch auch hier ist nichts Schönes („selbst an diesem Ort zerfällst du bloß“, Z.4).
Das einzig Schöne ist die Blume, die aber auch nichts Besonderes mehr ist. Für Gottfried Benn ist das, „was eindringt“ (Z.2), etwas Schlechtes, nichts Großes wie für Goethe. Der schilderte die Natur, die Freude, die ihr Anblick bereitet. Benn hingegen hält es nicht für ratsam sich zu eilen und die Früchte zu genießen, bevor sie weg sind, sondern er rät seinen Mitmenschen, „die Augen [zu] schließen“ (Z.1) vor dem, was draußen ist. Er bedauert nicht, dass die Natur so schnell vergeht, er bedauert das immer Gleiche des Alltags („schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden“ Z.11).
Auch bezeichnet er den Menschen als „Flüchtigen“ (V.1), flüchtig vor der Welt, vor sich selbst, vor der Trostlosigkeit des Alltags. Er beschreibt einen Rechtsanwalt (Sinnbild für Regeln, immer Gleiches, Starres), der schon wie tot wirkt, aber plötzlich beginnt lebhaft zu trinken –
Zwar ist für Benn das Individuum schon etwas Besonderes, aber er hält es nicht unbedingt für besonders gut.
Für Goethe und viele seiner Zeitgenossen war klar, dass der Sinn des Lebens in Bildung von Seele und Geist lag, die Sinnsuche war quasi abgeschlossen, in Benns Zeit jedoch begann eine neue Phase der Sinnsuche. Im Gegensatz zum Gedicht „Dauer im Wechsel“ wird hier nur einmal, gleich zu Anfang, eine Aufforderung an den Leser gerichtet. Goethe ist da viel euphorischer, hat noch Hoffnung und möchte seine Gedanken mitteilen, andere mitreißen. In Benns Gedicht herrschen Abgestumpftheit, Trostlosigkeit und Verzweiflung vor. Die Hoffnung ist verschwunden.
Benn stellt dem Leser abschließend eine Frage: „aber du –
Die Grundstimmung ist ebenso gegensätzlich. Goethes Gedicht ist euphorisch u. wirkt trotz einiger Klagen optimistisch u. froh. Benns Gedicht ist voll von Hoffnungslosigkeit, sehr melancholisch u. eher traurig. Die beiden Ansichten, die sicher die der beiden Verfasser sind, da ein lyrisches Ich nicht näher bestimmt ist, bei Gottfried Benn gleich gar nicht vorhanden, sind sicher in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu sehen. Im 20. Jhd. fehlen weitgehend die Natur-
So ist es nicht verwunderlich, dass beide Dichter so unterschiedliche Auffassungen von der Welt und dem Individuum haben.
19. JOHANN WOLFGANG VON GOETZE : IM HERBST (1775)
Fetter grüne du Laub
Am Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf
Gedrängter quillet
5 Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
10 Fruchtende Fülle.
Euch kühlet des Monds
Freundlicher Zauberhauch
Und euch betauen, Ach!
Aus diesen Augen
15 Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Tränen.
20. RAINER MARIA RILKE: HERBSTTAG (1902)
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
5 gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
10 wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
VERGLEICHENDE GEDICHTSINTERPRETATION – ANALYSE UND DEUTUNG
Bevor ich mit der detaillierten Analyse und Deutung der einzelnen Abschnitte der Werke beginne, soll eine Zusammenfassung unter formalen Gesichtspunkten erfolgen. Johann Wolfgang von Goethe verwendet weder Endreim noch festes Metrum (hingegen nur schwere, unregelmäßig auftauchende Metren wie Daktylos und Trochäus), verzichtet gar auf eine sichtbare Gliederung in Strophen. Dies steht im völligen Kontrast zu Rilkes dreistrophigem Gedicht, welches in je drei, vier und abschließend fünf Zeilen gegliedert sowie durch die Verwendung umarmender Reime und unregelmäßiger fünfhebiger Jamben charakterisiert ist, was dem „Herbsttag“ viel deutlichere Konturen gibt, wohingegen Goethe seinen Worten den leichten Fluss nicht durch die Zusammenfügung innerhalb fester formaler Mittel nehmen zu wollen scheint. Dennoch lässt sich „Im Herbst 1775“ inhaltlich in Teile strukturieren, wobei der erste die Verse eins bis sechs umfasst. Das lyrische ich lässt sich anhand dieser Zeilen bereits eindeutig positionieren: es blickt aus dem Fenster („ […] Hier mein Fenster herauf.“, Z. 3) auf die das Haus umgebende Natur, vielleicht einen Garten, Pflanzen, die das Gemäuer beranken oder ähnliches. Von dieser Position aus wendet sich das lyrische ich imperativisch an gegenständliche, fassbare Erscheinungen der belebten Natur, „(…)Laub (…)“, Z. 1; „(…) Das Rebengeländer (…)“, Z. 2; „(…) Zwillingsbeeren (…)“, Z. 5, fordert jene auf die typisch herbstlichen „Wachstumsprozesse“, das Grünen, Quillen und Reifen (vgl. Z. 1, 4, 5), zu beschleunigen. In diesem Moment steht also noch das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund: Früchte reifen beispielsweise im Herbst, doch ist die Zeit des Grünens und Blühens längst vorbei, eher noch kündigt sich der Winter und damit die Zeit einer grau-
Die starken Worte sind Ausdruck der Üppigkeit der Natur, ihrer Unbezähmbarkeit, ihres Überflusses. Zudem verknüpft der Dichter die Zeilen zwei bis vier durch Zeilensprünge, was zusätzlich sprachliche Dichte, Dynamik und Sprachfluss verbessert, kann dies nicht durch ein einheitliches Metrum erfolgen. Zur Zeit der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang herrschte eine besonders starke Hinwendung zu belebter wie unbelebter Natur. Goethe war des weiteren Pantheist, weshalb es ihm anders als seinem Prometheus oder Rilke, worauf ich sogleich kommen werde, ausreichte, der Natur zu befehlen, da sie nach pantheistischem Glauben Teil sowie Verkörperung Gottes ist.
Dem gegenüber steht die erste Strophe des Gedichtes „Herbsttag“, welche drei Zeilen umfasst. Auch hier wendet sich das lyrische ich, das sich aber anders als bei Goethe nicht ähnlich einer Bildkomposition positionieren lässt, an Gott, spricht hier jedoch den Schöpfer höchstpersönlich an, um von ihm dann die fühlbare Beendung des Sommers und Einläutung des Herbstes zu fordern. Während wir im ersten Gedicht also folgende ersten Zeilen finden: „Fetter grüne, du Laub, (…)“, lautet die direkte Ansprache im zweiten wie folgt: „ Herr: es ist Zeit.“. Klar muss hierbei sein, dass es sich kaum um einen Gebetsgestus handelt. Goethe und Rilke vertraten sehr unterschiedliche Glaubensrichtungen, insofern man bei letzterem, einem Anhänger Nietzsches („Gott ist tot.“) davon sprechen kann. Er erhöhte Religion ausschließlich zur Kunstform, was auch den befehlenden Ton des lyrischen Ichs, der sich an die vorausgegangene Feststellung anschließt, erklärt. „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren laß die Winde los.“; Z. 2 bis 3 – die Imperative sind unschwer zu erkennen, doch scheinen sich hinter jenen Forderungen gleich zwei Ebenen zu verstecken. Zunächst fällt dabei die bildhafte ins Auge: Sonnenuhren beschatten meint schließlich die Welt verdunkeln, Winde loslassen herbstliches Wetter einzuläuten. Allerdings entsprächen jene Vorstellungen einem eher altertümlichen Gottesbild, das Gott in seiner Position als Schattenwerfer und Windeigner Wächter der Naturgewalten darstellt. Obgleich das lyrische ich einige Vermessenheit an den Tag legt, Gott zu befehlen, drückt es im zweiten Satz des ersten Verses doch Anerkennung für vollbrachte Taten, für Vergangenes im Präteritum aus („ Der Sommer war groß.“), um dann gleich neue Kraft zu fordern. All dies sind Vorstellungen und Weltbilder die Rilke persönlich völlig fremd waren, weshalb er sie sicher vor allem aus künstlerisch wertvoller Sicht derartig gebraucht, gemäß l’art pour l’art, Kunst (in diesem Falle Religion) um der Kunst willen.
Der Wendung an die Natur schließt sich im Verlaufe des „Herbstes 1775“ die Rede über selbige an. Dieser zweite Teil des Gedichtes umfasst die Zeilen sieben bis zwölf und thematisiert den kosmischen Teil der Natur, die Naturgewalten, welche bei Rilke bereits Inhalt der ersten Strophe sind, und zeigt auf, inwiefern sie die im ersten Teil beschriebene Flora beeinflussen. Das lyrische ich wagt den Blick in die Ferne, gen Himmel, was auch auf Goethes biografisches Fernweh, den Umzug nach Weimar, übertragen werden könnte. Zunächst fallen die Personifizierungen der Sonne, des Mondes und des Himmels auf („[…] Mutter Sonne […]“, Z. 7). Die Anrede der Sonne als Mutter verfügt zudem über einen pantheistisch – religiösen Beigeschmack. Starke Bildlichkeit, verbesserte Anschaulichkeit und gesteigerten Wohlklang erzeugen die den kosmischen Gewalten zugewiesenen Attribute, welche zudem verdeutlichen, welchen Anteil die Himmelskörper und der Himmel selbst am Prozess der Fruchtwerdung haben: der Sonne brütender Scheideblick ist Ausdruck von Licht und Wärme (vgl. Z. 7 und 8), des Himmels fruchtende Fülle steht für ermöglichte Fruchtbarkeit (vgl. Z. 9 und 10), des Mondes freundlicher Zauberhauch für die nötige Kühlung der Nacht (vgl. Z. 11 und 12). Wie bereits erkennbar beinhalten jene sechs Zeilen aufzählungsartig aneinandergereihte Metaphern für das Wirken von Sonne, Mond und Himmel. Beschriebene Zusammengehörigkeit der Zeilen wird auch durch anaphorische Satzanfänge („ Euch brütet […]“, Z. 7; „ […] euch umsäuselt […]“, Z. 8; „Euch kühlet […]“, Z. 11) und den jeweils genetivischen Gebrauch der Artikel zur besonderen Herausstellung der „Besitzverhältnisse“, so dass die unmissverständlich genaue Zuweisung der Attribute betont wird, verdeutlicht. Genannte Pronomina heben die Relation belebte – unbelebte Natur, letztere beeinflusst „euch“, erstere, hervor. Somit spricht das lyrische Ich trotz seiner Sprache von kosmischen Erscheinungen weiterhin mit Laub, Rebengeländer sowie Zwillingsbeeren. Eigenschaften der Naturgewalten werden durch wohlklingende Verben illustriert und zeigen einmal mehr der Sprache Bildlichkeit. So verspricht umsäuseln sanfte, zarte, kaum merkliche Berührungen, brüten bedeutet nahezu unerträgliche Hitze, Kühlen vermag dies in der Nacht zu mildern. Es ergibt sich des Weiteren der Kontrast Sonne – Mond, Tag – Nacht, Wärme – Kälte, was durch die Klimax artige Steigerung, nicht der Temperatur sondern der Kälte, von „brüten“ über „umsäuseln“ nach „kühlen“ verstärkt wird. Der Himmel selbst nimmt dabei nur eine neutrale oder vermittelnde Position ein, da Sonne und Mond schließlich beide Himmelskörper, zwei Seiten einer Medaille und dadurch geeint sind. Zudem handelt es sich natürlich sowohl seitens der Sonne als auch des Mondes um Teilprozesse, welche die Natur leben lassen, was das lyrische ich zur Nutzung euphemistischen Vokabulars, das einer Preisung der Gewalten ähnlich anmutet, zu bewegen scheint. Beispiele wären die Alliterationen „(…) des holden Himmels fruchtende Fülle (…), Z. 9 und 10 oder das Kompositum (freundlicher) Zauberhauch, Vers 12, deren Verwendung natürlich auch Sprachfluss und –
Anders als Goethes lyrisches Ich unterbricht selbiges bei Rilke seine imperativische Wendung an Gott im Verlaufe der zweiten Strophe, welche die Zeilen vier bis sieben, also vier Zeilen umfasst, nicht. Da bereits die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe indirekt die Naturgewalten thematisieren, indem das lyrische ich Gott auffordert, sie herbstlich wirken zu lassen, kommen hier nun Erscheinungen der belebten Natur, die Bestandteil Goethes ersten Teils sind, zur Sprache. Früchte sollen reifen, vollendet, der Wein in Aroma und Vollmundigkeit perfektioniert werden. Das lyrische ich drängt geradezu auf die Vervollkommnung des Ertrages aus der Natur, was vor allem menschliches Interesse am Herbst mit all seinen Annehmlichkeiten verrät. Auch hier steht also das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund. Z. 4 beinhaltet sogleich einen doppelten Imperativ: „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein.“ –
Von den hier gebrauchten Verben geht eine ganz andere Dynamik als von denen in Goethes zweitem Teil aus. Sind es dort die Naturgewalten, welche Laub und Beeren denkbar sanft formvollenden, so ist es hier Gott, der drängend und jagend wesentlich gewaltiger, aktiver und fordernder seine Arbeit verrichtet. Erneut ist es die „letzte“, diesmal Süße, welche klare Assoziationen mit Perfektionismus weckt, kein naturgegebenes Geschenk wird ausgespart, alles bis zur Vollendung erledigt. Eine schwache Synästhesie stellt der schwere Wein dar. Ein Wort, das in unseren Sprachgebrauch übergegangen ist, aber dennoch leichte Widersprüchlichkeit aufweist. Schließlich vereinen sich hier die ursprünglichen Bedeutungen des Fühlens eines Gewichtes und Schmecken eines Aromas.
Nach den Erscheinungen der unbelebten Natur folgt bei Goethe nun die Übertragung auf die persönliche Situation des lyrischen Ichs. Der dritte Teil, Z. 13 bis 16 umfassend, wird wie vorangegangenen Zeilen anaphorisch durch „euch“ eingeleitet, wobei die vorangestellte Konjunktion „und“ den Charakter des nachträglichen Hinzufügens verdeutlicht. Vielleicht versucht das lyrische Ich sich mithilfe der Wortwiederholung, wie es sie auch bezüglich der kosmischen Natur gebrauchte, ihr nahezubringen. Doch werden die Tränen anders als Wärme oder Kälte vermutlich wirkungslos bleiben, die belebte Natur wenig beeinflussen. Obgleich Goethe hier ein Verb wortwörtlich natürlichen Ursprungs gebraucht, tauen (vgl. Z. 13), wird es in diesem Zusammenhang den menschlichen Tränen zugesprochen. Jenes wohlklingende, bildliche Verb erzeugt zudem den Eindruck von einer besonderen Beziehung des lyrischen Ichs oder des Menschen im Allgemeinen zur Natur – die eigene Person, das menschliche Wesen ist gemäß pantheistischem Glauben ganz in die Prozesse der Natur einbezogen, hat Anteil daran und ist nicht ausgeschlossen. Die Interjektion „ach“ (vgl. Vers 13) ist ein typischer Kunstgriff der Epoche des Sturm und Drang / der Empfindsamkeit, ferner Ausdruck tiefer Bewegtheit, persönlicher Betroffenheit und natürlich um der sprachlichen Authentizität willen gebraucht. Den direkten Hinweis auf das lyrische ich als weinendes Individuum erhalten wir durch das Reflexivpronomen „diesen“ (vgl. Z. 14), welches die Augen unmissverständlich zuweist. Dabei handelt es sich um eben jene Augen, die sich zuvor an der natürlichen Schönheit der Umgebung erfreuten, in die Ferne blickten. Z. 15 charakterisiert die Liebe als ewige, stetige, unaufhaltsame Lebenskraft, die auch nach Enttäuschungen noch bestehen, das Leben im weiteren Sinne erhalten kann. Diese äußerst optimistische Auffassung passt zu Goethes biografischem Hintergrund –
Auch die dritte Strophe des „Herbsttages“ verweist auf den Menschen, entfernt sich von bloßer belebter und unbelebter Natur, wobei das lyrische ich hier nicht den unmittelbaren Selbstbezug deutlich werden lässt. Doch ist der Ausblick dieser Tage kein guter – die Zukunft hält ein Leben in Einsamkeit, Unruhe und Tristesse bereit. Was sich uns hier bietet ist ein negatives Ende, der Zerfall des Herbstes, nicht der werdende, wachsende Aspekt. Die Haupterkenntnis des lyrischen Ichs lässt sich für die Verse acht bis zwölf wie folgt formulieren: der Mensch ist von der Vervollkommnung der Natur ausgeschlossen, nur Flora und Fauna erfahren die Vollendung in Perfektion. Der erste Satz (Z. 8) kommt einer bloßen Feststellung gleich, die im Präsens formuliert wurde. Durch die Struktur des Satzes, die einen Relativsatz erkennen lässt, werden Anonymität und Allgemeingültigkeit bewahrt, was sich deutlich von den sehr persönlichen letzten Zeilen des lyrischen Ichs bei Goethe unterscheidet. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ –
Zur Gedankenbewegung bei Goethe bliebe zusammenfassend noch Folgendes zu sagen: Der imperativischen Wendung an die belebte Natur um die Vollendung jener zu bewirken schließt sich die weitere Rede mit den Erscheinungen der Pflanzenwelt, aber zudem die Sprache von kosmischer Natur, welche die Flora beeinflusst, an, abschließend wird das „Werden“ eines Herbstes auf die persönliche Trauerstimmung des lyrischen Ichs übertragen, welches der Jahreszeit angepasst in eine optimistische Aufbruchsstimmung versetzt wird. Rilkes Reflektionen unterscheiden sich davon recht deutlich: die imperativische Wendung an Gott, zunächst als Wächter der Naturgewalten, dann als omnipotenter Weltverbesserer zugunsten der belebten Natur, umfasst die ersten beiden Strophen, der dritte Teil lässt bei Übertragung der Herbststimmung auf den Menschen, dessen unmöglich überwindbare Unvollkommenheit deutlich werden, was eher Endzeit-
Empfindsamkeit / Sturm und Drang versus vielschichtigste Literatur der Jahrhundertwende – was bleibt, ist zuweilen der Balsam der Enttäuschungen, manchmal auch die ganz persönliche apokalyptische Endzeitstimmung. Angesichts Goethes biographischen Hintergrundes muss ich meine tiefste Bewunderung für die optimistische Vision von der ewig lebenden Liebe aussprechen. So schön gewählt Amadeus de Prados Worte auch sind, in einem hoffnungslos unglücklichen Gefühlszustand wären sie mir nur ein geringer Trost. Der (Selbst) –
Ob man(n)/ Frau in dieser Form tatsächlich zur wahren Selbsterkenntnis gelangt, liegt im Auge des Betrachters, erscheint mir jedoch eher fragwürdig. Aber –
VERGLEICH ZWEIER GEDICHTE:
8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)
21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied(1933)
8. ERICH KÄSTNER: SACHLICHE ROMANZE (1929)
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
5 Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
10 Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
15 Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
21. MASCHA KALÉKO: DAS ENDE VOM LIED (1933)
Ich säh dich gern noch einmal, wie vor Jahren
Zum erstenmal. – Jetzt kann ich es nicht mehr.
Ich säh dich gern noch einmal wie vorher,
Als wir uns herrlich fremd und sonst nichts waren.
5 Ich hört dich gern noch einmal wieder fragen,
Wie jung ich sei … was ich des Abends tu –
Und später dann im kaumgebornen „Du“
Mir jene tausend Worte Liebe sagen.
Ich würde mich so gerne wieder sehnen,
10 Dich lange ansehn stumm und so verliebt –
Und wieder weinen, wenn du mich betrübt,
Die vielzuoft geweinten dummen Tränen.
– Das alles ist vorbei … Es ist zum Lachen!
Bist du ein andrer oder liegts an mir?
15 Vielleicht kann keiner von uns zwein dafür.
Man glaubt oft nicht, was ein paar Jahre machen.
Ich möchte wieder deine Briefe lesen,
Die Worte, die man liebend nur versteht.
Jedoch mir scheint, heut ist es schon zu spät.
20 Wie unbarmherzig ist das Wort: „Gewesen!“
1. In dem 1933 erstmals publizierten Gedicht »Das Ende vom Lied« von Mascha Kaléko reflektiert das lyrische Ich den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung: Zunächst äußert es den Wunsch nach Wiederholung der einstigen Kontaktaufnahme, die es ermöglicht hatte, den/die noch unbekannte/n zukünftige/n PartnerIn völlig unvoreingenommen zu betrachten. Gerne würde sich das lyrische Ich erneut nach Alter und bevorzugter Freizeitgestaltung befragen lassen, um bereits nach kurzem Kennenlernen Liebesbekundungen zu hören. Wieder wünscht das lyrische Ich, vergangene Gemeinsamkeit zu durchleben, den/die PartnerIn anzuschauen und nach Kummer Tränen zu vergießen.
Stattdessen folgt eine Bestandsaufnahme, der Gedanke, dass derlei Erfahrungen vergänglich seien, die Vermutung, dass sowohl die Interaktion beider PartnerInnen als auch die Zeit das Schwinden von Emotionalität begünstigten. Noch einmal verdeutlicht das lyrische Ich den Wunsch Vergangenes zu erneuern, sich wieder mit einst geschriebenen, von Liebe kündenden Worten zu befassen, bevor sich die Erkenntnis der Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens durchsetzt.
Das lyrische Ich reflektiert, indem es gedanklich Kontakt zum/zur Partner/-
Sehnsucht nach der Suche nach Gemeinsamkeiten und nach aufrichtigem Interesse, auf das die Frage nach der Abendgestaltung schließen ließ. Sehnsucht nach Vertrautheit, mit der man sich mit einem »kaum gebornen Du« (Z. 7) gegenseitig schon früh zu beglücken begann. Schmerzhaft steht den damaligen Liebesschwüren die Gegenwart und mit dieser der Verlust einer idealerweise mit Verliebtsein einhergehenden und in überschwängliche Emotionalität mündenden Naivität gegenüber.
Gegenwärtig ist man sich nicht mehr »herrlich fremd« (V. 4); was bleibt, ist Gewohnheit. Eine als »unbarmherzig« (Z. 20) erlebte Routine. Zunächst scheint das lyrische Ich die Gegenwart negieren zu wollen. Der Verlust des Ideals ist schwer zu akzeptieren. Selbst die aus Kummer »oft geweinten dummen Tränen« (Z. 12) werden sehnsüchtig vermisst. Die unübersehbare Tendenz die eigenen Gefühlsäußerungen negativ zu attribuieren verrät Distanzierung vom damals schmerzenden, heute retrospektiv betrachtet weniger schmerzenden Kummer. Dieser scheint heute annehmbarer zu sein als von Gewohnheit abgelöstes Verliebtsein sowie das beklagte Fehlen von Emotionen. Doch verrät das lyrische Ich auch Ambivalenz, wenn es einerseits die Notwendigkeit der Gefühlsäußerungen erkennt, da deren Verurteilung und die daraus resultierende Unterdrückung einen eigenen Beitrag zum Absterben der vermissten Emotionalität leisten, andererseits jedoch an der Verurteilung des Weinens als übertrieben anmutend festhält. Obendrein fällt auf, wie das lyrische Ich die als schmerzhaft empfundene Gegenwart als »zum Lachen!« (Z. 13) beschönigt, wodurch die Sehnsucht leichter zu ertragen sein mag. Letztlich findet sich das lyrische Ich mit der Überzeugung ab, »es [sei] schon zu spät« (Z. 19). Das lyrische Ich bestärkt die eigene Passivität. Zur Kompensation des Unvermögens Verantwortung zu übernehmen, den Widerspruch zwischen Erkenntnis einer Ursache und Überwindung jener Ursache zu lösen, bemüht es sich um die Erklärung des Verlustes der Emotionalität durch weitere Einflussfaktoren: Der/Die PartnerIn könne sich verändert haben. Jedoch hieße dies, den/die einst idealisierte/n PartnerIn abwerten zu müssen. Um diese Option zu vermeiden, wird Verantwortung auf die Zeit abgewälzt. Übrig bleibt Resignation und als Fazit der Glaube an die Unaufhaltbarkeit der Vergänglichkeit.
Das Gedicht umfasst fünf aus je vier Versen gestaltete Strophen. Durchgängig setzen sich diese aus umarmten Paarreimen zusammen, wobei jene jeweils männliche Kadenzen aufweisen, während die Zeilenabschlüsse der Umarmungen weiblich sind. Jeder Vers formt darüber hinaus einen Jambus mit fünf Hebungen, wodurch eine regelmäßige, leichte Intonation ermöglicht wird.
Sprachlich fällt die sparsame Verwendung von Bildern auf. Viel mehr ist das lyrische Ich um eine möglichst rationale Schilderung der eigenen Befindlichkeit bemüht. Durch die häufige Nutzung der Personalpronomina »Ich« (Z. 17) und »du« (Z. 14) entsteht eine Identifikationsmöglichkeit des Lesers mit dem lyrischen Ich; zugleich erfährt der Leser von der Existenz des Partners bzw. der Partnerin. Ausschließlich durch die Schilderungen des lyrischen Ichs wird der Leser informiert; ein Dialog findet
nicht statt. Die wiederholte Verwendung des Konjunktivs in den ersten drei Strophen kreiert den Wunsch des lyrischen Ichs nach Flucht aus der Gegenwart sowie die Unmöglichkeit deren Realisierung. Hyperbolisch zeugen »tausend Worte Liebe« (Z. 8) von Idealisierung des Vergangenen. Viele Adjektive und Partizipien dienen dem Facettenreichtum sowie der Emotionalisierung einer »stumm und so verliebt […] [und auch] betrübt« (Z. 10 f.) genossenen Vergangenheit als Kontrast zur Gegenwart, in der der Sinn einst verfasster Briefe, die »liebend nur« (Z. 18) verstanden worden waren, verblasst.
Zusätzlich durch die inversive Form wird die Priorität der Liebe als Grundvoraussetzung für jegliches Wortverständnis hervorgehoben. Die alliterierende Rhetorik, mit der das lyrische Ich Bereitschaft signalisiert, »wieder [zu] weinen, wenn« (Z. 11) sich die Vergangenheit erneuern ließe, unterstreicht wortspielerisch den Wunsch nach Wiederherstellung vergangener Harmonie, der Symbiose, die rückblickend auch dann als wertvoll erkannt werden kann, wenn Kummer sie auf die Probe stellte. Die Personifikation der »dummen Tränen« (Z. 12) verstärkt das Gefühl hilflos ausgeliefert zu sein, letztlich nichts ändern zu können. Beim Lesen des letzten Verses sieht sich der Adressat mit einem ähnlichen Bild konfrontiert: Personifizierend wälzt das lyrische Ich Verantwortung auf das als »unbarmherzig« (V. 20) empfundene, als »Wort: gewesen!« (Z. 20) Gestalt annehmende Abstraktum abgeschlossener Vergangenheit ab.
Durch die rhetorische Frage nach Gründen für die gegenwärtige Lieblosigkeit nebst der Beantwortung durch die Mutmaßung, dass »vielleicht [.] keiner« (Z. 15) außer »ein paar Jahre« (Z. 16) als endgültiger Verursacher identifiziert werden könne, zeigt das lyrische Ich zwar die Fähigkeit zur differenzierten Reflexion, jedoch mangelt es an Möglichkeiten durch Überwindung eigener Defizite die Gefühle der Vergangenheit neu zu beleben. Die Zuhilfenahme der Indefinitpronomina »keiner« (Z. 15) und »Man« (Z. 16) unterstützt das Verdrängen eigener Verantwortung.
Als Redewendung konzipiert nimmt die Überschrift verdichtet die aus dem Fazit resultierende Enttäuschung vorweg. Das lyrische Ich möchte den Leser mit dem Schmerz konfrontieren, mit der Sehnsucht, die entsteht, wenn innerhalb einer Beziehung Gewohnheit an die Stelle von Verliebtsein, von liebevollen Bekundungen, von Blicken, von Komplimenten, von gelebten Emotionen tritt – mit durchaus als Alltagserfahrungen geltenden Erfahrungen. Insofern kann das thematisch zeitlose Gedicht potenziell jeden Adressaten berühren.
Literaturhistorisch ist »Das Ende vom Lied« der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Mascha Kaléko veröffentlicht es erstmals 1933 in »Das lyrische Stenogrammheft«, ihrem ersten im Rowohlt Verlag publizierten Buch. 1933 beginnen die Nationalsozialisten nach der zur »Machtergreifung« verklärten Machtübertragung im Eiltempo die Reste des verhassten Liberalismus der jüngst beseitigten Weimarer Demokratie zu vernichten:
Auf die Abschaffung sämtlicher Grundrechte im Rahmen der Reichstagsbrandverordnung folgen Deportationen politischer Gegner in die ersten Konzentrationslager, und mit dem so genannten Ermächtigungsgesetz folgt die Verfassungsgrundlage des fortan herrschenden, streng um einen
rechtsstaatlichen Anstrich bemühten Terrorregiments. Zur allerorten vollführten Gleichschaltung gehören die von der Deutschen Studentenschaft inszenierten Bücherverbrennungen in den größten deutschen Universitätsstädten; vorwiegend fliegen die Werke kritischer expressionistischer Dichter sowie der Literaten der Neuen Sachlichkeit und vor allem von Juden verfasste Schriften in die Glut.
Auf politische Zuspitzungen verweist »Das Ende vom Lied« in gar keiner Weise. Stattdessen ist das lyrische Ich um rationale Erklärungen bemüht ‒ um Sachlichkeit bei der Schilderung von Erfahrungen mit der Liebe, die so oder so ähnlich von vielen Repräsentanten der modernen Massengesellschaft erlebt werden.
2. Auch Erich Kästners »Sachliche Romanze« ist ein Werk der Neuen Sachlichkeit. Auch dieses behandelt thematisch den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung. Bereits die Überschrift bereitet den Leser auf eine scheinbar emotionsarme Haltung des lyrischen Ichs gegenüber der Wirklichkeit vor.
In Kästners Gedicht wird von einem seit acht Jahren miteinander vertrauten Liebespaar erzählt. Eines Tages beginnt diesem der Verlust jener Liebe gewahr zu werden, und beide reagieren mit Versuchen ihr gemeinsames Leben unbeeinträchtigt fortzusetzen. Zwar verspüren beide auch Trauer, doch spenden sie sich gegenseitig Zärtlichkeiten; sie küssen sich. Die Partnerin vergießt Tränen, während der Mann lediglich anwesend ist. Durch die Fensterscheiben betrachten sie Schiffe, das Spiel eines benachbarten Pianisten nehmen sie zur Kenntnis, am Nachmittag entscheidet der Mann gemeinsam außer Haus einen Kaffee zu sich zu nehmen. Im gewählten Café angekommen schweigen sie einander bis zum Abend an.
Anders als in Kalékos »Das Ende vom Lied« gibt Kästners lyrisches Ich nicht eigene Regungen preis. Es präferiert die Distanz eines Beobachters. Geschildert wird die Interaktion eines Liebespaares, dessen Verlust von Liebe mit etwas derart banal Anmutendem wie dem Verlust eines »Stock[s] oder [eines] Hut[es]« (Z. 4) verglichen wird. Der Kommentar des lyrischen Ichs birgt Nuancen von Distanz verstärkendem Sarkasmus in sich. Versuche des Paares sich zu verhalten, »als ob nichts sei« (Z. 6), schildert das lyrische Ich, ganz gleich, ob es von der Wahrnehmung des Klavierspiels erzählt oder vom Entschluss ein Café aufzusuchen oder vom dortigen wortkargen Aufenthalt, mit emotionsloser Schlichtheit. Über die Empfindungen des Mannes sowie die der Frau wird der Leser lediglich oberflächlich informiert. Er erfährt von Traurigkeit, von Versuchen sich in Heiterkeit zu üben. Weil keiner der Beteiligten den »nicht [zu] fassen[den]« (Z. 17) Verlust der Liebe in angemessenen Worten auszudrücken vermag, dominiert Sprachlosigkeit. Eine Sprachlosigkeit, von der dem Leser wiederum vom lyrischen Ich mit größtmöglicher Schlichtheit, ebenfalls wortarm, berichtet wird. Kalékos lyrisches Ich hingegen ist als betroffene Person emotionaler involviert. Dem entsprechend gewährt es eine umfassende Teilhabe an Emotionen, die dem Leser die Ursachen der Tragik nachvollziehbar erscheinen lassen. Dem gegenüber wirkt das Paar in »Sachliche Romanze« auf Grund völlig fehlender Reflexion noch deutlich hilfloser. Auffallend ist im Vergleich mit »Das Ende vom Lied« zudem, dass Fragen nach Schuld in Kästners Gedicht nicht die geringste Bedeutung beigemessen wird.
Kästners Lyrik setzt sich aus vier Strophen zusammen. Vier Verse gestalten je die ersten drei Strophen. Lediglich die letzte Strophe besteht aus fünf Versen. Die Versabschlüsse wechseln in den ersten drei Strophen regelmäßig zwischen weiblich und männlich. Die letzte Strophe beginnt mit einer männlichen Kadenz, es folgt eine weibliche, anschließend zwei männliche und abschließend erneut eine weibliche. Der regelmäßige Kreuzreim weicht ebenfalls ausschließlich in der letzten Strophe dem Schema abaab. So tragen die Formelemente gleichfalls zur das Gedicht dominierenden Schlichtheit bei. Da das Metrum teilweise Unregelmäßigkeiten aufweist, verlangt die Intonation etwas Übung: Zunächst wechseln innerhalb der ersten Strophe passend zum Kreuzreim alternierend Trochäen mit je vier Hebungen und Jamben mit je vier Hebungen einander ab. Die zweite Strophe setzt sich durchgängig durch Jamben mit vier Hebungen zusammen; diese gestalten sowohl die dritte als auch die vierte Strophe; den vierten Vers der dritten Strophe jedoch bildet wiederum ein Trochäus.
Die Verwendung von überwiegend bildlosen Bildern kennzeichnet die extrem verdichtete Sprache. Eine nur wenige Attribute nutzende, einen nur oberflächlichen Blick auf die seelischen Verfassungen erlaubende Sprache. Eine Sprache, die dennoch ein Maximum an Bedeutung entfalten kann. Kontrastierend werden antithetisch innerpersönliche Konflikte angedeutet: Konflikte zwischen dem Bestreben, sich »heiter« (Z. 5) zu gebärden, auch wenn die Realität »traurig« (Z. 5) zu sein scheint.
Die Überschrift deutet das Scheitern an: Liebe, insbesondere über »acht Jahre« (Z. 1) gewachsene Liebe, wird zur Romanze degradiert. Liebe lebt in erster Linie von Sinnlichkeit. Löst Sachlichkeit jene Sinnlichkeit ab, bedeutet das auf Dauer das Ende der Liebe. Auch Kästners lyrisches Ich richtet sich mit der zeitlosen Thematik potenziell an jeden Adressaten.
GEDICHTE ZUR SELBSTSTÄNDIGEN ANALYSE
AUSGEWÄHLTE GEDICHTE ZUR EIGENSTÄNDIGEN INTERPRETATION:
22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)
23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)
24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)
25. Ulla Hahn: Allein (1983)
26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)
27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)
28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)
29. Ulla Hahn: Danklied (2003)
30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)
31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)
32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)
33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)
34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)
35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)
36. Ulla Hahn: Wartende (1983)
37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)
38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)
39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)
40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)
41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)
42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)
43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)
44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)
45. Hermann Hesse: Stufen (1941)
46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)
47. Ernst Jandl: Beschreibung eines Gedichts (1977)
48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)
49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)
50. Anja Kampmann: steilküste (2012)
51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)
52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)
53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)
22. BERTHOLD BRECHT: BALLADE VON DER UNZULÄNGLICHKEIT MENSCHLICHEN PLANENS (1928)
Der Mensch lebt durch den Kopf.
Sein Kopf reicht ihm nicht aus.
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt höchstens eine Laus.
5 Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlau genug.
Niemals merkt er eben
Diesen Lug und Trug.
Ja, mach nur einen Plan!
10 Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
15 Doch sein höhres Streben
Ist ein schöner Zug.
Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr
Denn alle rennen nach dem Glück
20 Das Glück rennt hinterher.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht anspruchslos genug.
Drum ist all sein Streben
Nur ein Selbstbetrug.
25 Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihn auf den Hut.
Hast du ihm auf dem Hut gehaun
Dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
30 Ist der Mensch nicht gut genug
Darum haut ihm eben
Ruhig auf den Hut!
23. HANS MAGNUS ENZBERGER: DIE SCHEIßE (1983)
Immerzu höre ich von ihr reden,
als wär‘ sie an allem schuld.
Seht nur, wie sanft und bescheiden
sie unter uns Platz nimmt!
5 Warum besudeln wir denn
ihren guten Namen
und leihen ihn
dem Präsidenten der USA,
den Bullen. dem Krieg
10 und dem Kapitalismus?
Wie vergänglich sie ist,
und was wir nach ihr nennen,
wie dauerhaft!
Sie, die Nachgiebige,
15 führen wir auf der Zunge
und meinen die Ausbeuter.
Sie, die wir ausgedrückt haben,
soll nun auch noch ausdrücken
unsere Wut?
20 Hat sie uns nicht erleichtert?
Von weicher Beschaffenheit
und eigentümlich gewaltlos
ist sie von allen Werken des Menschen
vermutlich das friedlichste.
25 Was hat sie uns nur getan?
24. GÜNTER GRASS: WAS GESAGT WERDEN MUSS (2012)
Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.
5 Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
10 einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren – wenn auch geheim gehalten –
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
15 aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
20 und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er missachtet wird;
das Verdikt ‚Antisemitismus‘ ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
25 die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-
30 geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
35 sage ich, was gesagt werden muss.
Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
40 dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.
Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
45 den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muss,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir – als Deutsche belastet genug –
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
50 das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
55 überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
60 dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
65 Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
69 und letztlich auch uns zu helfen.
25. ULLA HAHN: ALLEIN (1983)
Ich hab die Schnauze voll ich
bin auch müde und fürcht mich,
jetzt schon vor dem ersten warmen Tag
den kleinen Kindern und den
5 schwangeren Frauen und was das
Frühjahr noch erzeugen mag.
Ich bin allein ich hab nichts
zu verlieren als ein paar
Träume vom vergangnen Jahr
10 und Angst mit mir was Neues
zu probieren nicht zu krepiern
an dem was niemals war.
26. ULLA HAHN: ANSTÄNDIGES SONETT(1981)
Ich hab die Schnauze voll ich
bin auch müde und fürcht mich,
jetzt schon vor dem ersten warmen Tag
den kleinen Kindern und den
5 schwangeren Frauen und was das
Frühjahr noch erzeugen mag.
Ich bin allein ich hab nichts
zu verlieren als ein paar
Träume vom vergangnen Jahr
10 und Angst mit mir was Neues
zu probieren nicht zu krepiern
an dem was niemals war.
27. ULLA HAHN: BEKANNTSCHAFT (1993)
Die Fehler sind bekannt: Ich hab sie längst begangen
Schuld oder Unschuld trifft mich ganz allein
Ich bin auf meinen eigenen Leim gegangen
ich fiel auf keinen als mich selber rein
5 Was ich auch tue macht die Fehler schwerer
die Fehler machen bald mein Leben aus
Ich bin in diesem Leben eingefangen
ich komme nicht aus meiner Haut heraus
die narbenstrotzend an mir klebt und knittert
10 und mit den Jahren deutlicher verwest
Ich bin die einzige die vor mir zittert
ich weiß daß niemand mich von mir erlöst.
28. ULLA HAHN: BEWEISLAGE (2003)
Hättest Du hätte ich wären wir
im Sog des Vakuums immer weiter
in die Jahre gekommen
Glaube versetzt vielleicht Berge
5 aber niemals einen Konjunktiv
Nicht einmal ein Foto
von all der Hoffnung
all der Geduld.
29. ULLA HAHN: DANKLIED (2003)
Ich danke dir dass du mich nicht beschützt
dass du nicht bei mir bist, wenn ich dich brauche
kein Firmament bist für den kleinen Bärn
und nicht mein Stab und Stecken der mich stützt.
5 Ich danke dir für jeden Fusstritt der
mich vorwärts bringt zu mir
auf meinem Weg. Ich muss alleine gehn.
Ich danke dir. Du machst es mir nicht schwer.
Ich dank dir für dein schönes Angesicht
10 das für mich alles ist und weiter nichts.
Und auch dass ich dir nichts zu danken hab
als dies und manches andere Gedicht.
30. ULLA HAHN: FEST AUF DER ALSTER (1988)
All das Eis wir schwelgen
im Winter unter der Sonne
Laufen auf Kufen im Kreis
und gradaus mit und gegen
5 und durch Licht und Wind.
Alte Ehepaare ziehn sich
noch enger zusammen
Vater und Mutter kreisen
in hohem Bogen ums Kind.
10 Wippende Mädchen im heiratsfähigen Alter
lächeln aus der Hüfte heraus gutaus
staffierte Lilien in kühnen Kurven
kreuzen ihre Herzensmänner das Feld.
Sogar silbrige Herren und Damen geraten
15 ins Schleudern der Hut fliegt vom Kopf
der Hund rutscht hinterdrein
wittert Glühwein auf Eis.
Übermütig lächeln wir alle verschworene
Kinder die vom selben Süßen genascht
20 Werfen Lächeln wie Bälle uns zu
durch die lächelnde Luft. Lächeln
als gäbe es nichts zu bestehn
als den nächsten Schritt als geschähe
nur was wir im voraus schon sehn
25 bis an den Horizont von
Brücken Kirchen und Banken.
Lächelnd vergibt ein jeder von uns
seinem Nächsten und sich
diesen Nachmittag lang
30 all das Eis
unter der Sonne.
31. ULLA HAHN: HYPNOTISCHES SONETT (1997)
Wenn wir tiefer atmeten langsamer
gingen ruhiger führten unsere Augen
von einem zum anderen nur noch leise
sprächen und selten: ewig lebten wir
5 nicht aber ein bisschen ewiger doch
wie das Meer vielleicht oder sogar
wie Worte und Sätze vom Meer
oder dieser eine Nachmittag heute
an dem wir einander vergessen machen
10 was anderswo auch geschieht
dauerte sagen wir drei bis vier Wochen
die wiederum ein paar
doppelte dreifache Jahre oder
14 wenigstens: Jetzt.
32. ULLA HAHN: IRRTUM (1988)
Und mit der Liebe sprach er ists
wie mit dem Schnee: fällt weich
mitunter und auf alle
aber er bleibt nicht liegen.
5 Und sie darauf die Liebe ist
ein Feuer das wärmt im Herd.
Verzehrt wenn’s dich ergreift
muß’ ausgetreten werden.
So sprachen sie,
10 schmiegten sich eng aneinander
und küssten sich innig
als gäb’s nichts Schöneres für sie.
33. ULLA HAHN: MEINE WÖRTER (1981)
Meine Wörter hab ich
mir ausgezogen
bis sie dalagen
atmend und nackt
5 mir unter der Zunge.
Ich dreh sie um
spuck sie aus
saug sie ein
blas sie auf
10 spann sie an
von Kopf bis Fuß
spann sie auf
Mach sie groß
wie ein Raumschiff zum Mond
15 und klein wie ein Kind.
Überall suche ich die Zeile
die mir sagt
18 wo ich mich find
34. ULLA HAHN: NIE MEHR (1988)
Das hab ich nie mehr gewollt
um das Telefon streichen am Fenster stehn
keinen Schritt aus dem Haus gehn Gespenster sehn
das hab ich nie mehr gewollt
5 Das hab ich nie mehr gewollt
Briefe die triefen schreiben zerreißen
mich linksseitig quälen bis zu den Nägeln
das hab ich nie mehr gewollt
Das hab ich nie mehr gewollt
10 Soll der Teufel dich holen.
Herbringen. Schnell.
Mehr hab ich das nie gewollt.
35. ULLA HAHN: VORGESCHRIEBEN (1993)
Diese Sehnsucht
dich beim Namen zu nennen
Diese Angst
dich beim Namen zu nennen
5 Diese Sehnsucht
Wort zu halten
Diese Angst
nur Wort zu halten
Diese Sehnsucht nach einem Leben
10 das kein Gedicht wird
Diese Angst vor einem Gedicht
das ein Leben vorwegnimmt.
36. ULLA HAHN: WARTENDE (1983)
Sie sitzt an einem Tisch für zwei Personen
allein mit diesem wachen starren Blick
schaut sie umher als hätt’ sie was verloren
und hält sich fest an einem Buch: Ihr Strick
5 der sie herauszieht aus den Augenpaaren
die nach ihr züngeln mitleidlos und spitz
wie Wellen über ihr zusammenschlagen
sie niederdrücken auf den Plastiksitz
der unter ihren Schenkeln klebt. Sie schwenkt
10 ihr Glas das Eis schmilzt klirrend schneller
sie selbst wird immer kleiner und versänk
gern als Erfindung in ihr Buch
das sie nun zuschlägt. Eh sie auftaucht
14 zahlt und geht. Es ist genug.
37. ULLA HAHN: WINTERLIED (1981)
Als ich heute von dir ging
fiel der erste Schnee
und es machte sich mein Kopf
einen Reim auf Weh.
5 Denn es war die Kälte nicht
die die Tränen mir
in die Augen trieb
es war vielmehr Ungereimtes.
Ach da warst du schon zu weit
10 als ich nach dir rief
und dich fragte wer die Nacht
in deinen Reimen schlief.
38. ULLA HAHN: WÖRTLICH GENOMMEN (2011)
Ich herze dich
ich lunge dich
ich haute haare
pore dich
5 Du baust auf mich
du dachst mich spitz
palastest mich
oasest mich
Du meersternst mich
10 du landest mich
Ich berg dich
tal dich gipfel dich
Du freudest mich
Ich freude dich
15 Du sehnsuchst mich
Ich sternschnupp dich
Du brüstest hüftest
schenkelst mich
20 Ich zunge zaum
ich kehlkopf dich
Ich hauch brauch fauch
du füllhornst mich
24 Wir atmen amseln amen.
39. ULLA HAHN: ZU SCHWER (1993)
Bleib bei mir als wärst Du
lang für mich da
laß wachsen dein weißes
in meinem Haar
5 Lieb mich als ob
das gut für dich wär‘
als gäben wir
Leben um Leben her
Ertrag mich als trügest
10 du nicht zu schwer
behüt mich als ob
ich verloren wär‘.
40. HEINRICH HEINE: DIE SCHLESISCHEN WEBER (1844)
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch –
5 Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –
10 Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt,
Und uns wie Hunde erschießen läßt –
15 Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt –
20 Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht –
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
25 Wir weben, wir weben!
41. HEINRICH HEINE: NACHTGEDANKEN (1843)
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
5 Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
Mein Sehnen und Verlangen wächst.
10 Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!
Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
15 Seh ich wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf lange Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
20 Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.
25 Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wir;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.
Seit ich das Land verlassen hab,
30 So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.
Und zählen muß ich – Mit der Zahl
Schwillt immer höher meine Qual,
35 Mir ist als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust – Gottlob! sie weichen!
Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
40 Und lächelt fort die deutschem Sorgen.
42. HERMANN HESSE: BERICHT DES SCHÜLERS (1902)
Mein Lehrer liegt und schweigt schon manche Tage.
Oft weiß ich nicht, ob er mit Schmerzen ringe,
Ob mit Gedanken. Wenn ich etwas sage,
So hört er nicht. Doch wenn ich sitz und singe,
5 Lauscht er geschlossenen Auges wie entrückt,
Vielleicht ein Wissender des höchsten Grades,
Vielleicht ein Kind, von etwas Klang beglückt,
Doch stets der Regel treu des Mittlern Pfades.
Zuweilen regt er die erstarrte Hand,
10 Als hielte sie den Schreibestift und schriebe.
Dann wieder ist der Türe zugewandt
Sein Blick mit einer unsagbaren Liebe,
Als hör er Boten nahn auf Engelsflügeln
Und sähe Himmelspforten offen stehn
15 Oder auf seiner fernen Heimat Hügeln
Wie einst im Morgenhauch die Palmen wehn.
Oft ist mir bang, als sei ich krank statt seiner,
Als war ich selber grau, erloschen, alt
Und jener dünnen Blätterschatten einer,
20 Wie sie der Morgen an die Mauer malt.
Doch er, der Meister, scheint von Wirklichkeit,
Von Sein, von Wesen ganz getränkt und trächtig.
Indes ich schwinde, wird er weltenweit
24 Und füllt die Himmel strahlend und allmächtig
43. HERMANN HESSE: FRÜHLINGSTAG (1902)
Wind im Gesträuch und Vogelpfiff
Und hoch im höchsten süßen Blau
Ein stilles, stolzes Wolkenschiff. . .
Ich träume von einer blonden Frau,
5 Ich träume von meiner Jugendzeit,
Der hohe Himmel blau und weit
Ist meiner Sehnsucht Wiege,
Darin ich stillgesinnt
Und selig warm
10 Mit leisem Summen liege,
So wie in seiner Mutter Arm
Ein Kind.
44. HERMANN HESSE: IM NEBEL (1902)
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.
5 Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
10 Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
15 Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
45. HERMANN HESSE: STUFEN (1941)
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
5 Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
10 Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
15 Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
20 Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!
46. HERMANN HESSE: WAS DER WIND IN DEN SAND GESCHRIEBEN (1949)
Dass das Schöne und Berückende
nur ein Hauch und Schauer sei,
dass das Köstliche, Entzückende,
Holde ohne Dauer sei:
5 Wolke, Blume, Seifenblase,
Feuerwerk und Kinderlachen,
Frauenblick im Spiegelglase
und viel andre wunderbare Sachen,
dass sie, kaum entdeckt, vergehen,
10 nur von Augenblickes Dauer,
nur ein Duft und Windeswehen,
ach, wir wissen es mit Trauer.
Und das Dauerhafte, Starre
ist uns nicht so innig teuer:
15 Edelstein mit kühlem Feuer,
glänzendschwere Goldesbarre;
selbst die Sterne, nicht zu zählen,
bleiben fern und fremd, sie gleichen
uns Vergänglichen nicht, erreichen
20 nicht das Innerste der Seelen.
Nein, es scheint das innigst Schöne,
Liebenswerte dem Verderben
zugeneigt, stets nah am Sterben,
und das Köstlichste: die Töne
25 der Musik, die im Entstehen
schon enteilen, schon vergehen,
sind nur Wehen, Strömen, Jagen
und umweht von leiser Trauer,
denn auch nicht auf Herzschlags Dauer
30 lassen sie sich halten, bannen;
Ton um Ton, kaum angeschlagen,
schwindet schon und rinnt von dannen.
So ist unser Herz dem Flüchtigen,
ist dem Fließenden, dem Leben
35 treu und brüderlich ergeben,
nicht dem Festen, Dauertüchtigen.
Bald ermüdet uns das Bleibende,
Fels und Sternwelt und Juwelen,
uns in ewigem Wandel treibende
40 Wind-
Zeitvermählte, Dauerlose,
denen Tau am Blatt der Rose,
denen eines Vogels Werben,
eines Wolkenspieles Sterben,
45 Schneegeflimmer, Regenbogen,
Falter, schon hinweg geflogen,
denen eines Lachens Läuten,
das uns im Vorübergehen
kaum gestreift, ein Fest bedeuten
50 oder wehtun kann. Wir lieben,
was uns gleich ist, und verstehen,
was der Wind in den Sand geschrieben.
47. ERNST JANDL: BESCHREIBUNG EINES GEDICHTS (1977)
bei geschlossenen lippen
ohne bewegung in mund und kehle
jedes einatmen und ausatmen
mit dem satz begleiten
5 langsam und ohne stimme gedacht
ich liebe dich
so daß jedes einziehen der luft durch die nase
sich deckt mit diesem satz
jedes ausstoßen der luft durch die nase
10 das ruhige sich heben
und senken der brust
48. MASCHA KALÉKO: BESCHEIDENE ANFRAGE (1933)
Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Kramst du manchmal noch in meinen Briefen?
Ist das kleine Landhaus mit dem schiefen
Bretterdach auch jetzt noch malerisch?
5 Geht die Haustürklingel noch so schrill
Und verklingt erschrocken immer leiser …
Bellt dein Dackel Julius noch so heiser?
Ists am Abend so wie damals still ?
Hast du immer noch kein Telephon?
10 Gibts auf dem Balkon noch Hängematten?
Spielt ihr manchmal noch die Schubertplatten
Auf dem altersschwachen Grammophon?
Gibts zum Tee noch immer Zuckerschnecken?
Sagt Johanna immer noch «der» Gas … ?
15 Darf man in das teure Gartengras
Immer noch nicht seine Beine strecken?
Weht der Seewind morgens noch so frisch?
Grinst der Mond des Nachts noch so verlegen?
Gehst du manchmal mir zur Bahn entgegen?
20 … Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Steht mein Bild …? – Ich hab’ es selbst zerrissen!
Glaub nur nicht, ich hätte deins vermißt.
Aber manchmal möcht man manches wissen,
24 Wenn man so mit sich alleine ist …
49. MASCHA KALÉKO: DAS LETZTE MAL (1938)
Du gingest fort. – In meinem Zimmer
Klingt noch leis dein letztes Wort.
Schöner Stunden matter Schimmer
Blieb zurück. Doch du bist fort.
5 Lang noch seh ich steile Stufen
Zögernd dich hinuntergehn,
Lang noch spür ich ungerufen
Dich nach meinem Fenster sehn,
Oft noch hör ich ungesprochen
10 Stumm versinken manches Wort,
Oft noch das gewohnte Pochen
An der Tür. – Doch du bist fort.
50. ANJA KAMPMANN: STEILKÜSTE (2012)
schon bald ist sonntag
in den klippen verfangen sich
die wölfe so klingt das meer das uns trifft
das rollen der steine von vorn ein paar stiefel
5 im fels wie sich die wogen waschen an der luft
im laufe bläht der wind das cape den raum
für dein kleines gedächtnis gelb
als sie rannten kinder die ihre zungen
in den regen strecken meer salz das heulen
10 des winds zu erlernen von vorn
mit der gischt kommt die liebe rau
in all ihren alten sprachen.
51. URSULA KRECHEL: UMSTURZ (1977)
Von heut an stell ich meine alten Schuhe
nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten
häng den Kopf beim Denken
nicht mehr an den Haken
5 freß keine Kreide. Hier die Fußstapfen
im Schnee von gestern, vergeßt sie
ich hust nicht mehr mit Schalldämpfer
hab keinen Bock
meine Tinte mit Magermich zu verwässern
10 ich hock nicht mehr im Nest, versteck
die Flatterflügel, damit ihr glauben könnt
ihr habt sie mir gestutzt. Den leeren Käfig
stellt mal ins historische Museum
14 Abteilung Mensch weiblich.
52. SILKE SCHEURMANN: UNDINE GEHT WEIL HANS IHRE NEUEN KLEIDER NICHT MEHR BEWUNDERT (2011)
Dein Blick weg vom Körper zum Horizont
entfernt dich von mir und den Dingen
den Blutkörperchen Handhaltungen
schließlich dem Glanztrio Auge Zahn Lippe
5 führt hinter das Tageslicht in andere Räume
weit weg zu den Grabgräbern Grabrednern
den Putschisten und Kämpfern in Grosny
zu dem Regenbogen rot gelb rot
weil jede Wolke nur Eiter und Blut spuckt
10 schon meine Mutter sagte mir
schlaf nie mit einem Fotografen
sie haben schon zu viel gesehen
Du bist bei Hügeln aus Tulpen oder wo
Dies ist die Stadt Fußgängerzone
15 hier sind wir hier spaziert dein
inneres Feuer umher mit dem Wissen
daß zwei Personen die sich lieben
sich addieren oder subtrahieren können
Plus machen können oder wie in
20 diesem Fall ganz unverschuldet Minus
53. JÖRG SCHIEKE: ZEIT FÜR MICH (2005)
vorne das haus und dahinter
die von der wippe
wandernden täler. zurück
ein stück film, die farbe
5 der augen und die beschreibung
jener farbe
in noch anderen farben. ich lieb dich
ja auch, kann es nur nicht
so zeigen, wie du, mit dem
10 korallenvornamen, korall li, korall
la, als ich ging, von rom
nach venedig und weiter
bis china, die gleise
zu siezen und mit der brücke, es mag
15 auch nur ein brett
gewesen sein, per du.