Literatur & Sachtexte

DRAMA

Nach einer kurzen Einführung in die Gattung „Drama“ folgen Analysen von Szenen und z.T. auch von einzelnen Personen zu den folgenden 6 Dramen, die sich meist an den Aufgabenstellungen des Zentralabiturs orientieren. Zu den meisten Dramen habe ich auch weiterführende Schreibaufträge (verlinken) ausgearbeitet.

1. Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (1943) (Ausgabe: Berlin 1964)

2. Georg Büchner: Woyzeck (1837) (Ausgabe: Reclam XL, Stuttgart 2013)

3. Friedrich Dürrenmatt: Besuch der alten Dame (1955) (Ausgabe: Zürich 1980)

4. Friedlich Dürrenmatt: Die Physiker (1961) (Ausgabe: Zürich 1980)

5. Gerhardt Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (1889) (Ausgabe: Berlin 2004)

6. G.E. Lessing: Emilia Galotti (1772) (Ausgabe: Stuttgart 1986)

(klingt wie: Emilio Gelati, die italienische Eisdiele)

7. Moritz Rinke: Cafe Umberto (2005) (Ausgabe: Reinbek 2005)

8. Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891) (Ausgabe: Reclam XL, Stuttgart 2013)

DRAMA – DEFINITION:

Das Drama ist neben der Epik und der Lyrik eine der drei literarischen Grundgattungen. Das Wort Drama stammt aus dem Altgriechischen (dráma = Handlung) und bezeichnet Theaterstücke mit Textgrundlage. Kennzeichnend für das Drama ist die Darstellung einer in sich abgeschlossenen Handlung durch Dialoge. Diese Handlung wird unmittelbar und gegenwärtig auf der Bühne präsentiert.

Nach einem modernen Verständnis werden Dramen verfasst, um von Schauspielern im Theater aufgeführt zu werden. Häufig beinhalten sie daher nicht nur Dialogtexte, sondern auch Anweisungen für Schauspieler, seit dem 19. Jahrhundert auch für Regisseure. Durch seine Ausrichtung auf das Theater zielt das Drama nicht auf den Leser, sondern will ein Theaterpublikum erreichen.

AUFBAU DES DRAMAS

Das Drama beinhaltet in der Regel einen Haupttext mit direkter fiktiver Rede der Figuren. Diese ist in Monologe oder Dialoge eingebettet. Nahezu alle Informationen werden durch die Figurenrede vermittelt. Das gilt auch für zeitlich oder räumlich ferne Ereignisse. Diese teilen die Figuren zum Beispiel durch das Vorlesen eines Briefes oder mit Hilfe einer „Mauerschau“ (eine Figur erzählt, was sie in der Ferne sieht) mit. Der Haupttext eines Dramas wird oft von einem Nebentext begleitet, in dem das Geschehen kommentiert oder die Figuren arrangiert werden. Seit dem 20. Jahrhundert sind dank moderner Technik auch mediale Vermittlungen via Tonbandaufnahmen oder Video-Installationen üblich, um ein Geschehen zu vermitteln oder zu kommentieren.

Dramen gliedern sich im Normalfall in Akte/Aufzüge, die wiederum in Auftritte/Szenen unterteilt sind. Klassische (Aristotelische) Dramen bestehen nach spätantikem Muster aus drei Akten (Komödien) oder fünf Akten (Tragödien). Von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren klassische Dramen nach festen Regeln aufgebaut.

Für Komödien in drei Akten galt im Regelfall: Von der Exposition (Einleitung, Ausgangspunkt) im 1. Akt, über die Peripetie? (Wende- oder Höhepunkt) im 2. Akt bis zum Ende (Auflösung) im 3. Akt wird die Handlung nach einem festen Schema aus den Dialogen heraus entwickelt.

Für Tragödien in fünf Akten? folgt der Exposition (1. Akt) ein erregender Moment (Konfliktauslösung) im 2. Akt, ehe im 3. Akt die Peripetie vorgesehen ist. In Tragödien wird der Hauptfigur damit normalerweise die Möglichkeit des freien Handelns entzogen. Im 4. Akt sorgen retardierende Momente für Verzögerungen und scheinbare Änderungen zum Positiven, ehe der Handlungsverlauf im 5. Akt in einer Katastrophe (Auflösung des Konfliktes) mündet. Mit der Katastrophe am Schluss bezweckte Aristoteles eine Katharsis, also eine seelische „Reinigung“ der Zuschauer durch Furcht oder Mitleid.

Nach Aristoteles ist das Wichtigste bei der Tragödie der Aufbau der Handlung. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und Lebensweisen, von Glück und Unglück. Als Held tritt ein edler Mensch mit einem starken Bewusstsein in Erscheinung, der Fehler begeht und sich schuldig macht. Wichtig ist die Identifikation der Zuschauer mit dem Helden, damit aufgrund einer tiefen Ergriffenheit eine Katharsis erfolgen kann. Die Komödie hingegen gilt Aristoteles als die Theaterform der „geringeren Menschen“. Weniger formstreng wurden darin Gesellschaftskritik und derbe Komik in einem oft lockeren Handlungsgefüge verbreitet.

ENTSTEHUNG

Das Drama entwickelte sich im antiken Griechenland als Teil des Dionysoskultess, dessen Stoffe überwiegend mythologischen Überlieferungen entnommen waren. Dionysos war der Sohn des Zeus und der Gott des Weines. Ihm zu Ehren wurden ab dem 5. Jahrhundert vor Christus trinkfreudige Feste gegeben. Durch die Aufnahme mimetischer Elemente (darstellende Nachahmung mit körperlichen Mitteln) in die liturgische Feier entsteht das Drama im Rahmen der kultischen Feiern.

Die Komödie hat ihren Ursprung in der Verbindung aus dionysischen Maskenzügen mit improvisierten Stegreifspielen. Bedeutende Verfasser von Komödien in der griechischen Antike waren Aristophanes und Menander.

Zur Entstehung der Tragödie trug bei, dass die Chorlieder im Laufe der Zeit mehr und mehr mit dialogischen Elementen angereichert wurden, bis der Dichter Arion dem Chor der Feier einen Sprecher (Hypokités) voranstellte. Mit diesem Schritt begann die Entwicklung des Kultliedes zur Tragödie. Schließlich wurde im Zuge des Festes für Dionysos ein dramatischer Wettbewerb mit jeweils drei Tragödiendichtern ins Leben gerufen.

In der Folgezeit löste sich die Tragödie aus dem Rahmen des Kultischen heraus. Zwischen 500 und 400 vor Christus wurden geschätzte 1500 Dramen uraufgeführt, davon ein Fünftel von Aischylos, Sophokles und Euripides. In den vielen dieser Werke dreht es sich um die überragende Macht der Götter, die das Schicksal der Menschen bestimmen.

ENTWICKLUNG DES THEATERS BIS HEUTE

Das theoretische Grundgerüst für den Aufbau klassischer Dramen lieferte der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) in seiner Poetik „Über die Dichtkunst“, in der er u.a. die Einheit von Zeit, Ort und die Handlung eines Dramas forderte. Es gibt also keine Zeitsprünge, Ortswechsel oder Nebenhandlungen. Diese Form nennt man auch geschlossenes Drama (z.B. Sophokles‘ „Antigone“, 442 v. Chr.)

DAS BÜRGERLICHE TRAUERSPIEL

Tragödien spielten bis ins 18. Jh. in der Welt des Adels und waren hauptsächlich für die Hofgesellschaft bestimmt, nicht für einen bürgerlichen Rahmen. Es gab nur ein adliges Trauerspiel und ein bürgerliches Lustspiel. Als Abklatsch der Tragödien für das „gemeine Volk“ gab es die Haupt- und Staatsaktionen. Bürger waren von vornherein lustige Personen, was für viele ein Ärgernis war. Bürgerliche Theaterstücke waren meist grobe Komödien, so wie die Spektakel auf den Pariser Jahrmarktstheatern oder die Hanswurstiaden von Josef Anton Stranitzky. Es galt die Ansicht, der Bürger könne nur in der Komödie als Hauptfigur auftreten, da ihm die Fähigkeit zum tragischen Erleben fehle (Ständeklausel).

Das bürgerliche Trauerspiel (z.B. G.E. Lessing „Emilia Galotti“ 1772) (verlinken) entstand somit im Zuge der Emanzipationsbewegung des Bürgertums, das sich damit eine Präsentations- und Identifikationsplattform schuf. Seine Tragik entfaltet sich nicht mehr in der Welt eines für die Menschheit exemplarischen adligen Helden, sondern in der Mitte der Gesellschaft.

Im Gegensatz zum klassischen Drama orientieren sich moderne und zeitgenössische Theaterstücke meist nicht mehr an Aristoteles‘ Vorgaben – weder was den Aufbau, noch was die Einheit von Ort, Raum und Zeit betrifft. So sind moderne Stücke des epischen Theaters häufig nach losen Szenenfolgen arrangiert und enden mit einem ungelösten Konflikt. Auch Einakter haben sich als eigenständige Form etabliert.

Einen Gegenpol zur geschlossenen Form bildet das offene Drama. Es zeichnet sich durch die komplexe Verhältnisse von Ort, Zeit und (oft mehrsträngiger) Handlung aus. An die Stelle einer chronologischen Handlungsführung treten lose verbundene Episoden. Stattdessen sorgen wiederkehrende Leitmotive oder Sprachbilder für Verknüpfungen. Darüber hinaus wird häufig eine alltägliche Sprache verwendet. Auch die Darstellung gestörter Kommunikationsvorgänge bis hin zur Sprachlosigkeit wird oft thematisiert (Beispiel für ein Offenes Drama: Georg Büchner „Woyzeck“, 1837) (verlinken). Ebenso wie die anderen beiden literarischen Grundgattungen hat sich die Form des Dramas im Zuge historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen verändert. Es herrscht eine Vielfalt an Formen, die mit den Kategorien „offen“ und „geschlossen“ nur unzureichend beschrieben sind. Dramen lassen sich ebenso in den Kontext bestimmter Epochen, nach ihrem Ideengehalt oder nach der Stoffwahl einordnen. Ende des 19. Jh. entstanden gesellschaftskritische Dramen wie das Sozial-Drama von Gerhard Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (1889) verlinken oder die Kindertragödie von Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891) verlinken.

Verschiedene Formen des Dramas weisen typische Merkmale auf, mit denen sie sich genauer beschreiben lassen. Die Tragödie (Trauerspiel) etwa führt dem Publikum das Scheitern des Helden vor Augen. In der Komödie (Lustspiel) hingegen wird ein innerer Konflikt (Charakterkomödie) oder eine äußere Verwicklung (Situationskomödie) humorvoll oder ironisch-satirisch gelöst. Ähnliche Formen sind Posse, Farce und Schwank. Die Tragikomödie wiederum kombiniert tragische mit komischen Elementen. ( z.B. Friedrich Dürrenmatt „Der Besuch der alten Dame, 1955) (verlinken) Spezifische Formen der Moderne sind das Epische Theater nach Brecht (z.B. Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan, 1943) (verlinken), das Dokumentarische Theater, das Absurde Theater und die Postdramatik.

SECHS DRAMEN ZUR ANALYSE

1. Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan

2. Georg Büchner: Woyzeck

3. Friedrich Dürrenmatt: Besuch der alten Dame

4. Friedlich Dürrenmatt: Die Physiker

5. Gerhardt Hauptmann: Vor Sonnenaufgang

6. G.E. Lessing: Emilia Galotti

7. Moritz Rinke: Cafe Umberto

8. Frank Wedekind: Frühlings Erwachen

1. BERTHOLD BRECHT: DER GUTE MANN VON SEZUAN (1943)

1. Aufgabe: Analyse des 8. Bildes (AHR)

1. Einleitung

B. Brechts Parabeldrama „Der gute Mensch von Sezuan“ (1943 uraufgeführt) spielt in der chinesischen Provinz Sezuan und handelt vom vergeblichen Versuch dreier auf Erden weilender Götter, in einer frühkapitalistischen, egoistischen Gesellschaft Menschen zu finden, die gut sind und dennoch leben können.

Scheinbar finden sie diesen guten Menschen in der Prostituierten Shen Te (laut Wasserverkäufer Wang „Der Engel der Vorstädte“, S.54), die versucht allen zu helfen, wobei sie aber ihr Geschäft (einen kleinen Tabakladen – ein Geschenk der Götter, S.18,48) völlig ruiniert. Daher erfindet sie auf Anraten derer, die die verköstigt, ihren Vetter Shui Ta und schlüpft in dessen Rolle, um ihrer selbst verschuldeten Schwierigkeiten Herr zu werden.

Shui Ta gelingt es zwar, kurzzeitig in den Augen der besitzenden Klasse, mithilfe eines Blankschecks des Barbiers Shu Fu zum angesehenen, aber ausbeuterischen „Tabakkönig von Sezuan“ (S.127) aufzusteigen. Ihre Schwangerschaft (von Sun) und die Tatsache, dass, wo sie ist, er nicht sein kann (S.87), führt zu immer mehr Problemen, bis zur Verdächtigung, Shui Ta halte Shen Te gefangen, und damit zum in einer Klassengesellschaft unvermeidlichen Scheitern.

In der Gerichtsverhandlung am Schluss gesteht Shen Te den Göttern, sie sei „der böse Mensch“ (S.140). Diese wollen aber Shen Tes Scheitern nicht wahrhaben, entschweben in den Himmel und preisen sie als „gute(r) Mensch von Sezuan“ (S.143).

2.1. BESCHREIBUNG DER AUSGANGSSITUATION UND INHALTLICHE ANALYSE DES 8. BILDES

In den Baracken Shu Fus („feuchte Rattenlöcher mit verfaulten Böden“, S.104), die dieser nur bereit gestellt hat, da ihm darin seine Seifenvorräte verschimmeln, hat Shui Ta eine kleine Tabakfabrik eingerichtet. Einige Familien hocken dort „hinter Gittern … entsetzlich zusammengepfercht“ (S.111).

Zu Beginn erfährt das Publikum aus der beschränkten Sicht von Frau Yang, deren Name bezeichnenderweise im Chinesischen das männliche Prinzip verkörpert (im Gegensatz zum weiblichen Yin), ihr Sohn Sun sei durch Herrn Shi Ta „aus einem verkommenen Menschen in einen nützlichen verwandelt“ (S.111) worden und erzählt seinen Aufstieg vom Taugenichts zum Fabrikaufseher.

Wie im Film werden einzelne Szenen aus Suns Alltag in der Fabrik in die Erzählung eingeblendet. Damit ermöglicht es Brecht dem Zuschauer, Frau Yangs Beurteilung der Ereignisse mit dem ausschnitthaft dargestellten Geschehen zu vergleichen u. sich von deren Standpunkt zu distanzieren.

Eine 1. szenische Rückblende zeigt, wie Sun von Shui Ta wegen Bruch des Heiratsversprechens und Erschleichung von 200 Silberdollar angeklagt wird. Im Gegensatz zu Shen Te hat Shui Ta die Gerichte auf seiner Seite. So bleibt laut Frau Yang ihren Sohn nur die Wahl zwischen „Kittchen oder Fabrik“ (S.112). Seine rasche Entscheidung für die Fabrik ist aber nur eine Scheinalternative, da er auch dort „hinter Gittern“(S.111) ist.

2 Vorfälle begünstigen Suns Aufstieg zum Aufseher. Einmal nimmt er vor den Augen Shui Tas dem früheren Schreiner Lin To, der nun auch gezwungen ist, in der Fabrik zu arbeiten, einen Ballen Tabak ab. Lin To verkennt Suns wahre Absichten – sich auf Kosten anderer bei Shui Ta beliebt zu machen – und meint, sein Verhalten werde Shen Te gefallen (S.113). In Wahrheit lobt Shiu Ta Sun und bestraft Lin To, der nun 3 statt 2 Ballen Tabak tragen muss, obwohl es ihm nicht an gutem Willen, sondern an Körperkraft fehlt (S.113).

Nur scheinbar handelt Sun hilfsbereit. Er benutzt vielmehr ,gutes’ Handeln als Mittel für seinen Aufstieg in der Fabrik. Denn Shui Ta kann Suns Verhalten, das er als „guten Willen“ (S.113) moralisch aufwertet, als Vorwand nutzen, seinen Arbeitern in Zukunft noch mehr Arbeit abzupressen. So muss der Schreiner, dem es nicht an gutem Willen, sondern an Körperkräften fehlt, jetzt 3 anstelle von 2 Ballen schleppen.

Als Maßstab guten Verhaltens, das belohnt wird, gilt also, was Shui Ta Nutzen bringt. Die 2. Gelegenheit, seine Eignung für eine gehobene Position zu beweisen, bietet sich Sun bei der Lohnauszahlung. „Heuchlerisch“ (S.114) macht Sun den Aufseher darauf aufmerksam, dass er ihm mehr Lohn auszahlen wolle, als ihm zustehe.   

In diesem Falle macht sich Suns ‘Tugend’ der Ehrlichkeit, die er vor den Augen Shui Tas in Szene setzt, bezahlt. Als er dem Tabakfabrikanten außerdem verrät, dass der bisherige Aufseher Kontakte mit den Arbeitern unterhält, erhält den Posten eines Aufsehers. Bei dieser Arbeit, die Frau Yang als „Erfüllung seiner Pflicht“ (S.115) bewertet und damit Shui Tas Interessen zum Maßstab ihrer eigenen Moralvorstellungen erhebt, wird Sun dem Publikum ein 4. Mal vorgeführt.

Die Arbeiter singen das „Lied vom 8. Elefanten“ (S.116f.), der von seinem Herrn dazu benutzt wird, die Arbeitselefanten anzutreiben. Die Privilegien, die der Antreiber genießt, dienen nur den Interessen des Herrn, die er vertritt. So wird er zum Verräter an den anderen. Die Arbeiter kritisieren Suns Verhalten in dem Lied, er aber singt schließlich sogar mit u. beschleunigt durch rhythmisches „Händeklatschen“ (S.117) das Arbeitstempo.  

Frau Yangs Bewertung („ehrlicher Arbeit“, S.117) ist leicht als fragwürdig zu erkennen wie auch ihre Behauptung, „mit Strenge und Weisheit hat er alles Gute herausgeholt, was in Sun steckte“ (S.117).    

2.2. EINORDNUNG DES 8. BILDES IN DEN GESAMTZUSAMMENHANG

Das 8. Bild gibt eine klare Antwort auf die Frage, was die Ursache der schlechten Verhältnisse in Sezuan ist und warum die Armen keine Chance sehen können, aus ihrer Armut herauszukommen. Shui Ta hat den Blankoscheck Shu Fus benutzt, um Kapital zu bekommen, und sich den im Tabakladen Shen Tes untergestellten Rohtabak der 8-köpfigen Familie angeeignet. Der Besitz von Rohstoff und Kapital ermöglicht es ihm, aus der Armut der Menschen in Sezuan Profit zu ziehen, da diese sich gezwungen sehen, ihre Arbeitskraft billig zur Verfügung zu stellen. Weil sie jede Möglichkeit nutzen müssen, etwas zu verdienen, kann Shui Ta die Bedingungen diktieren. Außerdem genießt er die Unterstützung der Gerichte.  

Aufsteigen wie Sun kann nur derjenige, der die Interessen Shui Tas unterstützt. In einem Zusammenhang, in dem die Berufung auf die Moral nur dann einen Sinn hat, wenn es den Interessen Shui Tas nutzt, kann die Berufung auf überzeitlich gültige Gebote letztlich auch nur der Stärkung seiner Macht dienen, indem sie seine egoistischen Interessen auch noch verabsolutiert und verewigt. In dieser Szene wird also deutlich, dass das ‘böse’ Verhalten Shui Tas kein individuelles ist, sondern vielmehr auf der Basis wirtschaftlicher Bedingungen, in diesem Falle der Tabakfabrik, ein System begründet, in dem Menschlichkeit als Mittel zum Zweck pervertiert wird.

Der ökonomische Aufstieg im 8. Bild sowohl von Shui Ta als Besitzer einer Tabakfabrik als auch der von Sun, der als Aufseher in dieser Tabakfabrik sich dem System völlig anpasst, ist aber nur kurzfristig. Shen Te kann kaum noch erscheinen, da Shui Tas Anwesenheit dauerhaft erforderlich ist. Shen Tes Schwangerschaft und die Widersprüche ihrer Situation und der gesellschaftlichen Verhältnisse führen letztlich zum Scheitern, wobei Sun auch scheitern muss, da er völlig von Shui Ta abhängig ist.

2.3. UNTERSUCHUNG DER FIGURENKONSTELLATION UND BEZIEHUNGSSTRUKTUR

1. Frau Yang lobt ihren Sohn Sun jetzt als nützlichen, guten Arbeiter, der seine Pflicht erfüllt. Allerdings sei er bisher ein „Taugenichts“ und „Lump“ (S.111f.) gewesen. Ihre Unehrlichkeit u. übertriebene Wortwahl – auch in Bezug auf Shui Ta, den sie „unendlich gütig“(S.112) nennt, ist daran zu erkennen, dass sie im 4. Bild Sun als hoffnungsvollen Flieger anpreist u. im 6. Bild von ihm „entzückt“ (S.84) ist.

2. Shui Ta hat – anders als Shen Te – zu Sun eine sehr distanzierte, rein geschäftliche Beziehung. Auf Drängen seiner Mutter lässt er nur scheinbar „Gnade vor Recht ergehen“(S.111). In Wahrheit erlässt er ihm nicht die 200 Silberdollar, sondern will sie ihm nach und nach vom Lohn abziehen.

Auch Suns Einstellung als Aufseher u. ‘Sklaventreiber’ ist Ausnutzung dessen Zwangslage und dient ausschließlich Shui Tas ökonomischen Interessen.

2.4. WIEDERGABE, VERLAUF (+ANALYSE) U. SPRACHLICHE GESTALTUNG DES SONGS („LIED VOM 8. ELEFANTEN“)

Das Lied besteht aus 4 Strophen. Die 1. Strophe handelt von Herrn Dschin (= böser Geist und Shui Ta), der 7 anfangs wilde Elefanten (Arbeitstiere, Arbeiter) und einen 8., zahmen (= Sun) hat, der die andern bewacht und zu schnellerem Arbeitstempo antreibt. Der 8. Elefant wird in der 2. Strophe als „faul“ (3. Vers) bezeichnet, der trotzdem größeren ‘Fleiß’ von den anderen verlangt. Herr Dschin ist in der 3. Strophe „nervös“ u. „bös“ (3.Vers) auf die 7, weil die Elefanten nicht mehr wollen und können, und ‘belohnt’ den 8. mit einem „Schaff Reis“. Die Frage „Was soll das?“ (5. Vers) ist doppeldeutig und richtet sich auch an den Zuschauer, der das ungerechte Verhalten des Herrn Dschin in Frage stellen soll. In der 4., längsten und damit wichtigsten Strophe sind die 7 Elefanten zahnlos (1.Vers), d.h. sie sind zu keinem Widerstand mehr fähig. Nur der 8. hat noch die Kraft, die 7. „zuschanden“ zu schlagen (4.Vers) und immer mehr auszubeuten. Herr Dschin steht im Hintergrund und lacht darüber, was seine Verachtung für seine ‘Arbeitssklaven’ ausdrückt.

Dieser Song übt Kritik am Aufseher Sun, der seine Privilegien bewahrt, keine Solidarität mit seiner Klasse ausübt. Sun singt ein Ende des Liedes mit, beschleunigt durch Händeklatschen das Tempo, und zeigt keine Einsicht in seine Rolle als ausgebeuteter Ausbeuter. Auch das System des Shui Ta wird kritisiert. Der Refrain widmet sich dem Besitzer der Produktionsmittel. Eine aufkeimende Revolte (3./4. Strophe) wird dadurch niedergeschlagen, dass der Aufseher mehr Essen erhält. Am Ende lacht der Gewinner, Herr Dschin, denn seine Arbeiter arbeiten noch schneller.     

Der 4-strophige rhythmisch eingängige Song mit jeweils fast gleichem Refrain ist gereimt (Kreuzreim, meist 2, 4. sowie 4. und 6. Vers; aber in der 4. Strophe: 2., 5. sowie 7. und 9. Vers) Er ist ein zentrales episches Mittel, das die Herrschaftsverhältnisse widerspiegelt. In seiner scheinbaren Unterhaltsamkeit  und dem Anklang an ein Kinderlied wird ein Verfremdungseffekt (V-Effekt) erzielt. Arbeiter werden wie Unmündige (Kinder) und Arbeitstiere (Elefanten) behandelt. 1 Alliteration (1. Strophe, 3. Vers) und Reime innerhalb eines Verses (meist 3. Vers) erzeugen einen Wohlklang, der die schrecklichen Arbeitsverhältnisse verschleiern soll.

3. BESCHREIBUNG + FUNKTION DER SPRACHLICHEN GESTALTUNGSMITTEL

Die meist schlichte Dialogsprache (wenig ausschmückende Adjektive oder Metaphern) spiegelt die soziale Schicht der Figuren wider. Shui Ta spricht sehr direkt, geschäftsmäßig (Gratifikation“) und schnörkellos, sagt aber auch oft nicht die Wahrheit. Er, Frau Yang und Sun benutzen Umgangssprache („schmeißt … hin“, „zum Teufel“) u. Abwertungen („verkommenen Sohn“, „Lump“, „ihr faulen Hunde“, „ausgefaulenzt“). Frau Yang verwendet eine scheinbare religiöse Hochsprache zur Verschleierung des wahren Sachverhalts („Anfeindung … Schmähung“), Anklänge an die Bibel („vom rechten Weg abgewichen“) und wie auch Shui Ta („Ein Dienst ist des anderen wert“) hohle Phrasen und Redensarten („Erfüllung seiner Pflicht“, „Das Edle ist wie eine Glocke, schlägt man sie, so tönt sie…“), die ihre Oberflächlichkeit und Brutalität zeigen.

4. BESCHREIBUNG + FUNKTION DER SPRACHLICHEN GESTALTUNGSMITTEL

Im 8. Bild verwendet Brecht viele Elemente des epischen (erzählenden) Theaters. Er arbeitet mit 4 Rückblenden (Zeitsprünge!), die Frau Yang dem Publikum erzählt (Verfremdungseffekt = V-Effekt), so dass die Handlung mehrfach unterbrochen wird. Subjektive und objektive Sicht stehen in starkem Kontrast: Frau Yang preist die Strenge von Shui Ta, der aus ihrem Sohn einen nützlichen Menschen gemacht habe. Die Rückblenden zeigen die Ausbeutungsmechanismen des Fabrikbesitzers und die Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch die Mutter verschleiert diese mit bürgerlichem Stolz und Ideologie („Ehrliche Arbeit“, „Bildung u. Intelligenz“, „Erfüllung der Pflicht“). Die an Filmtechnik orientierten vier Rückblenden erlauben Zeitsprünge, die im Sinne des epischen Theaters sind

Es gibt mehrere Schauplätze: Als Ort der Hauptbühne dient die einem Gefängnis gleichende Fabrik: „Hinter Gittern hocken, entsetzlich zusammengepfercht, einige Familien“ (S. 104). Anklänge an Arbeitslager und KZ sind hier möglich. Die Bühnenrampe ist der Platz der Frau Yang, die hier die Entwicklung ihres Sohnes rühmt. Durch die Bühnenanordnung werden die Lobpreisungen der Frau Yang als hohle Ideologie entlarvt, denn im Hintergrund sehen die Zuschauer stets das „Gefängnis“ als Endpunkt kapitalistischen Aufstiegs. Auch das Lied vom 8. Elefanten (typischer Brecht-Song) dient der Unterbrechung der Handlung, der Reflexion des Geschehens (V-Effekt).

5. HERAUSAREITUNG DER TEXTINTENTIONEN

Brecht möchte hier den Zusammenhang von ökonomischen Grundbedingungen und herrschenden Wertvorstellungen verdeutlichen. Zentrales Thema dieses Bilde ist der ökonomische Aufstieg sowohl von Shui Ta als Besitzer einer Tabakfabrik als auch der von Sun, der als Aufseher in dieser Tabakfabrik sich dem System völlig anpasst. Gemäß marxistischer Analyse zeigt er hier die die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse verschleiernde Ideologien auf. Dies wird im Lobpreis der Mutter von Sun deutlich, bei Sun selbst, der als Aufseher die gegensätzliche Klassenstruktur aufrechterhält und zugleich deren Opfer ist, und bei Shui Ta, der die Gefühle der Shen Te verleugnen muss und nun als Kapitalist mit Zigarre auftritt. In mehreren Stationen zeigen sich Suns Veränderungen:

1. Shui Ta zeigt sich ausbeuterisch: er nutzt den arbeitslosen und verschuldeten Sun aus, der nur die Alternative hat: „Kittchen oder Fabrik?“ Aus dem Flieger Sun wird nun ein Arbeitssklave. Aufgrund des Bühnenbildes sind Gefängnis und Fabrik identisch.

2. Sun tut so, als wollte er einem älteren Arbeiter helfen. Als Sun seinen Chef Shui Ta erblickt, nimmt er einem älteren Arbeiter einen Ballen ab. Sun gibt vor, dem Arbeiter zu helfen.

3. Shui Ta sieht, was Sun leistet, und zwingt den Älteren, nun genau so viel zu arbeiten.

4. Bei einer Lohnauszahlung schmeichelt sich Sun in das System ein, indem er den bisherigen Aufseher einer falschen Lohnabrechnung bezichtigt, er habe ihm einen Tag zu viel ausgezahlt. Shui Ta ist von Sums Qualitäten überzeugt, fragt ihn über den Aufseher aus, bietet ihm eine Prämie an, die Sun ablehnt. Stattdessen weist er auf seine Intelligenz hin und erbittet eine Woche Probezeit als Aufseher.

5. Sun treibt die Arbeiter an, auch Kinder, beschleunigt das Arbeitstempo, erzwingt Fließbandarbeit. Je mehr er aufsteigt, umso mehr entsolidarisiert er sich von seiner Klasse. Je mehr Moral er verliert, umso mehr bewundert ihn die Mutter. In tragischer Verkennung des von sich selbst entfremdeten Sohnes nennt sie ihn weiter „Flieger“ und fordert ihn auf, weiter aufzusteigen: „Flieg, mein Falke ( = Raubvogel!)!“ (S. 115). Sie rühmt Shui Tas erzieherische Fähigkeiten, er habe Sun „zu ehrlicher Arbeit gezwungen“. In der Tat ist heute Sun „ein ganz anderer Mensch als vor 3 Monaten“, wie die Mutter schwärmend feststellt, aber der Zuschauer weiß – nicht zuletzt wegen des Bühnenbildes – um die Doppelbödigkeit dieser Aussage.

6. EIGENE BEWERTUNG DES 8. BILDES UND DES DRAMAS

Brecht hat sicher Recht damit, wenn er die katastrophalen Ausbeutungsverhältnisse im damaligen – und z.T. noch im heutigen – China zeigt, die es auch noch im 21. Jh. in vielen Teilen der 3. Welt gibt. Er analysiert auch sehr genau die ausweglose Lage der Arbeiter und verdeutlicht am Beispiel Suns, wie Arbeiter zu Handlanger der Ausbeuter gemacht werden und nicht begreifen, dass sie ebenfalls nur ausgenutzt und eine Zeitlang benutzt werden, letztlich aber keine Chance auf sozialen Aufstieg haben. Er zeigt auch sehr die Entmenschlichung und die Entfremdung durch Arbeit.

Die zentrale These seines Parabelstücks (die ‘Lehre’), dass das gesellschaftliche (besonders das ökonomische) Sein das Bewusstsein bestimme und der Mensch nur gut sein könne, wenn überall gleiche Arbeitsverhältnisse herrschten und es keine besitzende und herrschende Klasse mehr gebe, verkennt völlig die Natur des Menschen. Der real existierende Kommunismus hat die Menschen nur noch mehr unterdrückt und ausgebeutet.

Nur eine Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft ist halbwegs in der Lage, einigermaßen zufriedenstellende Lebensverhältnisse zu garantieren. Im Übrigen sind in den Ländern der 1. Welt über 2/3 bereits im Dienstleistungsbereich tätig. Viele der im Buch geschilderten Arbeiten werden heute von Maschinen erledigt. Aufgabe von Gewerkschaften ist es, für Mindestlöhne und menschenwürdige Arbeitsbedingen zu kämpfen und notfalls zu streiken.

Unsere Aufgabe in den Ländern der 1. Welt ist es, durch Reduzierung unseres viel zu hohen Lebensstandards und durch aktiven Einsatz für Demokratie und Menschenrechte solche ausbeuterischen Verhältnisse in der 3. Welt zu verringern oder überflüssig zu machen.

2. GEORG BÜCHNER: WOYZECK (1837)

1. Aufgabe: Analyse der Szene 4,6,7 (FHR)

1. Überblicksinformation

G. Büchners Drama „Woyzeck“ (1837) orientiert sich an dem Fall des historischen J. Chr. Woyzeck, der wegen Mordes an seiner Geliebten aus Eifersucht 1821 enthauptet wurde. Büchners Drama spielt an 3 Tagen in der damaligen Zeit in einer Kleinstadt in Hessen und handelt von dem einfachen, völlig mittellosen Soldaten Franz Woyzeck und seiner ebenso armen Geliebten Marie Zickwolf mit ihrem unehelichen Sohn Christian.

Woyzeck wird vom Arzt für geringes Entgelt, auf das dieser aber angewiesen ist, für das Experiment einer 3-monatigen Erbsendiät missbraucht, die ihn körperlich entkräftet und zunehmend geistig verwirrt. Zudem wird er von allen Höhergestellten aufs schwerste erniedrigt, wie ein Tier behandelt und wegen seines unehelichen Verhältnisses zu Marie moralisch verurteilt.

Marie ist sehr hübsch und lebenslustig und möchte ein besseres Leben führen – wie die oberen Schichten. Woyzecks Verwirrtheit, Halluzinationen und Wahnvorstellung stoßen sie zunehmend ab. Auch wenn sie immer wieder Schuldgefühle beschleichen, gibt sie sich doch bewusst dem von ihr als sehr männlich empfundenen und draufgängerischen Tambourmajor hin. Als Woyzeck als betrogener Ehemann vom Hauptmann für seine Ahnungslosigkeit verspottet wird und der Tambourmajor, der wild mit Marie im Wirtshaus getanzt hat, ihn niederschlägt, verfällt dieser infolge der dauernden Demütigungen immer mehr in Wahnvorstellungen, bis seine innere Stimme ihm befiehlt, Marie zu töten.

2.1. ERKLÄRUNG DER VORGESCHICHTE DER SZENEN 4FF

Woyzeck halluziniert im Beisein seines Kameraden Andres im Verfolgungswahn über eine Hinrichtungsstätte der Freimaurer (Vorausdeutung auf sein Ende) und das Weltende (Johannes-Apokalypse im NT). Marie bewundert am Fenster ihres Zimmers den vorbeiziehenden Tambourmajor, weshalb ihre Nachbarin Margreth ihr Unanständigkeit vorwirft, was Marie scheinbar kaltlässt. Franz verstört Marie mit seinen Halluzinationen. Der Tambourmajor sieht Marie auf dem Rummelplatz und macht gegenüber dem Unteroffizier sexuelle Anspielungen auf sie.

2.2.1. ANALYSE DER SZENE 4

Marie hat in ihrem Zimmer ihr Kind auf dem Schoß und betrachtet in einem Stückchen Spiegel (Armut!) voller Stolz die goldenen Ohrringe des Tambourmajors.

Sie befiehlt ihrem Kind zu schlafen und singt ein Lied von einem Mädel, das mit einem Zigeunerbub ins Zigeunerland geht, als Traum vom ungebundenen Leben.  

Sie meint, dass ihr Äußeres dem der vornehmen Damen gleiche, weiß aber, dass sie nur „ein arm Weibsbild“ (14:21) ist. Wieder droht sie scherzhaft ihrem Kind. Als Woyzeck eintritt, greift sie schnell nach den Ohrringen. Sie behauptet, dass „nix“ sei und sie ein „Ohrringlein“ gefunden habe (14:29ff.).

Da Franz bezweifelt, dass man gleich 2 davon finden könne, fragt sie rhetorisch, ob er sie als Hure („Mensch“, 15:1) ansehe, um seinen Verdacht zu zerstreuen.

Er wiegelt ab, kümmert sich liebevoll um sein Kind und beklagt das Schicksal der armen Leute, die noch im Schlaf Schweiß auf der Stirn hätten. Er gibt ihr seinen Wochenlohn und einen Teil seines Nebenverdienstes und verspricht, am Abend zu kommen. Dies beschämt Marie. Sie bedankt sich bei ihm, hat Schuldgefühle und Selbstmordgedanken (Erstechen = Hinweis auf Ende), die sie jedoch durch trotzigen Fatalismus („Geht doch alles zum Teufel“, 15:12) überspielt.

(In der 5. Szene muss Woyzeck die Demütigungen und moralischen Vorwürfe des Hauptmannes ertragen. der sich von ihm rasieren lässt. Woyzeck traut sich nach einigem Zögern, dem Hauptmann zu recht mit Hinweis auf Jesus und seine soziale Stellung zu widersprechen, die ein moralisches Verhalten nicht zulasse, was zeigt, dass Woyzeck durchaus klar denken kann.)

2.2.2. ANALYSE DER SZENE 6

Marie und der Tambourmajor begegnen sich (zufällig?) in einer Gasse. Sie betrachtet voller Wohlgefallen sein stattliches Äußeres und seine männlich-erotische Ausstrahlung („Stier“, „Löw“, 17:26f.) und nennt sich die stolzeste aller Frauen. (Die Initiative geht eindeutig von ihr aus. Bewusst vernachlässigt sie das Risiko, mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, was sehr verhängnisvoll ist, da sowohl Franz (7. Szene) als auch der Hauptmann (9. Szene) diese Begegnung wohl beobachtet haben.). Der Tambourmajor verstärkt dies, indem er erwähnt, dass ihn sogar der Prinz lobe. Dieses eitle Selbstlob wertet Marie spöttisch mit „Ach was“ (17:33) ab, um ihn nicht überheblich werden zu lassen. Seine allzu direkte Aufforderung, zur „Zucht von Tambourmajors“ (18:2) wehrt sie zunächst verstimmt ab. Als er sie jedoch als „Wild Tier“ (18:5) bezeichnet und an ihre ungezügelte Sexualität appelliert, reagiert sie sofort mit der eindeutigen Aufforderung „Rühr mich an!“ (18:6), was ihn zu der bewundernden Ansicht verleitet, dass sie den „Teufel“ (18:7) im Leib habe. Sie widerspricht nicht, da sowieso „alles eins“ (18.8) sei. Dadurch wird angedeutet, dass sie sich dem Tambourmajor bedingungslos hingeben und damit Franz betrügen wird.

2.2.3. ANALYSE DER SZENE 7

Woyzeck trifft Marie kurz nach dessen Weggang in derselben Gasse. Er sieht sie starr an, hat sie wohl beobachtet und bemerkt ihre erotische Ausstrahlung sowie ihre roten Lippen. Er behauptet wiederholt und mit Nachdruck ironisch, nichts zu sehen, aber alles zu begreifen, am besten mit Fäusten – Zeichen seiner inneren Gewaltbereitschaft. Marie ist schuldbewusst und durch Woyzecks Auftreten eingeschüchtert, fragt ihn scheinheilig, was er habe, und nennt ihn diesmal zu Unrecht wahnsinnig („hirnwütig“, 18:15), um von ihrem Fehltritt abzulenken.

Franz spricht unverblümt von ihrer „Sünde, so dick und breit“ (18:17), die zum Himmel stinke und sogar die Engelchen von dort vertreiben könne. Er spielt auf ihren sinnlich-roten Mund an und fragt höhnisch, ob sie nicht Blasen (vom vielen Küssen) bekommen habe. Mit „Adieu Marie“, (18:20) deutet er an, dass er sich (für immer?) von ihr verabschieden möchte (Hinweis auf schreckliches Ende auch durch Wörter wie „Himmel“ = Jenseits, „Todsünde“, „Teufel“, 18:18ff.).

Er bezeichnet Marie als „schön wie die Sünde“ (18:20) – eine Anspielung auf die schöne Sünderin im NT, die Jesus die Füße salbt und die Marie beim Blättern im NT zu heftigen Schuldgefühlen veranlasst (17. Szene).

Wieder versucht Marie, Woyzecks Anschuldigungen als Fieberanfälle hinzustellen und damit zurückzuweisen. Franz reagiert darauf nicht, sondern fragt sie, wo ihr Liebhaber (Teufel?) gestanden habe. Marie versucht erneut abzuwiegeln, indem sie behauptet, dass viele Menschen zufällig nacheinander an einem Platz stehen könnten.

Auch Woyzecks Behauptung, dass er ihn gesehen habe, versucht Marie durch ihren Hinweis zu entkräften, dass man viel sehen könne, ohne dass es eine besondere Bedeutung habe. Woyzecks unklare Drohung am Schluss kontert sie keck mit „Und wenn auch“ (18:31), womit sie deutlich machen möchte, dass sie sich in diesem Moment keine Vorwürfe von ihm machen lassen möchte. Später jedoch überfallen sie dafür umso heftigere Schuldgefühle, und sie wünscht sich wie die schöne Sünderin im NT, Jesus reuevoll die Füße zu salben.

2.3. ANALYSE VON SPRACHE, RHETORISCHEN FIUGREN + WIRKUNG IN SZENE 4,6,7

Marie singt gern, um ihre Wünsche auszudrücken (14:12ff.), redet nur scheinbar mit ihrem Kind, das ihre Worte gar nicht verstehen kann, und führt in Wahrheit eine Art Selbstgespräch. Sie verwendet grammatikalisch nicht korrekte Umgangssprache („glänze“, Was sind’s für?“, 14:7f.) der Unterschicht mit hessischem Dialekt („Ladel“, 14:12; „Adies“, 15:9) und Anaphern (14:7ff.) als Ausdruck ihres Erstaunens. Die Personen reden oft in Ellipsen („Still Bub“, 14:22; „Nix“, 29; „wir arme Leut“, „Ach! Was Welt“, 15:5,11), wobei vieles unausgesprochen bleibt. Franz gebraucht ironisch-rhetorische Fragen „Keine Blase drauf?“, „Kann die Todsünde so schön sein?“, 18:19-21) und mit Emphase religiöse Bilder (Todsünde, Engelchen, Himmel, 18:18ff.), um seine moralischen Vorwürfe zu verstärken. Vergleiche (14:18, 17:26, 18:20), Metaphern/Personifikationen („Weibsbild“, „Schlafengelchen“, 14:21f., „Wild Tier“, „Teufel in den Augen“, 18:5-7) und Kraftausdrücke („Geht doch alles zum Teufel“, 15:2; „Donnerwetter“, 17:30f.; „Sapperment“, 18:1f.), Befehle (Rühr mich an!“, 18:6), Verniedlichungen  

(Ohrringlein“, 14:31; „Engelchen“, 18:18) sollen deren Fantasie, Wünsche, Bewunderung, Abwertungen, Verharmlosungen und Emotionen ausdrücken. Die eher zufälligen Alliterationen (14.22, 24, 32; 15.11; 18:2, 13f., 19) stehen im Gegensatz zum unharmonischen Inhalt.

Die meist rhetorischen Fragen (14:8, 27; 15:1; 18:2, 19-21, 23) zeigen, dass hier vieles fragwürdig und offen bleibt. Die Personen gehen nicht ehrlich miteinander um und werten einander ab oder unkritisch auf. Dies wird auch bei den Übertreibungen („Bart wie ein Löw“, 17:26f.; „Teufel“, „Todsünde“, 18:7, 21) deutlich.

Marie spricht im Lied von sich in der 3. Person („Mädel“, 14:12 = selbstbewusste, ironische Distanz). Der Satzbau besteht meist aus HS und Ellipsen und enthält kaum NS. Fehlende Hochsprache und Fremdwörter zeigen, dass alle 3 der Unterschicht angehören.

2.2.4. FOLGEN UND BEDEUTUNG DER SZENEN 4-7 FÜR WEITEREN HANDLUNGSVERLAUF

Die Szenen 4,6,7 sind insofern bedeutsam für den weiteren Dramenverlauf, als hier die Hingabe Maries an den Tambourmajor, Woyzecks Entdeckung dieses Verhältnisses und seine Eifersucht deutlich werden sowie die gestörte Beziehung zwischen ihr und Franz. Marie möchte als Frau wirklich begehrt werden und ein anderes Leben haben, was ihr ansatzweise nur der Tambourmajor, aber nicht Franz bieten kann. Auch die schlimmen Demütigungen durch den Hauptmann als Ursache seiner späteren Tat werden in Szene 5 sichtbar. Woyzecks Andeutungen ihrer Todsünde und sein doppeldeutiges „Adieu“ in Szene 7 weisen auf das tragische Ende hin. Es fehlt nur noch als Auslöser der Tat die direkte Demütigung und Misshandlung durch den Tambourmajor in Szene 15.

3. CHARAKTERISTIK VON MARIE U. VERGLEICH MIT DARSTELLUNG AUF DER BÜHNE AM 29.11.13 IN KÖLN

Marie ist in Büchners Drama wie im Theaterstück am 29.11.13 eine hübsche junge Frau und gehört der verarmten untersten sozialen Schicht der damaligen Zeit an, deren Unabänderlichkeit sie aber nicht hinnehmen möchte. Sie trägt goldene Ohrringe, um die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen. Bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nimmt sie keine Rücksicht auf die Ansichten der damaligen Gesellschaft und akzeptiert, dass sie als Hure angesehen wird. Sie will sich ganz dem Augenblick hingeben und tritt dem Tambourmajor sinnlich-fordernd gegenüber, bewundert ihn und tanzt mit ihm in der Öffentlichkeit. Kehrseite ihrer Sinnlichkeit sind ihre religiös-moralischen Skrupel, die bei ihr zu wiederholten Schuldgefühlen führen. Sie möchte Woyzeck treu sein, kann aber ihrem Drang nach Erotik und erfülltem Dasein nicht widerstehen, was er ihr nicht bieten kann, so dass sie zwischen Todessehnsucht und Auflehnung schwankt. (15:10ff.).

Im Stück ist sie an einigen Stellen – abweichend vom Text – ihrem Mann gegenüber treuer und zeigt ihre Liebe zu Franz deutlicher (Umarmung!).

Auch scheint sie sich dem Tambourmajor noch gar nicht hingegeben zu haben und wirkt insgesamt viel frommer, unschuldiger und hat mehr moralische Skrupel. Sie gibt sich weniger rebellisch bzw. emanzipiert und erscheint dadurch mädchenhafter, menschlicher und gefühlsbetonter, so dass ihre Ermordung viel tragischer wirkt als im Dramentext.

2. AUFGABE: ANALYSE DER SZENE 2 (FHR)

2.1. ERKLÄRUNG DER VORGESCHICHTE DER SZENE 2

Sein Kamerad Andres u. Woyzeck schneiden Stöcke auf einem freien Feld vor der Stadt. Dieser halluziniert im Verfolgungswahn über eine Hinrichtungsstätte der Freimaurer (Vorausdeutung auf sein Ende) und das Weltende (aus der Johannes-Apokalypse im NT).

2.2. ANALYSE DER SZENE 2 

Marie hat ihr Kind auf dem Arm, steht mit ihrer Nachbarin Margreth am Fenster ihres Zimmers, und beide betrachten den vorbeiziehenden Tambourchor, der den Zapfenstreich spielt. Marie wippt das Kind auf dem Arm und ahmt für ihr Kind die Musik des Tambourchors nach („Sa ra rar ra“, S.10, Z.5f.).

Margreth nennt den Tambourmajor bewundernd einen Mann „wie ein Baum“ (S.10, Z.7). Marie verstärkt dies damit, dass er „wie ein Löw“ (Z.8) sei. Da der Tambourmajor wohl Marie grüßt, wird sie eifersüchtig und fragt spöttisch, warum sie – entgegen ihrer Gewohnheit – „ein freundliche(s) Auge“ (Z.10) auf ihn werfe. Marie geht nicht auf Margreths Anspielung ein und besingt allgemein die Soldaten, die „schöne Bursch“ (Z.13) seien.   

Margreth lässt nicht locker und wirft Marie vor, „ihre Auge glänze ja noch“ (Z.15) beim Anblick des Tambourmajors. Marie erwidert patzig „Und wenn!“ und behauptet, dass diese ihre Augen putzen lassen solle, damit sie glänzen, wobei sie Margreths Augen vielleicht als glanzlos (hässlich) bezeichnet oder ihr vorwirft, dass sie etwas sehe, was gar nicht existiere.

Margreth ist empört, verletzt und ringt nach Worten „Was Sie? Sie?“„ (Z.19). Sie nennt Marie abwertend „Frau Jungfer“ (= unverheiratete Frau) und bezeichnet sich – im Gegensatz zu Marie – als anständige Person (Z.20). Marie sei so schamlos und lüstern, dass sie durch 7 Paar lederne Hosen hindurchschaue. Marie lässt sich nicht unterkriegen und bezeichnet Margreth ebenfalls als „Luder“ (= unmoralisch, liederlich). Wütend schlägt sie das Fenster zu, spricht mit ihrem Sohn und sagt, ihr sei völlig egal, „was die Leute wollen“ (Z.23). Christian sei „doch nur en arm Hurenkind“ (Z.23f.) und mache ihr Freude trotz oder gerade wegen seiner unehelichen Abstammung. Damit will sie zeigen, dass sie trotz der üblen Nachrede wegen ihrer unehelichen Beziehung und der Abwertung als Hure ihren Stolz hat und ihr das Gerede der Leute nichts ausmacht. Ihre Wut versucht sie mit einem Lied zu besänftigen, in dem sie zunächst ihre aussichtlose Lage besingt („Mädel, was fangst du jetzt an – Hast ein klein Kind und kein Mann.“ (Z.26f.).  

Diese rhetorische Frage beantwortet sie damit, dass sie sich diese Frage gar nicht stellt, sondern lieber die ganze Nacht vor Freude singt, da ihr sowie niemand etwas gibt. Dann wünscht sie sich in ihrem Lied, reich zu sein, ein Gespann mit 6 Schimmeln zu haben und es sich leisten zu können, den Pferden Wein statt Wasser zu geben (S.11, Z.1-6). Hier wird deutlich, dass sie sich so sehr danach sehnt, im Luxus zu leben, womit klar wird, dass sie sich von Woyzeck abwenden und dem Tambourmajor zuwenden wird, der ihr Geschenke macht (goldene Ohrringe, (4. Szene, S.14).

Als Franz ans Fenster klopft, bittet sie ihn trotzdem freundlich herein. Woyzeck dagegen reagiert sofort abweisend. Er begrüßt weder sie noch sein Kind, sondern sagt, dass er sofort zum abendlichen militärischen Zählappell müsse. Auf Maries besorgte Rückfrage halluziniert Woyzeck erneut und fantasiert von Sodom und Gomorrha, die nur vage angedeutet würden in der Bibel (AT) und in der von „Rauch vom Land wie der Rauch vom Ofen“ (Z.12f.) die Rede sei. Dies ist eine Vorausdeutung auf das unmoralische Verhalten Maries wie in Sodom und Gomorrha im AT. Auf Maries verzweifelten Ausruf „Mann!“ (S.11, Z.14) reagiert er nicht, sondern spricht weiter im Verfolgungswahn. Auch Maries Ausruf „Franz!“ (Z.17), um ihn zur Besinnung zu rufen, ignoriert er und geht, da er fort müsse.

Marie beklagt, dass er so vergeistert“ (= verängstigt, Z.19) sei, und hat Angst, dass Woyzeck noch verrückt werde. Sie fragt, sich, ob ihr Kind sich fürchte, womit sie ihre Ängste auf Christian überträgt. Ihr wird dunkel vor Augen, sie hält es nicht mehr aus und es schaudert sie (Z.23) – deutliche Vorausahnungen auf ihr düsteres, fürchterliches Ende.

2.3. ANALYSE DER SPRACHE, RHETORISCHE FIGUREN + WIRKUNG IN SZENE 2

Marie verwendet ihrem Kind gegenüber die typische Babysprache (S.10, Z.5f.). Sie singt gern, um peinliche Situationen oder ihre Wut infolge von Beleidigungen und Abwertungen von anderen zu überspielen. Sie verwendet grammatikalisch nicht korrekte Umgangssprache der Unterschicht mit hessischem Dialekt („en“, „deim“, Z.23f., nit) sowie viele Ellipsen – so wie Margreth („He Bub“, „Und wenn“, Z.5,16;), wobei vieles unausgesprochen bleibt. Sie verwendet auch Ironie, Z.16f.; Wiederholungen, Anapher und Epipher beim Gesang, Vergleich, Alliterationen, Metaphern, rhetorische Fragen, viele Fragen. Beide Personen gehen nicht offen miteinander um und werten einander ab. Ausrufe des Erstaunens. Marie spricht im Lied auch von sich in der 3. Person. Satzbau meist Ellipsen und HS, kaum NS keine Hochsprache, niedriges geistiges Niveau, Woyzeck verwendet viele Textstellen aus dem AT. Sonst spricht er ähnlich wie die 2 Frauen. Er spricht recht unklare Sätze und ist deutlich verwirrt. Marie verwendet doppelte Verneinung als Verneinung. Sie spricht mit ihrem Kind und hält in Wahrheit ein Selbstgespräch (getarnter Monolog)

2.4. FOLGEN UND BEDEUTUNG DER SZENE 2 FÜR WEITEREN DRAMENVERLAUF

Die 2. Szene ist insofern bedeutsam für den weiteren Verlauf des Dramas, als hier der Charakter Maries, ihre Wünsche und Denkweise deutlich werden sowie die gestörte Beziehung zu Woyzeck. Marie weiß, wie sie von den anderen gesehen bzw. dass sie als Hure verleumdet wird.

Sie wehrt sich nicht dagegen, sondern möchte feiern und reich sein, da sie glaubt, das Recht dazu haben. Ferner hat Woyzeck, der an Halluzinationen und Wahnvorstellungen leidet, ihr nichts zu bieten und kann auch physisch gar nicht mehr ihr Geliebter und ihrem Kind ein treu sorgender Vater sein. Daher ist die Konsequenz, dass Marie sich dem Tambourmajor hingibt, nicht überraschend. Auch das schreckliche Ende wird hier schon angedeutet.

3. FRIEDRICH DÜRRENMATT: BESUCH DER ALTEN DAME (1955)

1. Aufgabe: Analysieren Sie den Szenenausschnitt

(S. 35u. – 40o.) des I. Aktes (AHR)

Schüler/-in

1.1. benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit etc.) und stellt das Drama als literarisches Beispiel für zeitlose, satirisch-gesellschaftskritische Gegenwartsdramatik der 50er Jahre dar.

1.2. gibt die Ausgangssituation (Vorgeschichte und Thematik) der vorliegenden Szene wieder: Situation Güllens und Erwartungen an Claire, missglückter Empfang; scheinbar herzliche Begrüßung und Begegnung von Claire und Alfred am früheren Liebesort im Konradsweilerwald. Thema: Wiederbelebung der alten Liebe wegen Claires Milliarden

1.3. beschreibt den Aufbau des Textauszuges, z.B. scheinbar romantischer Beginn durch Claire und Veränderungen nach 45 Jahren (S.35f.); Beschönigung der Vergangenheit durch Claire und Alfred (S.37); abrupte Hinwendung zur unmittelbaren Zukunft (S.37f.); Hinweis Claires, dass sie steinreich und die Hölle ist (S.38); totale Künstlichkeit (Prothesen) und Nichtmenschlichkeit Claires, die „nicht umzubringen“ (S.40) ist.

1.4. erklärt die Bedeutung dieser Szene für den weiteren Handlungsverlauf. Dabei verweist er/sie z.B. auf: frühere Liebesbeziehung und Trennung von Claire und Alfred zentral für Handlungsverlauf, da sie in ein Bordell ging (S.37); Hassliebe Claires (37f.), Illusionen Ills über seine Situation (S.37u.); Ills Familie, die ihn später im Stich lässt (38); radikale Änderungen (S.38); Claire als unmenschliches Wesen („Hölle“, S.38), die auf tragisches Ende hinweist.

1.5. erläutert  Figurenkonzeption und –konstellation der vorliegenden Szene (Interpretation), z.B.

Desillusionierung (Regieanweisung, S.36), dominantes Auftreten Claires; anfangs romantische Redeweise Claires; Vorausdeutung auf Veränderung und Ende („verblichen“, „dick“, „stampfte“, „Fliegenpilzen“, S.36f.), vulgäre Sprache („Visagen“ etc.), Befehle, grotesk („Monstren, Sänfte“, S.36), „Schonzeit“ für Reh (= für Alfred);

Forts. der romantischen Erinnerungen Claires mit Beschönigungen der Vergangenheit, um Alfred über wahre Absichten zu täuschen (S.37); rot + gold (Liebe + Geld), teure Zigarre; Ill macht sich weiter Illusionen, beschönigt Vergangenheit (Verzicht auf Glück zugunsten Claires), Claire deutet unheilvolle Zukunft an (S.37u.), starke Gegensätze: Alfred ist ruiniert (scheinheilige Rückfrage Claires), Claire ist steinreich, Alfred lebt in der Hölle, Claire ist die Hölle; Ills Familie ohne Ideale, lässt ihn später im Stich, haben nur Claires Ideale (Reichtum, S.38+114); „schweigt“, „starren“ in Regieanweisung (S.38) Ausdruck düsterer Stimmung und Sprachlosigkeit zwischen Claire und Alfred; Kontrast: Verzweiflung Alfreds, Claire gehört die Welt; – Alfred hofft auf positive Veränderung und Geld für sich und Güllen; Claire bestätigt dies nur für Güllen (S.38), Begeisterung Ills als Illusion über seine Lage;

Desillusionierung (Rührung und Schmerz), Claire ist unecht = künstlich, da Prothese (S.39o.), Verfremdung in Regieanwwisung, (1. = Specht), Alfred befühlt Ersten und sagt „wie einst, alles wie einst“ (Wiederholungen wie Eunuchen, früher auch unecht), „kühles (wie Claire) Holz“, erneute Illusionsdurchbrechung bzw. Verfremdung durch die Drei, die Wald und romantisches Waldesrauschen simulieren, Kosename „Zauberhexchen“ = Verniedlichung und ironische Illusion über Claires Vernichtungsabsichten, sein emphatisches Bekenntnis „Ich liebe dich doch“ korrigiert sie indirekt mit „Irrtum“, wobei ihre Prothese gemeint ist. (Paradoxon: Hand aus Elfenbein), Entsetzen und Desillusionierung Ills am Schluss, distanzierte Anrede Claires mit „Klara“ (S.40); alles an Claire ist künstlich = nicht menschlich; Antwort Claires im Telegrammstil zur Verdeutlichung: „Bin nicht umzubringen“, Nachplappern der 2 blinden Eunuchen = Willenlosigkeit gegenüber Claire als Inbegriff des Bösen („Hölle“).

1.6. analysiert die sprachlichen Gestaltungsmittel der Szene und deren Wirkungen, z.B.

Ironie (S.38,39, Abwertung, nicht ernst nehmen), viele Ellipsen (u.a. von Claire und Alfred: kurz angebunden, vieles verschwiegen, beschönigt), Anaphern (S.35, 37, viele beginnen mit ich, d.h. Egoismus), (rhetorische), scheinheilige Fragen (S.38, nicht ernst nehmen, Unehrlichkeit), Frage als Ausdruck der Verzweiflung (S.40 o!), Aufzählungen und Wiederholungen = Nachdruck), Übertreibungen (Hölle, S.38, nicht umzubringen, S.40o. = Unwirklichkeit), viele (Alltags-) Metaphern, z.T. auch Personifikationen mit Doppelsinn (Hölle, Maikäfer, Schonzeit, Reh, Fantasie und Unwirklichkeit), Aufzählungen (S.35), Paradoxa (Hand aus Elfenbein, S.39u., Monstren – Sänfte, S.36), Verschleierungen, Beschönigungen (S.37u.), Emphase (S.36m., 39), indirekte Appelle (S.38 u.), Wortspiele (S.37u.), (Wort)-Wiederholungen (S.36u., 37, 38o., 39 = nachplappern), drastische Redeweise (Hölle, Bordell, Kaugummikauer = pars pro toto), Vergleiche (S.36,39 Fantasie), Befehle (S.36f.), abwertende Begriffe und Namenswahl (Visagen, Kaugummikauer), kaum Alliterationen (S.39 wenig Harmonie), Verniedlichungen (S.38, 39u. = Abwertungen), Oxymoron (Liebe zwischen Fliegenpilzen = Unvereinbarkeit und Widersprüchlichkeit der Situation). Fazit: Sprachliche Gestaltungsmittel unterstreichen widersprüchliche Situation und Beziehung zwischen Claire und Alfred

1.7. beschreibt die dramaturgischen Gestaltungsmittel der Szene und erläutert deren Wirkungen (z.B.)

Verfremdung und Illusionsdurchbrechung (3. = Reh, S.37, Wald etc.), Unwirklichkeit (Wunsch nach Aufhebung der Zeit, Märchensprache „Zauberhexchen“),  Einfall und schlimmstmögliche und überraschende Wendung  (Bordell, Claire gehört die Welt etc.), Desillusionierung (Prothesen und unromantische Sprache von Claire), Verzweiflung, Sinnlosigkeit (Alfred, S.38, 40), Paradoxien, Groteske (Liebe zu alter Frau aus Prothesen, Liebe zwischen Fliegenpilzen, Monster – Sänfte) gegensätzliche Motive wie Liebe und Tod und Farben (rot, golden, violett = Liebe, Geld, Trauer),

1.8. bewertet Drama bezügl. Autorabsicht, Aktualität, Handlungsweise der Figuren im Kontext ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen, dramaturgischer Konzeption, sprachlichen Verhaltens der Figuren, z.B.

Allmacht des Geldes, Verführbarkeit des Menschen, Machtlosigkeit von Religion (Pfarrer), Absurdität der Welt, Chaos, Versagen der Funktionsträger, pessimistische Weltsicht, Unentrinnbarkeit des Schicksals (Claire = schwarze Witwe, S.86o.), – Kritik an Prinzipienlosigkeit der Menschen, hohlen Phrasen über Humanität, Verfremdung, Zerstörungskraft von Hassliebe, Satire, Parodien und christliche Motive als Kritik am Christentum, Anspielungen an NS-Zeit (Adolphine etc.), – Wirtschaftswunder der 50er Jahre (Verdrängung der NS-Zeit) wie Güllener im Schlusschor (Verdrängung ihres Verbrechens), – Verfremdung, schlimmstmögliche Wendung etc., tragische Komödie, Groteske (im Drama außer dieser Szene) etc.

2. AUFGABE:  ANALYSE DER SZENE DES III. AKTES

1) S.86-91M, 2) S.102M-103 (FHR)

1. ÜBERBLICKSINFORMATION

Dürrenmatts Tragikomödie in 3 Akten „Der Besuch der alten Dame“ (1955) spielt im gleichen Jahr in der Schweiz im fiktiven Ort Güllen und handelt von Klara Wäscher, die vor 45 Jahren schwanger von Ill war – was dieser mithilfe gekaufter Zeugen abstritt – und deshalb mit Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben wurde. Sie verlor ihr Kind und wurde zur Dirne. Jetzt kommt sie als Milliardärin Claire Zachanassian zurück, um sich an den Güllenern und besonders an Ill zu rächen. Ihr Angebot – eine Mrd. für den Mord an Ill – lehnen die Güllener zunächst entrüstet ab. Da sie aber ganz Güllen schon vorher aufgekauft und ruiniert hat, sehen die Güllener keinen anderen Ausweg, als sich zu verschulden – in der Hoffnung, dass einer Ill töten werde. Ill bemerkt, dass sie auf seinen Tod Kredit aufnehmen, beschwert sich erfolglos bei allen einflussreichen Personen und versucht sogar zu fliehen. Schließlich gesteht er seine Schuld ein und fügt sich in sein Schicksal, lehnt aber Selbstmord ab, da er den Güllenern ihre verbrecherische Tat nicht abnehmen will. Daher töten die Güllener ihn am Schluss, erhalten von Claire die Milliarde und genießen scheinbar ohne Reue ihren Wohlstand.

2.1. ANALYSE DER  1. SZENE DES III. AKTES (CLAIR ZACHANASSIAN, LERHER UND ARZT, S.86-91M.)

Nachdem die Güllener Claire Zachanassians Angebot (1 Mrd. für den Tod Ills) zunächst abgelehnt haben, beginnen sie, sich immer mehr zu verschulden, in der Hoffnung, einer werde Ill töten. Schließlich gehen der Lehrer und der Arzt zu Claire, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Claire sitzt wegen der damit verbundenen Erinnerungen an ihre frühere Liebe zu Ill in der Peterschen Scheune. Da sie gerade mit Gatte VIII verheiratet ist, trägt sie ein weißes Brautkleid. „Lumpen, vermoderte Säcke“ (S.86) etc. sind Anspielungen auf die Unmoral der Güllener (Lumpen = schlechte Menschen) und den heruntergekommenen Zustand der Stadt. „Riesige Spinnweben“ (ebenda) signalisieren, dass Claire ihr riesiges Netz gesponnen hat, in dem die Güllener sich verfangen haben. Sie zappeln zwar noch eine Zeitlang, können ihr aber nicht entrinnen.

Der Arzt und der Lehrer betreten nach Aufforderung die Scheune in eleganten Kleidern, was zeigt, dass auch sie sich bereits verschuldet haben, da sie – wie alle – fest mit Ills Tod rechnen. Claire begründet ihren Rückzug in die Scheune mit ihrem Bedürfnis nach Ruhe, da ihre Hochzeit sie ermüdet habe und sie „nicht mehr blutjung“ (S.87) sei – eine Anspielung an die bevorstehende blutige Tat und zugleich eine Beschönigung, da sie alt ist, künstliche Prothesen trägt und unmenschliche Züge aufweist (S.49, 52).

Clairs vorausdeutende Bemerkung, es sei hier „zum Ersticken“ (Ill wird „erwürgt“, S.41), aber sie liebe diese Scheune, die „Wagenschmiere“, die „Mistgabel“, den zerbrochenen Heuwagen“ (S.87) aus ihrer Jugendzeit, beweist, wie negativ sie ihre Jugend sieht.

Der Lehrer versucht, dieser schrecklichen Scheune etwas Positives abzugewinnen, und beginnt das Gespräch mit „Ein besinnlicher Ort“ (S.87). Claire geht nicht darauf ein und sagt, dass der Pfarrer „erhebend“ gepredigt habe, was nichts über die Qualität der Predigt aussagt.

Als der Lehrer Claire zustimmt, indem er den 1. Korintherbrief über die Liebe als Inhalt nennt, sagt sie, dass der Lehrer (wie der Pfarrer) seine Sache „brav“ gemacht habe, da es feierlich tönte. Das heißt, dass der Pfarrer auftragsgemäß über die Liebe gepredigt und auch der Lehrer – wie angeordnet – für feierliche Töne gesorgt habe, obwohl angesichts eingereichter Scheidung hierfür überhaupt keine Anlass bestanden hat. Beide haben also unwissentlich ihren Auftrag, den äußeren Schein zu wahren, erfüllt. Da der Lehrer Bachs „Matthäus-Passion“ (ebenda) singen lässt, deutet sich zugleich das Leiden Ills an, das der Lehrer in seiner Schlussrede (S.120ff.) selbst vorbereitet.

Wieder beginnt er das Gespräch mit „Gnädige Frau“, um das Anliegen der Güllener vorzutragen. Da er aber dieselbe Anrede wie die Eunuchen benutzt (S.86), zeigt dies, dass er vollkommen abhängig von ihr ist. Er redet von Clairs „kostbarer Zeit“, die sie nicht länger als nötig in Anspruch nehmen wollten. Dies ist ein Hinweis auf die Milliarde für Ills Tod, die ohne großen Zeitverlust erfolgen wird.

Claire verwirrt die 2 Besucher mit der Ankündigung, sie lasse sich von Gatte VIII wieder scheiden. Als der Lehrer sagt, dass sie in der Angelegenheit Ill kämen, fragt sie, ob „er gestorben“ sei, da nur sein Tod ein Grund für sie ist, mit ihr zu sprechen. Ihren Hinweis auf deren „abendländische(n) Prinzipien“ (S.88) entlarvt sie als Lüge, da sie sich trotzdem „hoffnungslos“ verschuldet haben, und entgegnet, sie wüssten, was sie zu tun hätten.

Daher versucht der Lehrer mit dem Hinweis auf ihrer beider aufopferungsvolles Ausharren in dem verarmten Städtchen, Claires Mitleid zu erregen. Sie bräuchten „Kredit, Vertrauen, Aufträge“, damit „die alte Größe Güllens auferstehe“(S.89) – wieder eine Vorausdeutung, da Auferstehung nach dem Tod (Ills) geschieht. Das Angebot, die „Platz-an-der-Sonne-Hütte, die „Wagnerwerke“ etc. zu kaufen und zu sanieren, scheitert daran, dass sie ganz Güllen schon lange besitzt und bewusst stillgelegt hat, um die Güllener in den Ruin zu treiben. Daher sei deren „Hoffnung … ein Wahn“, ihre „Aufopferung … sinnlos“, ihr „ganzes Leben nutzlos vertan“ (S.90).

Als der Arzt Clairs Vorgehen „ungeheuerlich“ (Claire = Ungeheuer) nennt, erzählt sie von ihrer damaligen Ausgrenzung und Erniedrigung als Schwangere durch die Güllener, die sie offensichtlich als die wahre Ungeheuerlichkeit empfindet, so dass sie beschloss, sich zu rächen.

Verzweifelt versucht der Lehrer, Claire umzustimmen, in dem er vorgibt, Verständnis für ihre verletzte Liebe zu haben. Sie solle nicht an „Rache“ denken und die Güllener zum Äußersten treiben, sondern „armen, schwachen, aber rechtschaffenen Leuten“ helfen, ein „etwas würdigeres Leben zu führen“, um „zur reinen Menschlichkeit“ (S.90f.) zu gelangen. Sein Appell an Claire ist wenig glaubwürdig, da Schwachheit und Rechtschaffenheit nicht zusammenpassen und Würde mit Geld verbunden wird, was nichts mit Menschlichkeit zu tun hat.

Claire erwidert, dass man sich mit ihrer Finanzkraft nicht Menschlichkeit, sondern „eine Weltordnung“ leiste. Da die Welt sie „zu einer Hure“ gemacht habe, mache sie sie „zu einem Bordell“. „Konjunktur“ gebe es nur „für eine Leiche“ (S.91). Dies zeigt, dass sie sich außerhalb jeder Moral und jedes Rechts stellt. Die hilflose Frage des Arztes, was sie tun sollten, beantwortet der Lehrer mit: „Was uns das Gewissen vorschreibt“ (S.91). Eigentlich sollte ihnen ihr Gewissen den Mord verbieten, aber gerade der Lehrer ertränkt sein schlechtes Gewissen im Alkohol und rechtfertigt am Schluss den Mord sogar mit angeblichen moralischen Prinzipien.

2.2. ANALYSE DES GESPRÄCHS ZW. DEM LERHER UND  ILL IN DESSEN LADEN (III,102M.-103)

Nachdem der angetrunkene Lehrer die Verlogenheit und Vertuschungsversuche der Güllener, einschließlich Frau Ills, im Laden miterlebt hat, will er den Presseleuten, d.h. „der Weltöffentlichkeit“ (S.99) „die Wahrheit verkünden“ (S.98), woran er aber von den anderen und am Schluss sogar von Ill selbst gehindert wird.

Der Lehrer entschuldigt sich bei Ill für seinen angetrunkenen Zustand und sagt, dass er ihm helfen wollte. Sie seien schlimme Menschen, da die Milliarde in ihren Herzen brenne. Er solle um sein Leben kämpfen. Ills Entgegnung, dass er nicht mehr kämpfe, da er kein Recht dazu habe, weist der Lehrer zunächst mit Verständnislosigkeit und mit Beschuldigung Claires als „Erzhure“ und „schamlos“ (S.102) zurück. Als Ill jedoch sagt, alles sei seine Schuld, alles seine Tat, „die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die Milliarde“, und er sich u. ihnen nicht mehr helfen könne, wandelt sich der Lehrer.

Plötzlich gibt er ihm recht u. die „Schuld an allem“. Von Anfang an wisse er, dass man Ill töten werde, da „die Versuchung zu groß“ und ihre „Armut zu bitter“ (S.103) sei. Er hat sich also bisher selbst etwas vorgemacht. Er fühle, wie er „langsam zu einem Mörder werde“ und sein „Glaube an die Humanität machtlos“ sei, weshalb er „ein Säufer geworden“ (S.103) sei. Dies zeigt, dass er wohl selbst nicht an abendländische Prinzipien glaubt („schwankend“).

Er fürchte sich so, wie Ill sich gefürchtet habe, und wisse, dass einmal eine alte Dame sie zur Rechenschaft ziehen werde (Wiederholung des Dramas). Bald werde er es aber infolge seiner Trunkenheit nicht mehr wissen. Die Regieanweisung „Schweigen“ signalisiert sein Verschweigen dieser Tatsache. Er bestellt noch eine Flasche Steinhäger, die er aufschreiben lässt. Dies verdeutlicht seine Wandlung: Er nimmt jetzt demonstrativ Kredit auf, da Ill bald sterben wird.

3. Analysiere die sprachliche Gestalt der Szene (mit paradoxen + grotesken Elementen) und deren Wirkung.

Claire spricht in Ellipsen, d.h. verkürzten, abgehackten Sätzen („Sollen hereinkommen“, S.86), was ihre Gefühllosigkeit unterstreicht. Sie benutzt Schlagwörter „Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche“ (S.91), was ihre vorgefassten Ansichten verdeutlicht. Der Lehrer ahmt diesen Redestil nach („Bach. Matthäus-Passion“, S.87), was zeigt, wie sehr er bereits von Claire beeinflusst ist. Er verwendet auch Beschönigungen (Ein besinnlicher Ort“), was seine unehrliche Art ebenso kennzeichnet wie seine übertreibenden Vergleiche („Wie eine Heldin der Antike kommen Sie mir vor“, S.90), seine Emphasen und Appelle (besonders S.90u.) und seine Untertreibungen („Die Güllener haben sich … verschiedenes angeschafft“, S.88). Claire verwendet Ironie („Trotz der Prinzipien?“), um die Verlogenheit der Güllener zu entlarven. Anaphern („Wir“ am Satzanfang, S.89), gleicher Satzbau, Aufzählungen (S.89) und viele Wortwiederholungen („Hoffnung“, „Menschlichkeit“, „Geschäft“, S.89) zeigen, dass die Personen sich oft wiederholen oder zwar die gleichen Wörter benutzen, aber wie z.B. bei Claire etwas völlig anderes damit meinen. Claire benutzt Kraftausdrücke („Hure“, „Bordell“, S.91), was ihre direkte, brutale Art unterstreicht.

Die vielen Metaphern („Lumpen“, „pflanzte … die zarten Keime der Humanität“, „Betriebe stilllegen“, „das Gewissen vorschreibt“,  sind fantasievolle Umschreibungen bzw. Verdrehungen der Wirklichkeit. Es gibt viele, z.T. rhetorische Fragen, die die tatsächliche oder scheinbare Ahnungslosigkeit der Personen bzw. die Fragwürdigkeit ihrer Handlungen zeigen.

Grotesk als Verbindung von Lächerlichem und Schrecklichem ist besonders Claire im weißen Brautkleid in der Peterschen Scheune mit riesigen Spinnweben, die ihre Gefährlichkeit signalisieren. Paradox ist der scheinbare Widerspruch (Dirne Claire im weißen Brautkleid, „verletztes liebendes Weib“, „Anständig ist nur, wer zahlt“, S.90f.), was das widersprüchliche Verhalten und Denken der Personen widerspiegelt.

4. WELCHE ASPEKTE CLAIRE FEHLTEN IN DER AUFFÜHRUNG VOM 16.11.09 UND WELCHE FOLGEN HAT DIES FÜR CLAIRES WIRKUNG

In der Theaterszene wird meines Erachtes der Kontrast zwischen unschuldiger Braut und Hure bei Claire nicht so deutlich. Auch fehlt das groteske Element bei Claires Körper. Zwar hinkt sie, hat nicht wie im Stück Prothesen, so dass das Unmenschliche dieser Figur nicht so deutlich wird. Sie wirkt auch nicht so alt. Daher erscheint sie im Theater nicht ganz so schrecklich, zumal auch Worte wie „Zum Ersticken.“ (S.87) fehlen. Andererseits ist sie sehr oft anwesend und infolge des riesigen Spinnennetzes als Bühnenbild allgegenwärtig.

3. AUFGABE: ANALYSE VON III. AKT, S 120M.-125M. (FHR)

1. ÜBERBLICKSINFORMATIONEN

Dürrenmatts Tragikomödie in 3 Akten „Der Besuch der alten Dame“ (1955) spielt im gleichen Jahr in der Schweiz im fiktiven Ort Güllen und handelt von Klara Wäscher, die vor 45 Jahren schwanger von Ill war – was dieser mithilfe gekaufter Zeugen abstritt – und deshalb mit Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben wurde. Sie verlor ihr Kind und wurde zur Dirne. Jetzt kommt sie als Milliardärin Claire Zachanassian zurück, um sich an den Güllenern und besonders an Ill zu rächen. Ihr Angebot – eine Mrd. für den Mord an Ill – lehnen die Güllener zunächst entrüstet ab. Da sie aber ganz Güllen schon vorher aufgekauft und ruiniert hat, sehen die Güllener keinen anderen Ausweg, als sich zu verschulden – in der Hoffnung, dass einer Ill töten werde. Ill bemerkt, dass sie auf seinen Tod Kredit aufnehmen, beschwert sich erfolglos bei allen einflussreichen Personen und versucht sogar zu fliehen. Schließlich gesteht er seine Schuld ein und fügt sich in sein Schicksal, lehnt aber Selbstmord ab, da er den Güllenern ihre verbrecherische Tat nicht abnehmen will. Daher töten die Güllener ihn am Schluss, erhalten von Claire die Milliarde und genießen scheinbar ohne Reue ihren Wohlstand.

2. ANALYSE DER ZENTRALEN SZENE DES III. AKT (GEMEINDEVERSAMMLUNG S 120M.-125M.) 

Bezug zu den vorherigen Szenen: Da Ill den Selbstmord ablehnt, aber den Urteilsspruch der Güllener annehmen will, findet im Theatersaal das als Gemeindeversammlung getarnte und in Anwesenheit der Weltpresse live im Radio übertragene „Gemeindegericht“ (S.108) statt, in der es offiziell um die Annahme einer Stiftung (eine Mrd.) geht, die der Bürgermeister zunächst scheinbar sachlich erklärt.

Der Radioreporter nennt die Stiftung eine „Riesensensation“ und „eines der größten sozialen Experimente unserer Epoche“, wobei in Wahrheit natürlich das Gegenteil der Fall ist. Die von ihm festgestellte „Totenstille“ der Anwesenden (S.120) weist indirekt auf den bald erfolgenden Mord hin.

Der Lehrer erhält das Wort und deutet die Rachemotive Claires (so er selbst, S.89) so um, dass sie als uneigennützige Wohltäterin dasteht. Sie wolle Güllen nicht „mit Geld beglücken“, sondern „für ihre Milliarde Gerechtigkeit“ (S.120f.). Scheinheilig fragt er die versammelten Bürger, ob sie bisher „nicht ein gerechtes Gemeinwesen“ gewesen seien, worauf sie bekennen, „ein Verbrechen“, „ein Fehlurteil“, „Meineid“ und „einen Schuft“ (S.121) geduldet zu haben.

Es gehe nicht um Geld, sondern um die Verwirklichung der Gerechtigkeit, der „Ideale“ ihrer Vorfahren und den „Wert des Abendlandes“. Es gebe keine Freiheit, wenn „Nächstenliebe verletzt, das Gebot, die Schwachen zu schützen, missachtet, die Ehe beleidigt, ein Gericht getäuscht, eine junge Mutter ins Elend gestoßen“ (S.121) werde. Deshalb müssten sie mit ihren Idealen „in Gottes Namen“ „blutigen Ernst“ machen. Nur wenn sie „das Böse“(S.121f.) nicht aushielten, dürften sie Claires Milliarde annehmen und deren Bedingung erfüllen.

Hier zeigt sich die ganze Verlogenheit bes. des humanistisch geprägte Lehrers und seiner angeblichen moralischen Prinzipien. Ohne Kenntnis des wahren Sachverhalts klingt seine Rede zunächst sehr idealistisch und einleuchtend. Da aber Begriffe wie Ideale, abendländische Prinzipien (S.38,88,113f.) von den Bürgern längst missbraucht sind und sie gerade jetzt den schwachen Ill nicht schützen, die Öffentlichkeit täuschen, durch Claires „Männerverbrauch“(S.34u.) die Ehe beleidigen lassen, Rache wie Claire Gerechtigkeit nennen und Handlanger des Bösen (Claire) sind, wollen sie mit sinnentleerten Begriffen und „Riesenbeifall“ (S.121) nur die Öffentlichkeit täuschen und den Mord an Ill rechtfertigen, um so Claires Geld zu bekommen.

Der nur auf Sensation bedachte, völlig unkritische Radiosprecher ist „erschüttert“ (S.122) und sieht eine selten gewordene „sittliche Größe“. „Mutig“ sei „auf Missstände allgemeiner Art hingewiesen“ (S.122) worden, was überhaupt keinen Mut erfordert

Ill erhält nun vom Polizisten einen Stoß (S.122, Zeichen von Gewalt, Andeutung der späteren Brutalität, S.129), um eine Frage des Bürgermeisters zu beantworten, ob er ihren „Entscheid über Annahme oder Ablehnung“ (S.123) der Stiftung respektieren werde. Laut Reporter ist er „ein senkrechter Güllener (Bald liegt er waagerecht im Sarg!) von altem Schrot und Korn“ (Begriff, der sich auf Gewicht und Goldgehalt einer Münze bezieht, S.123).  

Unwissentlich spielt hier der Reporter auf Ills Tod und seine wahre Bedeutung für die Güllener (Gold wert) an. Die Aufforderung des Reporters an Ill, lauter zu reden, damit die Hörer/-innen ihn verstehen, ist in Wahrheit sinnlos, da es hier nur um Verschweigen und bewusstes Missverstehen geht. Als Ill die Frage des Bürgermeister bejaht, werden alle, auch die politische Opposition aufgefordert, etwas zu sagen, jedoch schweigen diese als Mitwisser und spätere Mittäter natürlich. Angeblich sitzt Ill regungslos, vor Freude überwältigt“ (S.124), eine Anspielung auf seinen baldigen „Tod aus Freude“ (S.130).

Bei der „Abstimmung“ (S.124) heben die Bürger die Hand wie zum Schwur, wie „eine gewaltige Verschwörung“ und laut Reporter herrscht andächtige Stille im Theatersaal“ (S.124). Dies ist ein Hinweis darauf, dass sie bezüglich der Stiftung nur Theater spielen, sich in Wahrheit gegen Ill verschworen haben, eine Art „Meineid“ (S.121) schwören und eine religiöse Feier abhalten (auch Parodie auf Rütlischwur von 1291). In einem liturgischen Sprechgesang, bei dem der Bürgermeister vorspricht und die Gemeinde seinen Text nachspricht, werden noch einmal alle angeblichen Gründe für die Annahme der Stiftung genannt. „Nicht des Geldes“, „sondern der Gerechtigkeit wegen“ „und aus Gewissensnot“, da sie ein Verbrechen „ausrotten müssen“, „damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden“ „und unsere heiligsten Güter“ (S.125) – alles verlogene Rechtfertigung für einen Mord, um ihre heiligsten Güter (Claires Geld) zu erhalten.

Ill schreit am Schluss „Mein Gott“ (S.125), eine Anspielung an Jesu letzte Worte am Kreuz („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“), was zeigt, dass sie ihn praktisch schon hingerichtet haben. Dieser Schrei ist das einzig Echte an dieser Szene. Deshalb fehlt er auch bei der Wiederholung für die Presse. Durch diese Wiederholung und das Nachsprechen der Güllener verhalten sie sich so wie die 2 Eunuchen, die auch völlig von Claire abhängig sind.

Hinweis auf folgende Szenen: Als die Presse einer Einladung zum Imbiss im Restaurant gefolgt ist, zeigen die Güllener ihr wahres Gesicht und bringen Ill im Dunkeln um. Alle handeln so, wie Claire es vorausgesagt bzw. befohlen hat. Deshalb erhält auch der Bürgermeister von Claire als Belohnung den Scheck. Am Schluss preist der Chor den neuen Wohlstand Güllens, den sie „glücklich genießen“ (S.134), denn nichts sei „ungeheuerer als die Armut“ (S.132).

3. ANALYSE DER SPRACHLICHEN GESTALTUNG DER SZENE (MIT PARADOXEN UND GROTESKEN ELEMENTEN) UND DEREN WIRKUNG.

Der Radioreporter spricht wie Claire z.T. (von ihr abhängig!) in Ellipsen, d.h. abgehackten verkürzten Sätze, da viel verschwiegen wird. Er verwendet Beschönigungen („vor Freude überwältigt“, S.124) – was seine unehrliche Art kennzeichnet –, Allgemeinplätze („Missstände allgemeiner Art“ …, wie sie ja in jeder Gemeinde vorkommen, überall, wo Menschen sind“, S.122) – ein Hinweis auf seine unkritische  Einstellung als Journalist –, Emphase („ich bin erschüttert“, S.122) und Übertreibungen („ein einziges Meer von erhobenen Händen“, S.124). Dies zeigt, dass er nicht an der Wahrheit, sondern nur an einer gefühlsaufgeladenen „Riesensensation“ (S.120) interessiert ist.

Es gibt sehr häufig unfreiwillige (aber auch echte) Ironie, da meist das Gegenteil von stimmt, was gesagt wird („sittliche Größe“, „Gerechtigkeit“ „heiligste Güter“, S.122ff.). Mit wohlklingenden Alliterationen („wenn wir“, „unter uns“, „welches wir“, S.125) soll der hässliche Inhalt (Geldgier, Ungerechtigkeit etc.) übertüncht werden. Es gibt viele Metaphern („Totenstille“, „Die Freiheit steht auf dem Spiel“; „Nächstenliebe verletzt“, „blutigen Ernst“ machen, S.120ff.), die meist zur Verschleierung des wahren Sachverhalts dienen.

Das religiöse Vokabular („Gnade“, „in Gottes Namen“, Schwur in Gebetsform, „heiligste Güter“, „Andächtige Stille“, „Mein Gott“, S.121ff.) soll verdecken, das es hier um schlicht um Mord und materielle Güter geht. Die Anaphern („Wiederholungen der Gemeinde, S.124ff.), gleicher Satzbau, Aufzählungen (S.121) und viele Wortwiederholungen („Geld“, „Gerechtigkeit“, „Ideale“, „Gnade“, S.124) zeigen, dass die Personen sich oft wiederholen oder zwar die gleichen Wörter benutzen, aber etwas völlig anderes damit meinen.

Es gibt einige rhetorische Fragen (S.120ff.), die zeigen, dass alles ein abgekartetes Spiel ist und das Urteil der Güllener längst feststeht.

Grotesk als Verbindung von Lächerlichem und Schrecklichem ist z.B. das lächerliche Schauspiel der Gemeindeversammlung, bei der die Güllener aber „blutigen Ernst“ (S.121) machen. Paradox (Widerspruch in sich) ist es, wenn der Radioreporter bei dem Hinweis auf Missstände allgemeiner Art von Mut spricht (Das wäre es nur bei konkreter Kritik) und die Güllener mit ihren „Idealen“ „blutigen Ernst“ (S.122) machen müssen.

4. VERGLEICHE KRITISCH DIE FIGUREN DES LEHRERS IN DER AUFFÜHRUNG VOM 16.11.09 MIT SEINER ROLLE IM DRAMENTEXT

In der Theaterszene wird die Ungeheuerlichkeit und die unglaublich dreiste Verlogenheit der Figur des Lehrers nicht deutlich, zumal sie von einer Frau gespielt wird, die hier stimmlich, mimisch und gestisch die Autorität des Lehrers nicht verkörpert. Die Rede wird nicht frei gehalten, sondern abgelesen, so dass die große Wirkung nach außen völlig fehlt. Da diese Figur schon vorher wenig glaubwürdig gespielt wird, kann auch die Wandlung dieser Figur nicht überzeugen. Deshalb gehen wichtige Anliegen Dürrenmatts (Verlogenheit, Selbstgerechtigkeit, unverschämte Rechtfertigung eines Mordes mit den gleichen Argumenten, mit denen vorher Claires Angebot abgelehnt wurde etc.) hier verloren.

5. KRITISCHE STELLUNGNAHME ZU DEN HAUPTINTENTIONEN DES AUTORS U. GEGENWARTSBEDEUTUNG

Dürrenmatt will mit seinem Stück u. a. auf die Verführbarkeit des Menschen durch Geld (Geld regiert die Welt) hinweisen, für den die Bürger sogar einen Mord begehen. Alle Ideale und Werte verblassen dagegen und werden verdreht, um so wenigstens das verbrecherische Tun nach außen notdürftig zu rechtfertigen. So können die Güllener auch ihre eigene Schuld der jungen Klara gegenüber verdrängen, indem sie Ill als Sündenbock für ihre Untaten büßen lassen. Presse und Öffentlichkeit werden manipuliert, gekauft und getäuscht. Dieses Thema besitzt auch noch heute Gültigkeit, wie man am Beispiel der verhaltenen Kritik der UNO an Menschenrechtsverletzungen in China und Saudi-Arabien sehen kann.

Allerdings ist die Öffentlichkeit heute viel aufgeklärter, so dass solche Vorgänge immer an die Öffentlichkeit gelangen und Regierungen, die solche Vorgänge verschweigen, zumindest unter Druck geraten. Dürrenmatt kritisiert natürlich auch die besondere Verlogenheit seiner Schweizer Landsleute, die Billionen krimineller Euros ohne schlechtes Gewissen auf Schweizer Bankkonten lagern.

4. AUFGABE: ANALYSIEREN SIE DEN SZENENAUSSCHNITT (S.120M. 125M.) DES III. AKTES

Schüler/-in

1. benennt u.a. äußere Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit, Spielort u. –zeit, Thema) und stellt das Drama als literarisches Beispiel für zeitlose, satirisch-gesellschaftskritische Gegenwartsdramatik der 50er Jahre dar.

2. gibt die Ausgangssituation (Vorgeschichte und Thematik) der vorliegenden Szene wieder:

Claire bietet Güllen 1 Mrd. Spende für Ills Tötung aus Rache für an ihr begangenes Unrecht; erst entrüstete Ablehnung von Claires unmoralischem Angebot, dann aber Verschuldung aller Güllener als Spekulation auf Ills Tod; Abwendung von Ill, Beschuldigung Ills und Rechtfertigung für Claires Rache. Ills Versuch, Hilfe von Funktionsträgern zu erhalten, ist vergeblich, da alle durch Claire korrumpiert sind; Ill akzeptiert Schuld, lehnt aber Selbstmord ab, daher Einberufung einer Gemeindeversammlung;  Thema: Abstimmung über Ills Tod, getarnt als Annahme von Claires Stiftung.

3. beschreibt den Aufbau des Textauszuges, z.B.

theatralische Inszenierung  der Gemeindeversammlung durch Weltpresse, Eröffnung durch BM, Rede des Lehrers, der mit scheinhumanitären Phrasen Güllen auf mit Stiftungsannahme verbundene Tötung Ills vorbereitet; Respektierung Ills und Schweigen der Repräsentanten von Güllen; Abstimmung über Stiftungsannahme und damit Tötung Ills = Parodie auf Schweizer Rütlischwur + Messfeier.

4. erklärt die Bedeutung dieser Szene für den weiteren Handlungsverlauf.

Dabei verweist er/sie z.B. auf Tötung Ills unter Ausschluss der Presse, die aber Ills angeblichen „Tod aus Freude“ im Stil der Sensationspresse aufgreift; Claire übergibt Güllenern Scheck, da Ill nun so ist wie früher; Güllener besingen parodistisch als antiker Chor im „“Welt-Happy-End“(S.132) die Vorteile ihres Reichtums, den „ein Gott“ (S.134, Mammon!) bewahren soll.

5. erläutert Figurenkonzeption und –konstellation der vorliegenden Szene (Interpretation), z.B.

sensationsgeiler, unkritischer Beginn durch Radioreporter („Riesensensation“, „Ergriffenheit“), „Totenstille“ (= Hinweis auf Mord); Bürgermeister erlaubt (!) Lehrer zu reden (inszeniert), aufputschende Rede wie NS-Propagandaminister Goebbels (S.120-2); keine höfliche oder persönliche Anrede des Lehrers („Güllener“ = Jauche), „müssen“ (= zwanghaft), Scheinfragen, Übernahme von Claires Ansichten (Gerechtigkeit statt Rache), Bestreitung von Claires Bestechung mit Geld, Überbetonung der „Gerechtigtigkeit“;

„sie will“ (Lehrer verkündet Claires Willen!); scheinbare Selbstanklage (wir duldeten); Armut = Ursache von Schlimmem (Ironie, da Reichtum = Mord; Pervertierung moralischer Normen wie NS-Zeit), „Ideale“ ( = Geld, S.38+114) verwirklichen = „Wert des Abendlandes“, Aufzählung früherer Verfehlungen: paradoxe u.nd perverse Konsequenz: in Gottes Namen blutigen Ernst machen mit unseren Idealen (wie Kreuzzug im Mittelalter = wegen Geld morden), Reichtum muss zu Reichtum an Gnade führen (= in Wahrheit führt hier Reichtum zu Gnadenlosigkeit); Güllener dürfen „Böses“ (Entmenschlichung Ills) nicht aushalten (verdrängen!); Polizist stößt Ill (S.122, brutale Realität).

Radioreporter: Ill soll lauter reden, obwohl er schweigen soll. Ill soll Entscheid nur respektieren. Scheinfragen an Repräsentanten von Güllen und politische Opposition (Antwort: schweigen = verschweigen); andächtige Stille (Kirche), Theatersaal) (Inszenierung);

Bürgermeister spricht Abstimmungstext (Gerechtigkeit verwirklichen), der Mord vertuschen soll. Radioreporter spricht mehrdeutig von „gewaltiger Verschwörung“ (gegen Ill; Rütlischwur, G. = verschworene Gemeinde); Ill = vor Freude überwältigt (= Tod aus Freude);

Parodie auf Fürbitten und Schweizer Rütlischwur („ausrotten“, „heiligste Güter“ (NS-Jargon). Güllener plappern nach wie Eunuchen; Ills Schrei „mein Gott“ (= Jeus letzte Worte vor seinem Tod: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen).

6. analysiert die sprachlichen Gestaltungsmittel der Szene und deren Wirkungen, z.B.

Ironie („Es geht nicht um Geld“, S.121, das Böse nicht aushalten, S.122o.; „sittliche Größe“, S.122; nicht Ernst nehmen), viele Ellipsen (Radioreporter und Güllener; vieles verschwiegen, beschönigt), Anaphern (Radioreporter und Bürgermeister, S.120ff.; wirkt wie inszeniert), (rhetorische) scheinheilige Fragen (S. 120ff. ,Unehrlichkeit), Aufzählungen und Wiederholungen = Nachdruck, Inszenierung, S.120ff.), Übertreibungen („Welt der Ungerechtigkeit“, „ein einziges Meer von erhobenen Händen“ S.122ff.), viele (Alltags-) Metaphern, z.T. auch Personifikationen mit Doppelsinn („bittere Tatbestand“, S.121, senkrechter Güllener von altem Schrot und Korn“, S.123, Fantasie + Unwirklichkeit), Paradoxa (Gewaltige Verschwörung für eine bessere Welt“, Verbrechen ausrotten, S.125), Verschleierungen, Beschönigungen („Gerechtigkeit“, „Stiftung angeboten“, S.122f.), Emphase („Riesensensation“, S.120; Rede des Lehrers, S.121f.), (Wort)-Wiederholungen (S.125 = nachplappern), drastische Redeweise (ausrotten, S.125), Vergleiche (S.120,124 = Fantasie), Befehle (müssen, S.121; S.123 Radioreporter), Abwertungen  (Schuft“, „guter alter Mann“, S.121ff.), zufällige Alliterationen (S.121-3, aber S.124u.:  Geld, Gerechtigkeit, Gewissensnot =  künstliche Harmonie); religiöses Vokabular („Gnade“, „reinen Herzens“, Nachahmung von Fürbitten, „heiligste Güter“, „mein Gott“, S.122,124f. = Vertuschung des Verbrechens);

Fazit: Sprache unterstreicht inszeniertes, moralisch-religiös überhöhtes Todesurteil für Ill.

7. beschreibt die dramaturgischen Gestaltungsmittel der Szene und erläutert deren Wirkungen (z.B.)

Verfremdung und Illusionsdurchbrechung (Theatersaal, Andacht, Radiosprecher gedämpft, erschüttert = unkritisch, S.122-4.),  Einfall und schlimmstmögliche und überraschende Wendung  (Mrd.-Stiftung Claires als getarnter Mord, Ill stimmt eigener Tötung zu, „moralischer“ Lehrer verficht Unmoral im Goebbels-Stil, politische Opposition schweigt etc.), Desillusionierung (Polizist gibt Ill Stoß, S.122), Verzweiflung, Sinnlosigkeit (A: „mein Gott“, S.125 etc.), Paradoxien (blutigen Ernst mit Idealen machen, S.122; mutiger Hinweis auf allgemeine Missstände, S.122).

8. bewertet Drama bezügl. Autorabsicht, Aktualität, Handlungsweise der Figuren im Kontext ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen, dramaturgischer Konzeption, sprachlichen Verhaltens der Figuren, z.B.

Allmacht des Geldes, Verführbarkeit des Menschen, Machtlosigkeit von Religion (Pfarrer), Absurdität der Welt, Chaos, Versagen der Funktionsträger, pessimistische Weltsicht, Unentrinnbarkeit des Schicksals (Claire = schwarze Witwe, S.86o.), – Kritik an Prinzipienlosigkeit der Menschen, hohlen Phrasen über Humanität, Verfremdung, Zerstörungskraft von Hassliebe, Satire, Parodien und christliche Motive als Kritik am Christentum, Anspielungen an NS-Zeit (Hermine etc.), – Wirtschaftswunder der 50er Jahre (Verdrängung der NS-Zeit) wie Güllener im Schlusschor (Verdrängung ihres Verbrechens), – Verfremdung, schlimmstmögliche Wendung etc., tragische Komödie, Groteske (im Drama außer dieser Szene) etc.

4. FRIEDRICH DÜRRENMATT: DER PHYSIKER (1961)

1. ÜBERBLICKSINFORMATIONEN

Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie „Die Physiker“ (1961) spielt um 1960 in der Schweiz in einer privaten Nervenheilanstalt. Sie handelt von 3 scheinbar verrückten Physikern, die ihre Krankenschwester erdrosseln, um nicht als CIA-/KGB-Geheimagenten (Newton/Einstein) bzw. als genialster Physiker (Moebius) enttarnt zu werden. Letzterer will so – getarnt als Narr – seine menschheitsbedrohenden Entdeckungen vor Missbrauch schützen.

Die 2 Agenten versuchen Möbius’ Erfindungen auszuspionieren. Er aber will durch Vernichtung seiner Unterlagen die Menschen vor den katastrophalen Folgen seiner Entdeckungen bewahren. Doch ist die Handlung zu Beginn des analytischen Dramas schon vorprogrammiert und enthüllt sich nur in dessen Verlauf. Die Leiterin des Sanatoriums entpuppt sich als größenwahnsinnige, verrückte Ärztin, die seine Papiere längst besitzt, um die Welt zu beherrschen. Sie hat die Morde einberechnet, um die 3 Physiker als gemeingefährlich für immer im Sanatorium einzuschließen. Diese können am Ende nur noch ihre vorgesehene Rolle als Irre in der zum Gefängnis gewordenen Anstalt weiterspielen.

2A) CHARAKTERISTIK MÖBIUS‘ (MIT BEZIEHUNG ZU SCHWESTER MONIKA + VERANTWORTUNG ALS NATURWISSENSCHAFFTLER)

Die Hauptfigur Johann Wilhelm Möbius ist 40 Jahre alt (S.35), seit 15 Jahren in der Anstalt – was seine Ex-Frau Rose „Unsummen“ gekostet habe – und laut Frl. Dr. v. Zahnd „harmlos“, weltabgewandt und behaupte, dass ihm König Salomo erscheine (S.29, 33).  

Frau Rose habe Möbius als 15-jährigen Gymnasiasten kennengelernt, dem armen „Waisenbub“ das Abitur ermöglicht „und später das Studium der Physik“ (S.33f.). An seinem 20. Geburtstag heirateten sie. Er schrieb seine „Dissertation über die Grundlagen einer neuen Physik“ (S.64) bei Prof. Scherbert (S.52). Möbius sei „sein bester Schüler“ und „immer ein toller Spaßvogel gewesen“ (S.52). Möbius hat das Problem der Gravitation gelöst, die einheitliche Feldtheorie (die Weltformel) und das System aller möglichen Erfindungen entdeckt (S.68f.). Deshalb halten Newton und Einstein ihn im II. Akt „für den größten Physiker aller Zeiten“ (S.64,68).

Zu Beginn tritt Möbius als „etwas unbeholfener Mensch“ (S.35) auf, als Frau Rose sich – von Gewissensbissen geplagt – samt 3 Kindern (14-16 Jahre alt, S.36f.) und neuem Mann (Missionar Rose) von ihm verabschieden will.

Er spielt vor ihnen den Irren, weiß angeblich nichts von der Scheidung und sorgt mit einem gespielten Tobsuchtsanfall (Pervertierung Salomonischer Psalmen, S.40ff.) und der Beschimpfung seiner Familie für einen Eklat. Schwester Monika gesteht er, dass sein Anfall geplant war. Er „musste die Wahrheit sagen“ (S.43) und den Irren spielen, um auf diese „humane“ – laut Schwester Monika jedoch „schreckliche“ – „Weise“  Abschied zu nehmen: „Meine Familie kann mich nun mit gutem Gewissen vergessen“ (S.44).

BEZIEHUNG ZU SCHWESTER MONIKA

Zunächst verhält er sich ihr gegenüber noch recht distanziert und sagt, Salomo habe ihm das System aller möglichen Erfindungen offenbart. Die letzten Seiten seien diktiert. Er handle planmäßig, da er Physiker sei (S.44). Als er erfährt, dass sie ihn auf Befehl der Ärztin verlassen muss, ist er niedergeschlagen und gesteht ihr: Er „verlernte es, Gefühle auszudrücken“, sei „stumm, auch innerlich“ (S.45). Alles sei besser geworden, seit er sie kenne. Er sei nicht verrückt, aber ihm erscheine König Salomo.

Schwester Monika will ihm alles glauben, weil sie ihn liebt, an ihn glaubt und weiß, dass er nicht krank ist. Möbius rät ihr, die Anstalt zu verlassen: „Ich liebe Sie mehr als mein Leben. Und darum sind Sie in Gefahr. Weil wir uns lieben“ (S.47). Er gelte in der Welt als verrückt. Salomo lasse ihn lebenslang dafür büßen, dass er seine „Erscheinung nicht verschwiegen“ (S.49) habe.

Monika jedoch will mit ihm schlafen, Kinder von ihm haben und nur für ihren Geliebten da sein (S.50). Auch Möbius liebt sie, „das ist ja das Wahnsinnige“ (S.50). Er sei ihrer Liebe unwürdig, aber Salomo treu geblieben. Monika wirft ihm jedoch vor, sie und auch König Salomo zu verraten. Er büße, da er sich für „seine Offenheit nicht eingesetzt“ habe (S.50). Sein Weg müsse aus der Anstalt in die Öffentlichkeit, nicht in die Einsamkeit, sondern in den Kampf führen, auch bei Spott, „Unglauben und Zweifel“ (S.52) Als Sie ihm sagt, dass sie mit Erlaubnis der Ärztin in Freiheit heiraten könnten, Prof. Scherbert schon informiert sei, und ihm seine Manuskripte gibt, erdrosselt er sie „mit Tränen in den Augen“ (S.53). In II,1 bereut er den Mord, behauptet jedoch vor der Ärztin, König Salomo habe es befohlen (S.58). Als er vom Inspektor wegen seiner Tat seine Verhaftung fordert, lehnt dieser mit dem Hinweis auf seinen ‘Auftraggeber’ Salomo ab.

VERANTWORTUNG ALS NATURWISSENSCHAFFTLER

Newton und Einstein outen sich in II,3 als Geheimagenten und wollen Möbius für sich gewinnen. Dieser will aber im Irrenhaus bleiben („Ich bin mit meinem Schicksal zufrieden“, S.68) Newton sagt, dieser sei „ein Genie und damit Allgemeingut“. Er habe „die Pflicht, die Tür auch uns aufzuschließen, den Nicht-Genialen“ (S.68) Möbius widerspricht, da die Anwendung seiner Feldtheorie und Gravitationslehre verheerende Folgen hätte und unvorstellbare Energien freigesetzt würden, falls seine „Untersuchung in die Hände der Menschen fiele“ (S.69). Die 2 Physiker seien in ihrem System (Ost und West) nicht frei, da sie für die Landesverteidigung tätig seien und von Politikern ausgenutzt würden. Risiken wie „der Untergang der Menschheit“ dürfe man nicht eingehen. Da die Veröffentlichung seiner Forschungen den „Umsturz unserer Wissenschaft“ (S.73) und den Zusammenbruch der Wirtschaft zur Folge gehabt hätte, habe er auf Karriere und Industrie verzichtet, seine Familie im Stich  gelassen und „die Narrenkappe“ (S.74) gewählt, um ins Irrenhaus gesperrt zu werden.

Sie seien an die Grenze des Erkennbaren gestoßen und hätten das Ende ihres Weges erreicht, aber die Menschheit sei noch nicht soweit. Der gewaltige Rest bleibe Geheimnis, dem Verstande unzugänglich. Ihre Wissenschaft sei schrecklich geworden, ihre Forschung gefährlich, ihre „Erkenntnis tödlich“ (S.74). Es gebe für Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Er habe sein Wissen zurückgenommen (S.74). Er habe schrecklicherweise „getötet, damit nicht ein noch schrecklicheres Morden anhebe“ (S.75). Nur im Irrenhaus seien sie noch frei.

Gerade dies entpuppt sich in II,4 als Illusion, da Frl. Dr. v. Zahnd die von Möbius vor Eintreffen der Polizei verbrannten Manuskripte längst kopiert und damit einen mächtigen Trust aufgebaut hat. Sie stellt fest, dass alles Denkbare einmal gedacht wird (S.82). Die 3 Physiker hat sie völlig manipuliert („Ihr wart bestimmbar wie Automaten und habt getötet wie Henker“, S.84). Jetzt erkennt auch Möbius: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ (S.85).

Am Schluss bleibt ihm – wie Newton u. Einstein – nur die Rolle als Irrer in der zum Gefängnis gewordenen Anstalt. Möbius nimmt nun die Rolle Salomos an, der einst „reich, weise und gottesfürchtig“ (S.86) gewesen sei. Aber seine Weisheit habe seine Gottesfurcht und seinen Reichtum zerstört. Nun seien die Städte tot, es bleibe nur die „radioaktive Erde“ (S.87).  

2B) KRITISCHE STELLUNGNAHME ZU MÖBIUS‘ VERHALTENSWIESEN UND ANSICHTEN

Möbius kann durchaus als „mutiger Mensch“ im Sinne Dürrenmatts gesehen werden, da er zu seiner Schuld steht, nicht verzweifelt und auf Veränderung hofft, wobei ihm die Sinnlosigkeit dieser Hoffnung bewusst ist. Allerdings hat Möbius seiner Verantwortung als Physiker alle anderen menschlichen Bereiche untergeordnet, so dass er sich eine private Liebe wegen seiner Liebe zur Menschheit nicht leisten kann, auch wenn er sie empfindet, und er bringt Monika paradoxerweise wg. dieser „Liebe“ – wenn auch „mit Tränen in den Augen“ (S.53) – um. Er ist zur unbedingten personalen – notwendigerweise nicht rationalen – Liebe wohl nicht fähig („verlernte es, Gefühle auszudrücken“, „stumm, auch innerlich“, S.45). Schon früh hat er aus ‘Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen’ seine Frau verlassen (S.73). Auch sein gespielter Anfall seiner Familie gegenüber, den er beschönigend als „human“ (S.44), Monika zu Recht aber als „schrecklich“ (S.44) bezeichnet, zeigt seine Defizite im emotionalen Bereich.

Sein widersprüchliches – egozentrisches – Verhalten setzt sich auch im Bereich seines Handelns als verantwortungsbewusster Physiker fort. Seine Ansicht, er könne als Narr im Irrenhaus seine Erfindungen zwar aufschreiben, aber dennoch nur für sich behalten und diese Erkenntnisse für immer vor der Welt verbergen, zeugt nicht gerade von rationalem, logischen Denken oder gar von Weitblick (Auch Schwester Monika hat seine Manuskripte gefunden, S.53). Erst am Schluss erkennt er, dass man sein Wissen nicht mehr zurücknehmen kann.

Monika fordert ihn zu Recht auf, öffentlich für seine Ideen zu kämpfen sowie Spott und „Unglauben“  (S.52) ertragen. „Sein Versuch, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern“, sagt Dürrenmatt zu Recht (Anhang, Punkt 18). Zudem erreicht er als planmäßig vorgehender Mensch zufällig das Gegenteil seines Zieles, und somit nimmt das Drama die schlimmstmögliche Wendung (Punkt 4 und 9), d.h. seine Erfindungen geraten in die Hände einer größenwahnsinnigen Irrenärztin.

Es stellt sich – nicht nur aus heutiger Sicht – auch die Frage, ob die ungeheuren Erfindungen zwangsläufig zum Untergang der Menschheit führen müssen. Die Tatsache, dass die politischen Systeme in Ost und West die Atombombe besitzen, hat gerade ihre Anwendung (bisher) und die Aneignung von Massenvernichtungswaffen durch größenwahnsinnige Diktatoren verhindert. Möbius’ Fortschrittspessimismus würde letztlich jeden wissenschaftlichen Fortschritt verhindern.

Schließlich ist auch die von Möbius behauptete Zwangsläufigkeit seines Mordes an Schwester Monika infrage zu stellen, da die Bedrohung der Welt durch Ausbeutung seiner Erfindung (durch wen?) weder zwangsläufig noch konkret drohte, sondern Ausdruck seines pessimistischen Menschenbildes ist.

3. INWIEFERN „TRAGIGKOMÖDIE“? – MIT A) GROTESKEN, B) PARADOXEN ELEMENTEN, JE 2 BEISPIELE

Nach Dürrenmatt setze die Tragödie Schuld, Not, Übersicht und Verantwortung voraus, was es für den zum Objekt gewordenen heutigen Menschen, der keine Entscheidungsfreiheit mehr habe, angesichts undurchschaubarer Verhältnisse u. Machtkonstellationen nicht mehr gebe. Das Tragische allerdings sei noch immer möglich, hänge jedoch ganz eng mit dem Komischen zusammen, das allein die heutigen Verhältnisse angemessen darstellen könne. Die Komödie schaffe Distanz und ermögliche dem Zuschauer, seinen kritischen Verstand zu gebrauchen. Zugleich manifestiere sich durch das Lachen die Freiheit des Menschen. Auch „Die Physiker“ ist eine Tragikomödie in diesem Sinne, was sich an dessen zahlreichen grotesken u. paradoxen Elementen zeigen lässt:

3A) GROTESK (VERBINDUNG VON LÄCHERLICHEM (HARMLOSEM) UND SCHRECKLICHEM)

1. Beruhigung der ‘Mörder’ Newton und Einstein mit Klavier und Schach spielen ist wichtiger als polizeiliche Vernehmung (S.17), 2. Newton meint, dass „der Teufel los“ (S.21) wäre, wenn Einstein erführe, dass Newton in Wahrheit Einstein sei. (3. Newton nennt Einsteins Geigenspiel „barbarisch“ (S.21). Die schrecklichen Morde erscheinen als nebensächlich. 4. Frau Rose nennt ihren Mann zärtlich „Johann Wilhelmlein“, obwohl sie ihn endgültig verlassen will (S.32). 5. Die gespielte ‘Verbrüderung’ des Inspektors mit dem ‘verrückten Mörder’ Newton („Aber Albert“, S.22).)

3B) PARADOX (WIDERSPRÜCHLICHES, UMKEHRUNG DES GEWOHNTEN)

Nach Dürrenmatts 21 Punkten (P) ist die Wirklichkeit, das Dramatische und besonders ein Stück über Physiker und deren Verhalten paradox (P 11-14, 19f.): Es gibt zahlreiche Paradoxien: 1. Der ‘gesunde’ Inspektor fragt sich: „Bin ich eigentlich verrückt?“ (S.17); 2. Der ‘verrückte’ Newton bezeichnet den Inspektor, der sich auf dessen Schizophrenie einlässt, als „vertrottelt“ (S.30). 3. Der Inspektor freut sich, dass er einen Mörder nicht zu verhaften braucht (S.60). 4. Die Irrenärztin ist selbst verrückt (S.82). 5. Mord ist „Unglücksfall“ (S.16); 6. Möbius fordert sie auf einzusehen, dass sie verrückt ist (S.83). 7. Oberpfleger pflegen nicht, sondern üben Zwang, Unterdrückung aus (S.79ff.). 8. Liebe führt zum Tod (S.77). 9. Klassische Musik: Begleitung von Morden statt Ausdruck von Schönheit, Innerlichkeit (S.21).)

4A) KRITIK AN SCHWESTER MONIKA IN IHRER „DOPPELROLLE“ ALS FRAU ROSE

Monika Stettler ist nicht nur Krankenschwester, sondern auch die von Möbius begehrte Frau mit einer gewissen erotischen Ausstrahlung. Frau Rose dagegen ist als dreifache Mutter sicher älter und sehr besorgt um ihr „Johann Wilhelmlein“ (S.32). Möbius spielt seiner Frau einen ‘Anfall’ vor, damit sie sich guten Gewissens endgültig von ihm trennen könne. In der Aufführung am 21.2.08 im Kölner „Horizont Theater“ ist Schwester Monikas Sexappeal allerdings sehr begrenzt. Durch ihre ‘Doppelrolle’ und Umfunktionierung dieser Szene als „Therapiesitzung“ fehlt zudem Möbius’ kalte Brüskierung seiner Familie. Es bleibt unklar, wie sein Verhalten und das gespielte (oder echte?) Entsetzen der ‘Therapeutin’ – therapeutisch und/oder im Sinne des Dramas? – zu bewerten ist. Der Zuschauer wird meines Erachtens durch diese Änderung eher irritiert und von den geplanten wichtigen Irritationen Dürrenmatts abgelenkt.

4B) KRITIK AN DARSTELLUNG VON KOMMISSAR VOß DURCH EINE FRAU

Im Stück verkörpert der Inspektor die ‘normale’ bürgerliche Ordnung. Anfangs tritt er wie ein damaliger typischer ‘männlicher’ Kommissar auf, der Anweisungen erteilt, die zu befolgen sind („Jawohl“, „zu Befehl, Herr Inspektor“, S.15-24). „Er brüllt“, stampft auf den Boden“ (S.17,23) wenn ihm etwas missfällt. Deshalb gerät sein Auftreten im Sanatorium so komisch, da er sich dort anderen Spielregeln beugen muss („Unglücksfall“ statt Mord, S.16). Geradezu grotesk ist seine gespielte ‘Verbrüderung’ mit dem ‘Mörder’ Newton („Aber Albert“, S.22) Vor seinem Abgang nach dem 2. Mord schlüpft er wieder in seine alte Rolle, da er der Ärztin unmissverständlich klarmacht, dass der Staatsanwalt „kategorisch“ Pfleger als Betreuer verlange, und spricht drohend die Erwartung aus, „nicht noch einmal aufzutauchen“ (S.29). Sein erneuter, radikaler Rollenwechsel im II. Akt (Freude, dass die Gerechtigkeit Ferien macht, S.60) wirkt daher umso paradoxer und komischer.

Eine Kommissarin bei o.a. Aufführung entspricht zwar heutigen Krimis. Dadurch geht jedoch meines Erachtens ein Teil des komischen Effekts verloren, zumal die Schauspielerin für mich nicht sehr ‘energisch’ auf- und abtritt (s.o.). Auch die ‘Verbrüderungsszene’ zwischen Newton und der Kommissarin verfehlt so z.T. die beabsichtigte komisch-groteske Wirkung.  

5. GERHARDT HAUPTMANN: VOR SONNENAUFGANG (1889)

AUFGABE: ANALYSIEREN SIE DEN SZENENAUSSCHNITT

(S. 60-67 ENDE) DES III. AKTES(AHR)

Schüler/-in

1. benennt äußere Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit, Spielort und –zeit, Thema) und bezeichnet das soziale Drama als literarischen Durchbruch des Naturalismus in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts.

2. gibt die Ausgangssituation (Vorgeschichte und Thematik) der vorliegenden Szene wieder:

Loth besucht Jugendfreund Hoffmann wegen sozialer Milieustudie im Bergbau; trotz gemeinsamer früherer Ideale ist Hoffman jetzt skrupelloser Geschäftsmann, hat in eine reiche Bauernfamilie eingeheiratet; geistige Annäherung zwischen Loth und Helene, die dem Neffen von Bäuerin Krause versprochen ist, diesen aber verabscheut;

Helene ist bestürzt über häusliche Missstände und verhindert Entlassung der Magd Marie wegen Unzucht, da sie Frau Krause droht, ihr inzestuöses Verhältnis mit Helenes Verlobten Kahl aufzudecken.

Thema: Nach Gespräch mit Dr. Schimmelpfennig versucht Hoffmann, Helene zu verführen und nach dessen Scheitern, Loth schlecht zu machen.

3. beschreibt den Aufbau des Textauszuges, z.B.

Dr. Schimmelpfennig rät Hoffmann, Kind von der Mutter zu trennen und Helene zur Erziehung zu übergeben. Helene, die u.a. wegen des Inzestvorfalls und Frau Krauses Doppelmoral weint, wird von Hoffman zuerst getröstet, dann zu verführen versucht.

Helene wehrt sich schließlich empört gegen Hoffmann Zudringlichkeit und sagt, dass sie seine Hinterhältigkeit jetzt durchschaue.

Hoffmann nennt sie wahnsinnig, und als er von Helenes Gespräch mit Loth erfährt, behauptet er, dass Loth ein gefährlicher Schwärmer sei, der vernünftige Leute verwirre und über Leichen gehe.

4. erklärt  die Bedeutung dieser Szene für den weiteren Handlungsverlauf, z.B.  

Helene verteidigt Loth energisch trotz Hoffmanns Verleumdungen und lobt ihn über alle Maßen, was bereits ihre Gefühle für Loth andeutet, die in ein Liebesgeständnis als dramatischen Höhepunkt im III. Akt münden und zur Katastrophe im V. Akt führen.

Helene schafft es nicht, Loth über den Alkoholismus in ihrer Familie aufzuklären, aus Angst, er werde sie verlassen. Der bei den einsetzenden Wehen von Frau Hoffmann, Helenes Schwester, herbeigerufene Arzt Dr. Schimmelpfennig klärt Loth über Degeneration der Witzdorfer und Alkoholismus der Bauernfamilie Krause auf. Loth beendet Beziehung zu Helene, da er an Vererbbarkeit von Alkoholismus glaubt und die Gesundheit potentieller Kinder mit Helene gefährdet sieht. Loth schreibt Abschiedsbrief an sie und verlässt sofort den Hof.

Als Helene Hoffmann mitteilen will, dass sein Kind tot geboren wurde, entdeckt sie Loths Abschiedsbrief u. begeht Selbstmord.

5. erläutert Figurenkonzeption und –konstellation der vorliegenden Szene (Interpretation), z.B.

herablassendes, kaltes Auftreten von Dr. Schimmelpfennig, der Hoffmanns Fragen nach Geburtsverlauf ausweichend beantwortet, Rezept verschreibt und Frau Hoffmann auf ihre Verantwortlichkeit hingewiesen hat (nur wg. Schnürens, 61, Alkohol = Tabuthema), Hoffmanns bange Frage nach Schicksal des Fötus beantwortet Dr. Schimmelpfennig mit Rat, Mutter + Kind zu trennen (Helene als Erzieherin); Hoffmanns Einwand (Helene = „unerfahrenes junges Ding“, S. 62), lässt Dr. Schimmelpfennig kalt. Gegenseitige, geheuchelt überfreundliche Verabschiedung;

Helene kommt schluchzend und verzweifelt herein, dann auch Hoffmann, der ihr dies Verhalten vorhält; Helene wirft ihm Unwissenheit und mangelnde Sensibilität vor. Als Hoffmann meint, etwas müsse passiert sein, verzweifelter Wutausbruch Helenes; es könne nicht schlimmer sein, Vater sei Trunkenbold und Tier und ehebrecherische Stiefmutter (S.59), die sie mit ihrem Galan verkuppeln wolle; sie wolle fort und nicht trinken wie Schwester, sonst Suizid (Vorausdeutung auf Ende); Hoffmann befiehlt ihr, davon zu schweigen.

Helene lehnt empört ab, sie müsse sich schäme wegen ihrer hoffnungslosen Lage.

Hoffmann umschmeichelt und liebkost Helene, heuchelt Mitleid und biedert sich an (Helene und Hoffmann passten nicht hierher); Helene zerfließt in Selbstmitleid: Wäre sie im Sumpf aufgewachsen, kennte sie nichts anderes; Hoffmann handelt sinnlich, heiß und innig, auch voll Selbstmitleid: er wünsche sich, dass seine Frau (Alkoholikerin!) wie Helene sei; er sei auch unglücklich; sie seien Leidensgenossen und füreinander vorausbestimmt (Determinismus!); Helene duldet Hoffmanns Umschlingung; Helene solle sich um Kind und Hoffmann kümmern;

Hoffmanns weitere Annäherungen wehrt Helene voll Ekel und Hass ab: Er sei als raffinierter Verführer der Schlechteste von allen hier; Hoffmann wirft Helene „helle(n) Wahn“ vor und „sie sei nicht bei Trost“ (S.66); er behauptet, dies sei Folge des Gesprächs mit Loth ;Helene verteidigt ihr Gespräch mit Loth, vor dem sie sich alle schämen müssten. Hoffmmann unterstellt untertreibend, dass Loth („Wohltäter“) Hoffmann verleumdet habe, was Helene gemein findet, da er „kein Sterbenswort“, (S.66 Ende) über Hoffmann, gesagt habe. Hoffmann möchte als Verwandter das so unerfahrene Mädchen (heftiger Widerspruch Helene) aufklären über den höchst gefährlichen Schwärmer Loth, der Weiber (Abwertung) und vernünftige Leute verwirre. Helene nennt dies Verkehrtheit (vgl. S.53), Loth sei „wohltuend klar im Kopf“ (S.67), was Hoffmann scharf zurückweist. Hoffmann habe nicht wie Loth einen Sinn „für Verkehrtes“ (S.67), Hoffmann spielt seine Autorität als älterer Verwandter aus und befiehlt ihr fast, ihm zu glauben: Loth schwärme von sozialistischen Ideen, missachte Sitte und Moral (fehlende Selbstwahrnehmung!), Hoffmann und Loth wären damals wegen dieser „Hirngespinste“ (S.67) über Leichen ihrer Eltern gegangen und Loth täte dies heute noch (tragische Ironie, da falsch und richtig zugleich (rücksichtsloses Verhalten Loths am Ende!).

6. analysiert die sprachlichen Gestaltungsmittel der Szene und deren Wirkungen, z.B.

Fragen Hoffmanns (S.60,65u.) signalisieren Ängste/Empörung; Verniedlichung („Muttelchen“(S.64); „Lenchen“), rhetorische (auch scheinheilige) Fragen Hoffmanns (S.64f., nimmt Helene nicht ernst), viele Ellipsen, Einschübe, unvollendete Sätze, Neubeginn eines Satzes (S.60ff., Unsicherheit, Scheu, etwas auszudrücken, auch: Naturalismus!), emphatische Ausrufe von Hoffmann und Helene (Erleichterung/Empörung, z.T. bei Helene Abwertung/Abscheu), Befehle Hoffmann (S.63,62,65, 63o. = Unentschlossenheit), Aufzählungen (S.64,67), Wiederholungen (S.63f.), (meist zufällige) Alliterationen (S.60ff.,verdecken Disharmonie), Metaphern („Zeit mildert“, S.61; „Tier“, S.63; „ganz andere Waffen“, S.66o., „über seinen Wohltäter herzuziehen“, „Sterbenswort“, „Schwärmer“, S.66f.), ironische Selbstdistanzierung mit Er („seinen Wohltäter“, S.66),  Correctio (S.63u.,65o.,67, Unsicherheit), ironische Untertreibungen („n’bißchen herzuziehen“, „Finde ich beinah auch“, S.66) abwertendes Fremdwort („Galan“, S.63) Hoffmanns Übertreibungen („gefährlicher Schwärmer“, „über … Leichen hinwegeschritten“, S.67); Höflichkeitsfloskeln (S.62, förmlicher Umgangston), wenig Umgangssprache („mitnander“, n’bißchen“, S.66), Ironie („ehrenfeste“, S.66) tragische Ironie („noch heute dasselbe tun“, S.67u.), Correctio (S.63u.,65o.,67), Pleonasmus („Mutter ist doch Mutter“, S.62), Kraftausdrücke („weiß der Himmel“, S.67),

Fazit:  Sprache besonders von Hoffmann zeigt Empörung, Abwertung, Überheblichkeit; bei Helene: große Unsicherheit, aber auch Wut.

7. beschreibt die dramaturgischen Gestaltungsmittel der Szene und erläutert deren Wirkungen (z.B.)

unvollendete Sätze (S.62), Satzneubeginn (S.65), keine Szenen (S.62), Emotionen und Charakterzüge in Regieanweisungen (S.60,62), sozialkritische Perspektive und zeithistorischer Hintergrund (S.67), Emotionen oft durch Stammeln ausgedrückt (S.64); keine Monologe (S.60o.,62u.); Wirkung: sehr natürlich, nicht inszeniert, typisch für naturalistisches Drama; Determinismus („vorausbestimmt“, S.65)  

8. bewertet Drama bezüglich Autorabsicht, Aktualität, Handlungsweise der Figuren im Kontext ökonomischer und sozialer Bedingungen, dramatischer / dramaturgischer Konzeption, sprachlichen Verhaltens der Figuren, z.B.

traditioneller Dramenaufbau (Einheit von Ort, Zeit und Handlung), aber keine Szenengliederung, Zeitsprünge im Akt oder Monologe, kein Beiseitesprechen, „Bote aus der Fremde“(Loth), kein Publikumskontakt (4.Wand), Charakterzüge und Gefühle in Regieanweisungen, schlesischer Dialekt und abgehackte Rede, (=  typisch für Naturalismus);  Darstellung sozialer und politischer Realität;

Sozialistengesetz, soziale Lage der Arbeiter, Bergbau, Wirtschaftsaufschwung zu Lasten sozial Benachteiligter etc.; Drama als wissenschaftlich-psychologisches Experiment, sozialkritische Perspektive ohne mögliche Änderung oder klare persönliche Schuldzuweisungen, Sozialdarwinismus und Determinismus (Willensunfreiheit) durch Erbanlagen und Milieu;  Alkohol, Inzest (= Erbkrankheiten und

familiäre Degeneration); Aktualität nur begrenzt, da Determinismus, Soziobiologie und erblicher Alkoholismus widerlegt sind.

6. G.E. LESSING: EMILIA GALOTTI (1772)

PARODIE VON DIETER HÖSS: EMILIA ODER DIE KUNST JUNGFRAU ZU BLEIBEN (1967)

Heute soll die Hochzeit sein?

Prinz Hettore hört’s verdrossen

Und zum Äußersten entschlossen;

Denn er ist in sie verschossen

Und ein absolutes Schwein.

Auf der Fahrt zum Traukirchlein

Wird der Bräutigam erschossen,

wird die Braut, wiewohl verdrossen,

in sein Lustschloss eingeschlossen,

Und schon denkt er: Sie ist mein!

Doch Emilia bleibt rein,

Und ihr Leib bleibt ungenossen,

unberührt von Fürstenflossen;

denn Papa naht pflichtentschlossen

und ersticht sein Töchterlein.

1. AUFGABE: SZENENANALYSE I,6 (FHR)

1. ÜBERBLICKSINFORMATION

G. E. Lessings bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ (1772) spielt in einem kleinem Fürstentum im Italien des 17. Jh. und handelt von Hettore Gonzaga, Prinz u. unumschränkter Herrscher von Guastalla, der unsterblich in Emilia, die Tochter des Oberst Odoardo Galotti, verliebt ist und sie – wie bisher die Gräfin Orsina – zu seiner neuen Mätresse machen will.

Da diese aber noch heute den Grafen Appiani heiraten soll und beide dann nach Pietmont außerhalb des Machtbereichs des Prinzen ziehen werden, soll Marinelli, des Prinzen rechte Hand, alles tun, um dies zu verhindern. Nachdem sein 1. Plan scheitert, stirbt Appiani während eines von Marinelli inszenierten Überfalls auf die Hochzeitskutsche, und Emilia wird auf das Lustschloss des Prinzen gebracht.

Hier versucht der Prinz erneut, Emilia durch galante, aber verlogene Liebesbeteuerungen für sich zu gewinnen, die Emilia zunächst sehr verwirren. Zwar verweigert sie sich dem Prinzen, fürchtet aber, da sie in das ihr bekannte und für sie lasterhafte Haus des Kanzlers Grimaldi gebracht werden soll, den Verführungskünsten des Prinzen zu erliegen. Daher bittet sie ihren streng moralischen Vater Odoardo, sie mit dem Dolch zu töten, den dieser von Gräfin Orsina zur Tötung des skrupellosen Prinzen erhalten hat. Der Vater erkennt die Ausweglosigkeit der Situation und ersticht seine Tochter, um ihre durch den lüsternen Prinzen bedrohte Unschuld zu retten.

2.1. VORGESCHICHTE VON I,6

Der Prinz erledigt seine Amtsgeschäfte nur widerwillig und willkürlich (I,1). Er ist so sehr in Emilia verliebt, dass er stattdessen ausfahren will. Den Brief seiner Ex-Geliebten Gräfin Orsina legt er ungelesen beiseite, so dass er nicht erfährt, dass sie wegen einer Aussprache mit ihm zum Schloss Dosalo kommen wird.

Als der Maler Conti kommt, findet er das bestellte Portrait der Gräfin Orsina zwar vortrefflich, aber „ganz unendlich geschmeichelt“ (I,4). Vom 2. ‚zufällig‘ mitgebrachten Bild des Malers (Emilias Portrait) ist er so begeistert, dass er ihn verschwenderisch belohnt („so viel Sie wollen!“, I,4).

2.2. ANALYSE VON I,6

Der vom Prinzen herbeigerufene Marchese Marinelli redet den Prinzen zunächst so an („Gnädiger Herr, Sie werden verzeihen.“, S.12, Z.18), wie sich das für einen Untertanen gehört. Auf die Frage des schlecht gelaunten Prinzen, was es Neues gebe, antwortet er ausweichend „Nichts von Belang“ (Z.24) und berichtet, dass die Gräfin Orsina in der Stadt sei. Der Prinz macht mit dem Hinweis auf ihren Brief deutlich, dass er dies schon wisse, u. erklärt, dass er seine „nahe Vermählung mit der Prinzessin von Massa“ (S.13, Z.3f.) erfordere, alle Affären dieser Art „fürs Erste“ zu beenden. Zugleich bedauert er sich wieder selbst, da sein „Herz … das Opfer eines elenden Staatsinteresse“ (Z.9f.) werde.

Nun unterrichtet Marinelli, der „leider“ (S.12, Z.29) der Gräfin Vertrauter sei, den Prinzen darüber, dass neben einer Gemahlin eine „Geliebte noch immer ihren Platz“ (S.13, Z.16f.) fände, aber sie fürchte, wie der Prinz zu Recht vermutet, „einer neuen Geliebten“ (Z.19) geopfert zu werden.

Die rhetorische Frage des Prinzen, ob er ihm das vorwerfe, verneint Marinelli und betont, dass er ihr Anliegen nur „aus Mitleid“ (Z.22) vortrage. „Ihr gefoltertes Herz“ habe „zu den Büchern ihre Zuflucht genommen“, die, so fürchte er, „ihr den Rest“ gäben (Z.28-32). Der Prinz erwidert ungerührt, wenn sie „aus Liebe närrisch wird, so wäre sie es, früher oder später, auch ohne Liebe geworden.“ (S.14, Z.1f.), womit er sie genauso wie Marinelli abwertet und völlig verkennt, dass er selbst vor lauter Liebe zu Emilia im Grunde schon ganz „von Sinnen“ (S.17, Z.8) ist.  

Um von dem heiklen Thema abzulenken, fragt der Prinz Marinelli nach weiteren Neuigkeiten, und dieser teilt nun dem Prinzen auf weiteres Nachfragen mit, „dass die Verbindung des Grafen Appiani heute vollzogen“ werde, was, wie er gehässig hinzufügt, „nicht viel mehr als gar nichts“ sei (S.14, Z.5ff.).  

Denn er sei auf ein hübsches „Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“ hereingefallen, „mit vielem Prunke von Tugend u. Gefühl u. Witz“ (Z.14-17).

Der Prinz missbilligt Marinellis Abwertungen und dessen Abneigung gegenüber Appiani und hebt daher lobend hervor, dass er „ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre sei“, der eher zu beneiden als zu belachen“(Z.20-27) sei, so dass er ihn gerne an den Hof binden würde.

Marinelli weist darauf hin, dass der Graf gar nicht plane, „bei Hofe sein Glück zu machen“, sondern gedenke, in „seinen väterlichen Tälern von Piemont – Gämsen zu jagen … und Murmeltiere abzurichten“. Denn „durch das Missbündnis“ sei ihm „der Zirkel der ersten Häuser … von nun an verschlossen“ (Z.29-35).

Diese erneute Abwertung Appianis empört den Prinzen derart, dass er voller Verachtung von „euren ersten Häusern“ spricht, „in welchen das Zeremoniell, der Zwang, die Langeweile und nicht selten die Dürftigkeit herrschet.“ (S.14, Z.36 – S.15, Z.2). Er will hier seine menschliche Seite zeigen und distanziert sich von seiner eigenen Rolle als Prinz, verkennt jedoch völlig, dass er als Vertreter des Hochadels das steife und dürftige Zeremoniell selbst anordnet.

Nun folgt Marinellis vernichtender Satz, dass Appiani dieses „Opfer“ für „eine gewisse Emilia Galotti“ (Z.3f.) bringe. Wie vom Donner gerührt, versucht der Prinz zu klären, ob nicht eine zufällige Namensgleichheit mit seiner Emilia vorliege. Dabei fragt Marinelli scheinheilig, ob der Prinz sie kenne, was dieser als ungehörig zurückweist („Ich habe zu fragen, Marinelli, nicht Er“, (Z.20). Unbarmherzig beantwortet er die Fragen des Prinzen mit „Ebendie“(Z.23-27), so dass der Prinz in verzweifelte Wut gerät („Henker!“, Z.33). Dann nennt Marinelli noch Einzelheiten über die ach so unbedeutende Hochzeit (Ort der Trauung, Abfahrt der Brautleute etc.), was zeigt, dass er schon Erkundigungen im Hinblick auf einen möglichen Überfall eingeholt hat.

Der Prinz ist nun völlig verzweifelt und will so „nicht leben“ (S.16, Z.6). Er nennt ihn „Verräter“ und gesteht ihm: „Ich liebe sie, ich bete sie an“ (Z.8f.).

Voller Selbstmitleid („ein Fürst hat keinen Freund! kann keinen Freund haben“, Z.14) beschuldigt er seine rechte Hand, „so treulos, so hämisch“ (Z.15) ihn nicht gewarnt zu haben, was er ihm nie vergeben werde. Voller gespielter Entrüstung schwört Marinelli, von dieser Liebe nichts gewusst zu haben und beklagt (diesmal zu Recht!), dass Fürsten keinen Freund hätten, da sie kein Vertrauen in ihre Berater hätten. Erst vertrauten sie ihnen, teilten ihnen auch Intimstes mit und dann täten sie so, als hätten sie nie mit ihnen gesprochen (siehe V,8). Auf diesen Vorwurf gesteht der Prinz, dass er bisher weder sich noch ihr diese Liebe gestanden hätte. Ganz „von Sinnen“ und ein „Raub der Wellen“ bittet er ihn: „Retten Sie mich“ (Z.11).

Sarkastisch erklärt Marinelli, dass er das, was er versäumt habe, Emilia Galotti zu sagen, nun der Gräfin Appiani gestehen müsse, und rät ihm höhnisch, die ‘Ware’ Emilia statt aus der 1., aus der 2. Hand zu kaufen (meist schlechter, aber billiger), was der Prinz empört „unverschämt“ (Z.21) nennt. Dennoch sagt er gleich danach: „Liebster, bester Marinelli, denken Sie für mich.“, Z.24f.), was zeigt, dass er völlig unfähig ist, Autorität auszuüben, sich Marinelli unterwirft u. geradezu kindisch wirkt.

Marinelli lässt sich vom Prinzen eine Blankovollmacht für seine Pläne zur Vereitelung der Hochzeit geben („alles, was diesen Streich abwenden kann.“, S.18, Z.1f.)

und übernimmt sofort die Initiative, was zeigt, dass er bereits alles geplant hat. Er hoffe, es gelinge ihm, „den Grafen augenblicklich zu entfernen“, was auch ‘beseitigen’ heißen kann und glaubt, „er geht in diese Falle“ (Z.6-8), was auf den Hinterhalt hindeutet. Dem Prinzen schlägt Marinelli dann vor, dass er selbst Appiani sofort als Gesandten zur Prinzessin von Massa schicken wolle, was dieser „vortrefflich“ (Z.13) findet und größte Eile befiehlt.

2.3. AUSWIRKUNGEN AUF DIE FOLGENDEN SZENEN

Marinelli hat eine Blankvollmacht vom Prinzen erhalten, mit allen Mitteln die Hochzeit zwischen Emilia und Appiani zu verhindern, so dass er die Hochzeitskutsche überfallen und Emilia auf Schloss Dosalo bringen lässt. Zugleich kann er jetzt den ihm verhassten Appiani beseitigen, ohne dass der Prinz ihn dafür verurteilen kann Dieser ist letztlich den Intrigen gegenüber machtlos und lässt ihn auch gewähren, um später (IV,1 u. V,8) alle Schuld von sich weisen zu können. Die Nichtbeachtung von Orsinas Brief führt dazu, dass ihr Besuch Prinz und Marinelli überrascht, sie Odoardo aufklären und ihm den Dolch geben kann, was die Katastrophe ermöglicht.

Der Prinz bleibt jedoch trotz anfänglicher Euphorie skeptisch gegenüber Marinellis Plänen und versucht, in der „Kirche Allerheiligen“ (I 6,7) sich Emilia zu nähern.  Unbewusst trägt er jedoch dadurch zum Scheitern von Marinellis 2. Plan bei, da Orsina und Claudia dies erfahren und dessen Intrigen durchschauen können.

3. ANALYSE DER SPRACHLICHEN GESTALT VON I,6 UND DEREN WIRKUNG

In I,6 dominiert die unter Adligen übliche galante höfische Sprache, besonders bei Marinelli, die hier aber Unterwürfigkeit, Höflichkeit und Respekt nur vorspielen (S.12, Z.18 „Aber, wenn ich es wieder von einer Dame werde, der es einkömmt, Sie in gutem Ernste zu lieben“, Z.29-31), und Apostrophen / emphatische Beteuerungen (So bin ich verloren; S.16, Z.5f.; Schwur dann gegen Schwur“, Z.21f.), die die Unehrlichkeit zwischen Prinz und Marinelli nur verdecken sollen. Die vielen Ellipsen („Eben die“, S.15, Z.23-27), d.h. abgehackte, verkürzte Sätze, unterstreichen, dass Vieles unausgesprochen bleibt.   

Wiederholungen („aber nicht Emilia Galotti, nicht Emilia“, S.15, Z.10f.; „Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben“, S.16, Z.30f.) und Aufzählungen  (S.14, Z.24-26 u. S.15, Z.1f.) verdeutlichen die Intensität der Gefühle ebenso wie Epiphern (S.17, Z.13 u. 14f.) und Anaphern, die zugleich zeigen, wie wichtig die Personen sich nehmen (Ich, S.12, Z.18,20; S.14, Z.26f., S.16, Z.5f.; S.13, Z.24f.). Viele übertriebene Abwertungen Marinellis („Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“, S.14, Z.14; „lächerlichsten Possen“, S.13, Z.30), aber auch Aufwertungen des Prinzen („ein sehr würdiger junger Mann“ etc., S.14, Z.24f.) demonstrieren, wie wenig Gemeinsamkeiten beide haben. Auch Beschönigungen („entfernen“ für töten, S.18, Z.7) und religiöses Vokabular („Schwur dann gegen Schwur“, „Engel“, „Heiliger“, S.16, Z.21-24) sollen die wahren Absichten bzw. Lügen Marinellis verschleiern. Beim Satzbau dominieren Hauptsätze und Ellipsen, da beide meist Ansichten äußern, die sie als Tatsachen ausgeben.

Rhetorische Fragen zeigen, dass beide nicht wirkliche Fragen stellen, sondern scheinheilig und herablassend miteinander umgehen („Ja, in der Tat, Prinz?“, S.13, Z.1; „Kennen Sie denn diese Emilia?“, S.15, Z.18f.; „Diese? Diese Emilia Galotti?, Z.29f.) bzw. sich selbst etwas vormachen. Das Gleiche gilt für echte, aber auch unfreiwillige Ironie („nicht viel mehr als gar nichts“, S.14, Z.7; „dieses so große Opfer“, S.15, Z.3; „Wenn sie aus Liebe närrisch wird, so wäre sie es, früher oder später, auch ohne Liebe geworden.“, S.13, Z.36- S.14, Z.2). Zahlreiche meist abwertende Metaphern („Missbündnis“, S.14, Z.33; „Händel“, S.13, Z.5; „Waren“, S.17, Z.15) verdeutlichen die negative Einstellung beider zu unter ihnen stehenden Personen. Correctiones (S.18, Z.14; S.13, Z.22f.) zeigen, wie sehr die Personen nach den richtigen Worten ringen. Kraftausdrücke des Prinzen („sprich dein verdammtes „eben die“ noch einmal“, S.15, Z.30-33, „Henker“) unterstreichen, dass er aus der Rolle fällt und vulgär wird.  Die Alliterationen (Gemahlin, Geliebte (S.13, Z.14-19; „ganz gelassen“, „gleichgültigsten Gespräche“, Z.25f.; „geheim gehalten“, S.14, Z.10) klingen gut, der Wohlklang soll aber verdecken, wie sehr die Gräfin verletzt ist und dass es alles andere als geheim ist.  

4. VERGLEICH DER FIGUR DES PRINZEN IM DRAMENTEXT MIT DER AUFFÜHRUNG VOM 24.02.2013

Der Prinz erledigt seine Amtsgeschäfte als Herrscher nur sehr lustlos, unentschlossen, verantwortungslos und willkürlich (I,1,4,6,8), fällt aus seiner Prinzenrolle (I,1,8), ist diesem Amt nicht gewachsen und geht verschwenderisch mit dem Geld seiner Untertanen um (I 4). Er leidet unter extremen Gefühlsschwankungen (I,6; IV,1), wirkt oft kindisch und naiv und ist Marinellis Intrigen nicht gewachsen. Er ist einsam, hat keine Freunde, ergeht sich in Selbstmitleid (I,6; V,8), bewundert jedoch Odoardo und Appiani obwohl (oder weil?) sie ganz anders sind als er (I,4, 6). Der Prinz beherrscht jedoch die galante, höfische Sprache und kann auch selbstbewusste Frauen wie Orsina betören. Nur selten wirkt er stark und selbstbewusst, entsprechend seiner Herrscherrolle. Er ist jedoch auch skrupellos, verlogen und sarkastisch (IV,1; V,5)  

In der Theateraufführung am 24.02.13 werden seine lustlose, unentschlossene, verantwortungslose und willkürliche Amtsführung, seine Verschwendungssucht und sein Selbstmitleid sowie seine infantilen Gefühlsschwankungen nicht oder zu wenig deutlich, womit wesentliche Elemente der damaligen Fürstenkritik des Dramas wegfallen.  

Dafür wird seine herrische, gewalttätige Art bes. gegenüber Marinelli überbetont, was sicher zu Recht seine Verantwortlichkeit für alle Verbrechen im Sinne Orsinas („Der Prinz ist ein Mörder“, IV 5) hervorhebt. Auch wird hier seine perfide, scheinheilige, scheinbar herrschaftlich-milde Art gegenüber Odoardo gut sichtbar (V 5).

5. STELLUNGNAHME ZU KÜRZUNGEN GEGENÜBER DRAMENTEXT UND ZUR AUFFÜHRUNG ALLGEMEIN

Die durchaus sinnvolle Verkürzung der Spieldauer auf 100 Minuten wird u.a. dadurch erreicht, dass die Trennung in Akte und Auftritte weitgehend aufgehoben wird und neue Personen die zentrale Drehscheibe betreten, um die nächste Szene anzukündigen. Erst wenn die Drehscheibe stoppt, beginnt der nächste Auftritt.

Dies und die schlechte Akustik erschweren das Verständnis des Dramas, besonders ohne vorherige Lektüre. Einige Auslassungen (Appiani: „fromme Frau“, „nicht stolz“; Schlusssatz des Prinzen etc.) sind unnötig, besonders aber Odoardos angedeuteter Sexualakt mit Orsina (zu Lasten dessen Wertschätzung) und Emilias Nacktheit in Gegenwart ihres Vaters am Ende. Dies verdrängt, dass die Familie Galotti streng religiös-moralisch ist und Emilia stirbt, um ihre Unschuld vor dem lüsternen Prinzen zu retten. Wobei natürlich die sexuell-erotische Wirkung des Prinzen auf Emilia durchaus verdeutlicht werden sollte, aber nicht zur Effekthascherei, sondern zur Verdeutlichung der Tragik dieses bürgerlichen Trauerspiels. Diese besteht darin, dass Bürgertum bzw. niederer Adel der intriganten Willkür des Herrschers ausgeliefert sind, so dass ihnen nur noch Tod bzw. Selbstmord bleibt. Klassische Dramen müssen zeitgemäß inszeniert werden, aber nicht auf Kosten zentraler Aspekte des Dramas.   

„Emilia Galotti“ ist auch heute noch aktuell (Ehrenmord, Unfähigkeit der Herrschenden, Herrschaft durch Sprache) und bei sensibler Inszenierung zeitlos.

6. KRITISCHE STELLUNGNAHME ZU DEN HAUPTINTENTIONEN DES AUTORS IN I,6 UND GEGENWARTSBEDEUTUNG

Lessing zeigt in I,6 einen absoluten Herrscher, der – wie so viele Fürsten in der damaligen Zeit – charakterlich völlig ungeeignet für dieses verantwortungsvolle Amt ist. An seinem Amtssitz beschäftigt er sich während seiner Dienstzeit ausschließlich mit seinen Mätressen und verabscheut alles, was nun mal damals zu den Amtspflichten eines Fürsten gehört (höfisches Zeremoniell, Heirat aus staatspolitischen Gründen etc.). Er ist unfähig oder nicht willens, den verbrecherischen Intrigen seines Kammerherrn Marchese Marinelli zu widerstehen, und gibt ihm in Kenntnis dessen Verlogenheit und krimineller Energie eine Blankovollmacht, um die Hochzeit mit allen Mitteln zu verhindern, ein klarer Fall von Amtsmissbrauch. Der Prinz ist dermaßen psychisch labil, dass man sich fragt, ob das Volk nicht besser diejenigen, die die Geschicke eines Landes bestimmen, selbst wählen sollten, da die adlige Geburt keine Garantie für vernünftiges Handeln bietet. Auch heute sind in vielen Ländern der Welt Menschen an der Macht, die mehr an ihre Privatinteressen denken und charakterlich völlig ungeeignet sind. Nur in einer Demokratie kann man solche Personen abwählen.

2. AUFGABE: SZENENANALYSE II,4 (FHR)

1. VORGESCHICHTE VON II,4

Der Prinz ist unsterblich in Emilia verliebt, die aber noch heute den Grafen Appiani heiraten soll. Daher soll Marinelli alles tun, um dies zu verhindern. Bevor dessen 1. Plan scheitert, Marinelli noch heute als Gesandten des Prinzen wegen dessen bevorstehender Hochzeit zur Prinzessin nach Massa zu schicken, wird bereits der 2. Plan – der Überfall auf Emilias und Appianis Hochzeitskutsche – vorbereitet.

Odoardo besucht seine Frau Claudia in ihrem Stadthaus in Guastalla und ist besorgt, dass Emilia „ganz allein“ (II,2) in der Kirche ist.

2. ANALYSE VON II,4

Odoardo meint, dass ihm Emilia „zu lang“ (S.24, Z.31) ausbleibe, und will gehen, da er Graf Appiani noch besuchen möchte und es kaum erwarten könne „diesen würdigen jungen Mann“ seinen „Sohn zu nennen. Alles entzückt mich an ihm. Und vor allem der Entschluss, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben“ (S. 25, Z.2-5). Hier zeigt sich Odoardos tragischer Charakterfehler, seine Voreiligkeit und Ungeduld, ohne die er von Emilias Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche erfahren und den Überfall auf die Hochzeitskutsche hätte verhindern können. Zugleich wird deutlich, dass er und später auch Appiani (II,7) sich gegenseitig viel höher schätzen als Emilia.

Claudia jedoch klagt darüber, dass ihr die Hochzeit das Herz breche, da sie „diese einzige geliebte Tochter“ (Z.7f.) durch Emilias Wegzug ganz verlören (Sie verwendet zwar die Mehrzahl, beklagt aber in Wirklichkeit nur ihren Verlust). Dies zeigt einmal ihre starke Bindung an Emilia und ihre Befürchtung, dass sie dann wohl wieder zu Odoardo nach Sabionetta aufs Land ziehen muss.  

Empört weist er dies zurück, da er „sie in den Armen der Liebe“ (Z.9f.) weiß. Sie solle ihr eigennütziges Vergnügen nicht mit Emilias Glück vermischen, um nicht seinen „alten Argwohn“ (Z.11f.) zu erneuern, dass er ihr mehr um städtische Zerstreuung u. Unterhaltung und die Nähe zum Hof gehe als um Emilias „anständige Erziehung“ (Z.12-15). Vorwurfsvoll fügt er hinzu, dass sie beide bis jetzt so fern von dem sie so herzlich liebenden Vater u. Manne lebten.

Geschickt entkräftet Claudia seine Vorwürfe mit dem Gegenvorwurf „wie ungerecht“ (Z.18) und weist darauf hin, dass erst die seiner „strengen Tugend so verhasst(e)“ „Nähe zum Hof“ (Z.19f.) die Liebe zwischen Emilia und Appiani ermöglicht habe. Odoardo gesteht dies zu, aber der glückliche Ausgang beweise nicht, dass sie mit „dieser Stadterziehung“ (Z.26) Recht gehabt habe. Odoardo ist froh, dass sie auf dem Lande nun „Unschuld u. Ruhe“ finden könnten. Dann nennt er als Alternative die Verwerflichkeiten einer höfischen Karriere: „Sich bücken, schmeicheln und kriechen, und die Marinellis auszustechen suchen? um endlich ein Glück zu machen, dessen er nicht bedarf?“ (Z.30-32). Zudem sei Appiani beim Prinzen durch diese Heirat endgültig in Ungnade gefallen, da der Prinz ihn (Odoardo) hasse.  

Hier werden die unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen der beiden und ihre Ansichten zum höfischen Leben deutlich. Für den überaus tugendhaften Odoardo ist der lärmende Hof der Inbegriff des Lasters. Nur auf dem Lande könne man anständig und in Frieden leben. Claudia dagegen will für ihre Tochter einen angesehenen, adligen Mann finden und liebt durchaus die glanzvollen Feste und den höfischen Pomp.

Claudia widerspricht der angeblichen negativen Einstellung des Prinzen gegenüber Odoardo und berichtet voller naivem Stolz von der Begegnung des Prinzen mit Emilia auf der Vegghia beim Kanzler Grimaldi. Der Prinz habe sich „so gnädig“ und „so lange“ mit Emilia unterhalten, sei „bezaubert“ „von ihrer Munterkeit und ihrem Witz“ gewesen und habe „von ihrer Schönheit mit so viel Lobeserhebungen gesprochen“ (S.26, Z15-22).

Voller Entsetzen wiederholt Odoardo ihre Worte, um ihr dann Dummheit und Eitelkeit vorzuwerfen. Die Zuneigung des Prinzen zu Emilia sieht er als mögliche perfide Rache des Prinzen an ihm für seinen Widerstand gegen dessen Gebietsansprüche auf Sabionetta (I,4).

Wieder erfasst ihn die Wut und er geht überhastet fort, obwohl er bei nüchterner Überlegung mit Claudia über seine Befürchtungen hätte sprechen und vielleicht auch Emilias Rückkehr hätte abwarten sollen. Seine überhasteten Handlungen aus seiner Wut heraus machen ihn im V. Akt unfähig, die Intrigen Marinellis und des Prinzen zu durchschauen und sich ihm auch als Untertan zu widersetzen, was schließlich zum tragischen Ende führt.

3. AUSWIRKUNG AUF DIE FOLGENDEN SZENEN

Emilia kommt kurz nach Odoardos Weggang ganz verängstigt zur Mutter und berichtet von ihrer Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche.  

Die Mutter ist zwar empört, rät Emila aber, Appiani nichts davon zu erzählen und der galanten Sprache des Prinzen keine Bedeutung beizumessen. Vielleicht beeinflusst das auch Emilias Verhalten gegenüber dem Prinzen, als sie nach dem Überfall auf die Hochzeitskutsche ‘zufällig’ auf Schloss Dosalo gebracht wird. Erst als der Prinz zudringlich wird, wehrt sie sich energisch. Auch Claudia begreift erst zu spät, welch kriminelle Machenschaften bei Hofe herrschen. Odoardo kommt erst als Letzter zum Lustschloss, kann aber seine Vorhaben, den Prinzen zu töten und/oder Emilia mit sich zu nehmen, aus Naivität und Hilflosigkeit gegenüber den Intrigen der Herrschenden und aufgrund seiner Untertanenmentalität nicht verwirklichen und tötet stattdessen seine Tochter, um ihre Unschuld zu bewahren.

4. ANALYSE DER SPRACHLICHEN GESTALT VON II,4 UND DEREN WIRKUNG

In II,4 dominiert durchaus eine gehobene, höfische Sprache, da die Galottis dem niederen Landadel angehören, aber sie reden ehrlich und respektvoll miteinander, ohne jede Ironie. („Es würde sie schmerzen, deines Anblicks so zu verfehlen“, S.24, Z.32f.). Deshalb verwenden beide auch weniger rhetorische Figuren als z.B. Prinz und Marinelli.

Apostrophen/emphatische Beteuerungen („Alles entzückt mich an ihm“, S.25, Z.3; Ha! wenn ich mir das einbilde“ … „der bloße Gedanke setzt mich in Wut“, S.26, Z.27-31) und viele Wiederholungen und Ellipsen („Wie ungerecht, Odoardo“, S.25, Z.18; „Der Prinz? Und wo das?“, S.26, Z.11) zeigen Odoardos, aber auch Claudias Erregung bzw. Empörung, wobei Vieles unausgesprochen bleibt. Odoardos Aufzählungen auf S.25 (Z.2, 7, 12ff.) verdeutlichen die Intensität seiner Gefühle und seiner Argumentation ebenso wie Anaphern (S.25, Z.21f., Z.25f. fast wörtliche Wiederholung; Z.28f., Z.32f.).  

Zahlreiche echte Fragen von Odoardo zeigen, dass er das Verhalten von Claudia bzw. vom Prinzen fragwürdig findet („Was nennst du, sie verlieren? Sie in den Armen der Liebe zu wissen?“, S.25, Z.9f.). Seine rhetorischen, also unechten Fragen (Was sollte der Graf hier? Sich bücken, schmeicheln und die Marinellis auszustechen suchen?“, Z.30-32) sollen verdeutlichen, dass seine Position die einzig Richtige ist.

Auf- u. abwertende Metaphern(Metonymie), meist auch Personifikationen („in den Armen der Liebe, S.25, Z.9f.; „das Geräusch und die Zerstreuung der Welt“, Z.12f.; „wohin Unschuld u. Ruhe sie rufen“, Z.30; „deiner strengen Tugend sie verhasst“, Z.20) verdeutlichen die übertriebenen  Vorstellungen Odoardos über die Heirat und das Landleben bzw. die negative Einstellung beider zu unter ihnen stehenden Personen.

Die Alliterationen („sich selbst“, S.25, Z.5; „sie so“, S.26, Z.14; „bewundert, begehrt“, Z.30) sind recht selten und eher zufällig, da ein Wohlklang nicht zu diesem ernsten Gespräch passt. Odoardos Schlusssatz („Kommt glücklich nach“, S.26, Z.36) ist eine tragische Ironie, da der Zuschauer schon ahnt, dass sie wohl eher unglücklich nachkommen.

Odoardos Wortneuschöpfung/Neologismus („Wollüstling“, S.26, Z.29) unterstreicht, dass das Verhalten des Prinzen den normalen Wortschatz übersteigt. Das religiöse Vokabular am Schluss („Gott befohlen“, S.26, Z.35) unterstreicht Odoardos christlich-moralische Grundhaltung.

Viele Ausrufezeichen unterstreichen die Intensität und Leidenschaft, mit der beide ihre Ansichten vortragen. Befehle Odoardos verdeutlichen, dass er als Oberst gewohnt ist, Anordnungen zu geben (S.25, Z.35 u. S.26, Z.1-3).

3. AUFGABE: SZENENANALYSE V,5 (FHR)

1. KURZE VORGESCHICHTE VON V,5

Odoardo ist durch Gräfin Orsina über die verbrecherischen Machenschaften des Prinzen und Marinellis aufgeklärt worden und hat von ihr einen Dolch erhalten, damit er im Notfall bewaffnet ist. Er schickt seine Frau Claudia mit der Gräfin Orsina in die Stadt und hofft, zum Prinzen vorgelassen zu werden.  

Im Gespräch mit Marinelli versucht er durchzusetzen, dass er Emilia mit zu sich nehmen kann. Aber Marinelli besteht darauf, dass dies der Prinz entscheide. Im 2. Monolog empört sich Odoardo darüber, dass ihm wohl seine Tochter vorenthalten werden soll, und zwar von dem, der hier anscheinend alles dürfe und gesetzlos handele. Jedoch will er erst ruhig bleiben und abwarten, ob dieser Fall wirklich eintritt.

2. ANALYSE VON V,5  

Übertrieben herzlich u. in formvollendeter galanter Sprache begrüßt der Prinz Emilias Vater („mein lieber, rechtschaffener Galotti“, S.78, Z.3).

Dieser redet ihn zwar mit „Gnädiger Herr“ (Z.7) an, begegnet ihm aber zurückhaltend, jedoch verwendet er ebenfalls die höfische Sprache. Nachdem der Prinz Odoardos „stolze Bescheidenheit“ (Z.11f.) gerühmt hat, geht er auf dessen Wunsch ein, Emilia zu sehen. Auch er frage sich, warum die Mutter sich entfernt habe, zumal er Mutter und Tochter im „Triumphe nach der Stadt … bringen“ (Z.17) wolle. Kühl erwidert Odoardo, dass er darauf verzichte, um Emilia die vielen „Kränkungen, … Mitleid und Schadenfreude“ „von Freund und Feind“ (Z.22f.) zu ersparen, und weist damit das entsprechende scheinheilige Angebot des Prinzen zurück. Nur er als Vater wisse, was Emilia „einzig ziemet – Entfernung aus der Welt – ein Kloster“ (Z.31f.). Der Prinz sieht seine Befürchtungen bestätigt und gesteht überraschend zu, dass „dem Vater … niemand einzureden“ (S.80, Z.4f.) habe. Er könne Emilia bringen, wohin er wolle.

Vorschnell triumphierend fragt Odoardo Marinelli, wer von ihnen beiden sich nun im Prinzen geirrt habe. Der Prinz zeigt durch sein Unverständnis, dass er Marinellis nun folgende Intrige nicht kennt. Gerissen entschuldigt sich Marinelli dafür, dem Prinzen zu widersprechen, doch dies gebiete ihm die Freundschaft zu Appiani, von der der Prinz ja wisse. Appiani habe ihn „zu seinem Rächer bestellet“(Z.22). Dreist verdreht er dabei die nur ihm bekannte Aussage Claudias, „Marinelli … war das letzte Wort des sterbenden Grafen“ (Z.23ff., III,8). Da man den Verdacht habe, dass nicht Räuber, sondern ein auch noch „ein begünstigter Nebenbuhler“ (S.80, Z.7f.) den Mord begangen habe, müsse man Emilia in Guastalla vernehmen.

Der Prinz erkennt jetzt Marinellis perfiden Plan, heuchelt Verständnis und fordert überdies Odoardo auf, zu erkennen, dass das die Sache verändere (Z.22ff.). Odoardo ist verbittert darüber, dass er diese Entwicklung „nicht vorausgesehen“ (Z.28) habe. Er willigt ein, dass Emilia nach Guastalla zu ihrer Mutter kommt, und möchte so lange nicht in Guastalla bleiben, „bis die strengste Untersuchung sie freigesprochen“ (Z.31f.) habe.

Sarkastisch setzt er hinzu, vielleicht brauche man ja auch seine Aussage. Schlagfertig bestätigt dies Marinelli, da die „Form des Verhörs … diese Vorsicht“ erfordere, „Mutter und Tochter und Vater“, S.81, Z.7-11) zu trennen. Es sei deshalb sogar nötig, „wenigstens Emilia in eine besondere Verwahrung zu bringen“ (Z.14). Diese provozierende Äußerung lässt Odoardo nach seinem Dolch greifen, doch schon ein einziger wohlwollender Satz des Prinzen: „Fassen Sie sich, lieber Galotti –“, hält Emilias Vater von seinem halbherzigen Vorhaben ab.

Der Prinz erkennt die einmalige Chance dieser Intrige, und spielt nun seine rhetorische Überlegenheit aus, der der biedere Odoardo nichts entgegenzusetzen hat. Zunächst gibt er vor, ihn zu beruhigen, keinesfalls solle Emilia in ein Gefängnis, vielmehr solle die „unbescholtene Tugend“ in eine „besondere Verwahrung, – die alleranständigste“ (d.h.: die allerunanständigste) gebracht werden, nämlich in das Haus des Kanzlers Grimaldi und seiner Gemahlin (II,4; V,8).

Entmutigt fordert Odoardo, „wenn Emilia verwahrt werden muß, so müsse sie in dem tiefsten Kerker verwahret werden.“ (S.82, Z.7f.). Doch sofort erkennt er, dass er der Intrige der beiden hilflos ausgeliefert ist, und erinnert sich an Orsinas Worte: „Wer über gewisse Dinge seinen Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren!“ (Z.10ff.; IV,7). Dies unterstreicht, dass er das politische System ebenso radikal kritisiert wie sie.

Der Prinz zeigt nun seine Macht. Zwar formuliert er seine Anordnungen so, als seien auch ihm die Hände gebunden, „was kann ich mehr tun?“ (Z.13f.), aber er befiehlt, ohne Widerrede zu dulden, „dabei bleibt es! dabei bleibt es!“, (Z.18f.). Odoardo bleibt nur noch bittere Ironie und er täuscht seine Einwilligung in den Plan des Prinzen vor: Er „lasse … (sich) ja alles gefallen“, er „finde ja alles ganz vortrefflich“ und natürlich sei das „Haus eines Kanzlers … eine Freistatt der Tugend.“ (Z.27ff.). Mit einer verzweifelten paradoxen Intervention fordert er den Prinzen auf, Emilia „nirgends anders als dahin“ (Z.30f.) zu bringen. Nur wolle er sie unter 4 Augen noch einmal sprechen, um ihr den Tod Appianis schonend beizubringen und den Grund der Trennung von ihren Eltern zu erklären.

Gönnerhaft gesteht der Prinz ihm dies zu und äußert seufzend den Wunsch, dass Odoardo „(sein) Freund, (sein) Führer, (sein) Vater“ (S.83, Z.5f.) wäre. Dabei bleibt unklar, ob dies der Gipfel fürstlicher Demütigung oder spontane ehrliche Bewunderung unter Ausblendung seines schändlichen Vorhabens ist.

3. AUSWIRKUNG AUF DIE FOLGENDEN SZENEN BIS DRAMENSCHLUSS

Odoardo ist nun mit Emilia allein und klärt sie über Appianis Tod und alle Machenschaften des Prinzen auf. Sie erfährt, dass sie allein „in den Händen (ihres) Räubers“ (V,7) bleibe, begehrt zunächst auf und fragt, „wer der Mensch ist, der einen Menschen zwingen kann.“ (V,7). Als ihr Vater sagt, dass sie zum Kanzler Grimaldi in „das Haus der Freude“ gebracht werden soll, fleht sie ihn an, ihr den Dolch zu geben, da „Verführung … die wahre Gewalt“ sei (V,7). Da er zögert, sagt sie provozierend, er wolle sie zur Hure machen, und erinnert ihn an Väter wie den der röm. Virginia, worauf er sie ersticht, um ihre Unschuld zu retten.

Als Marinelli und Prinz den Raum betreten, sagt Odoardo zu ihm, dass er nicht Selbstmord begehen, sondern sich für sein Verbrechen vor dem Prinzen als Richter verantworten werde. Im Himmel erwarte ihn dann Gott als Richter. Der Prinz schiebt nun alle Schuld auf Marinelli, der sich „auf ewig zu verbergen“ (V,8) habe, und beklagt voller Selbstmitleid, dass er auch ein Mensch sei, der unglücklicherweise einen „Teufel“ zum Freund habe (V,8).

4. ANALYSE DER SPRACHLICHEN GESTALT VON V,5 UND DEREN WIRKUNG

In V,5 dominiert die galante höfische Sprache, besonders beim Prinzen, die hier die wahren Sachverhalte verschleiern und wie die emphatischen Beteuerungen („Ah, mein lieber, rechtschaffener Galotti“, S.78, Z.3; Z.11f, S.79, Z.27-29, S.81, Z.29 etc.) Höflichkeit, Respekt und Anteilnahme nur vorspielen soll.   

Die vielen Ellipsen besonders von Odoardo („Entfernung aus der Welt; – ein Kloster, S.78, Z.31-33, S.79, Z.6,10,16 etc.) unterstreichen, dass bei ihm Vieles unausgesprochen bleibt. Sein religiöses Vokabular („Kloster“, S.78, Z.32, „Gott! Gott“, S.80, Z.25f.) zeigt seine religiös-moralische Einstellung.

Zahlreiche Wiederholungen („in einem Tone! in einem Tone!“, S.79, Z.26, „gut, gut“, S.79, Z.31, S.80, Z.20-23, Z.25f. etc.) verdeutlichen Unsicherheit der Figuren und Intensität der (beim Prinzen meist unechten) Gefühle ebenso wie Epiphern (S. 82, Z.30f.) und Anaphern (S.79, Z.17f., S.80, Z.13, 20, 22 S. 81, Z.24, Z.34f. etc.). Auch Beschönigungen („süßen Kränkungen“, S.78, Z.24, S.80, Z.17f.) sollen die wahren Absichten des Prinzen verschleiern.

Rhetorische Fragen (S.78, Z.33-S.79,Z.3,6,36,80 etc.) demonstrieren den scheinheiligen und unehrlichen Umgang miteinander. Die z.T. echten Fragen des Prinzen (S.79, Z.9, 16) zeigen, dass er die perfide Strategie Marinellis anfangs noch nicht durchschaut. Die häufige Ironie (S. 78, Z.5f., Z.20, S. 81, Z. 30f, 33, S.82, Z.26f.,29,30f.) unterstreicht die mangelnde Offenheit des Dialogs. Recht wenige, meist Alltagsmetaphern (bzw. Personifikationen) und z.T. Beschönigungen („Schönheit verblühen“, Z.36-S.81, Z.1,16; „schöne Unglückliche“, S.80, Z.17f., „besondere Verwahrung“, S.81, Z.32) sollen nur Geringschätzung der Untertanen verbergen. Correctiones (S.80, Z.7, Z.11,) zeigen, wie sehr die Personen nach den richtigen Worten ringen.

Alliterationen („Freund u. Feind“, S.78, Z.22,31, S.80, Z.24, S.81, Z.1, „Freund, Führer, Vater“ (S.83, Z.5f.) klingen gut, verdecken aber fehlende Gesprächsharmonie.   

5. BESCHREIBUNG VON MARINELLIS CHARACKTERZÜGEN IM DRAMA UND VERGLEICH MIT DER AUFFÜHRUNG VOM 24.02.2013

Marchese Marinelli ist die rechte Hand des Prinzen und derjenige, der alle Intrigen vorausplant („Gehirnchen“, IV 3) und durchführt, wobei er nicht nur im Sinne des Prinzen handelt, sondern auch eigene Interessen (Beseitigung Appianis) verfolgt. Ihm gegenüber wirkt der Prinz oft schwach und entschlusslos.  

Marinelli ist sehr verschlagen, durchtrieben und völlig skrupellos. Er spielt mal die Rolle des untertanen Kammerherrn, und im nächsten Augenblick reizt er den Prinzen bis aufs Blut, wohl wissend, dass der wankelmütige Prinz auf ihn angewiesen ist. Er lügt andauernd dreist, spielt den unerschrockenen und selbstlosen Kämpfer für den Prinzen, dessen Einsatz von diesem viel zu wenig gewürdigt werde, und wertet andere ab – besonders Frauen.

Sehr gerne lässt er andere wie Appiani spüren, dass er als Marchese einen höheren Rang bekleidet. Seiner Raffinesse ist auch Odoardo letztlich nicht gewachsen. Zu Recht bezeichnet ihn Claudia als feigen Mörder und Kuppler (III 8). Der Prinz bezeichnet ihn am Schluss sogar als „Teufel“ (V 8).  

Nur Orsina nennt ihn „nachplauderndes Hofmännchen“ (IV 3) und bezeichnet den Prinzen als Mörder (IV 5).

Im Theaterstück wird er dagegen vom Prinzen zu Boden gedrückt und wirkt dadurch z. T. lächerlich. Er erscheint viel weniger dominant, vorausplanend und verschlagen als im Dramentext. Auch wird seine ironische Distanz zu Orsina und dem Prinzen zu wenig deutlich. Dadurch wird zwar die Verantwortlichkeit des Prinzen für alles klarer, jedoch wollte Lessing sicher einen viel entschlussloseren und von Gefühlsschwankungen bestimmteren Herrscher zeigen, der damals durchaus keine Seltenheit war.

Wie im Dramentext ist Marinelli der prinzipienlose Intrigant, der dauernd lügt. Neu hinzu kommt aber noch seine würdelose Kriecherei gegenüber dem Prinzen u. auch Orsina („Hofmännchen“, IV,3), womit scheinbar die Verantwortung des Prinzen stärker betont wird. Bei Marinelli fehlt im Vergleich zum Drama etwas seine Rolle als Marchese und seine ironische Distanz zu Orsina und zum Prinzen. Dieser jedoch wird – auch äußerlich – wie Marinelli als lächerliche Figur dargestellt, so dass einiges vom politischen Gehalt des Dramas verlorengeht. Die Liebenswürdigkeit und brutale Skrupellosigkeit im Drama zeigt gerade die Ambivalenz des absoluten Herrschers. Durch lächerlich machen dieser Figuren werden diese zwar entlarvt, jedoch werden so deren verbrecherische Taten und die tragische Situation, in der sich die streng religiösen und tugendhaften Figuren Emilia und Odoardo befinden, verharmlost.

4. AUFGABE: CHARAKTERISIERUNG DES PRINZEN (FHR)

ÜBERBLICKSINFORMATIONEN

G. E. Lessings bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ (1772) spielt in einem kl. Fürstentum im Italien des 17. Jh. Der Fürst liebt Emilia, die jedoch noch heute Gräfin Appiani werden soll. Daher gibt er seinem Kammerherrn zur Verhinderung dieser Hochzeit eine Blankovollmacht. Als Appiani bei einem Anschlag getötet wird und Emilia sich auf dem Lustschloss des Prinzen in dessen Gewalt befindet, tötet sie ihr streng moralischer Vater Odoardo, um ihre Unschuld vor dem lüsternen Prinzen zu retten.

CHARAKTERISTIK

Hettore Gonzaga ist Prinz von Guastalla und hat als absoluter Herrscher das Gewaltmonopol, d.h. er besitzt alle 3 Gewalten (ausführende G.: Bittschriften und Todesurteil, I,1+8; richterliche G.: V,8; gesetzgebende G.: V,4).

Er ist unsterblich in Emilia Galotti verliebt („ich liebe sie; ich bete sie an“, I,6), will sie jedoch – wie seine bisherige Geliebte Gräfin Orsina – nur zu seiner Mätresse machen, da er bald die Prinzessin von Massa heiraten wird, wobei er sich hierbei als „Opfer eines elenden Staatsinteresse(s)“ (I,6) sieht.

Frauenbild des Prinzen: An Emilia bewundert er „Liebreiz u. Bescheidenheit“ (I,5), „Unschuld u. Schönheit“ (I,6) u. ist laut ihrer Mutter Claudia „von Ihrer Munterkeit u. ihrem Witz bezaubert“ (II,4). Bei Orsina dagegen beklagt er gegenüber Conti ihre „stolze, höhnische Miene, ihre „Grimasse“ u. ihren „Ansatz zu trübsinniger Schwärmerei“ (I,4) und wertet sie als „Närrin“ (IV,2) ab. Da er sie früher einmal geliebt hat, zeigt dies, wie schwankend sein Urteil über Frauen ist. Emilia entspricht seinem oberflächlichen Frauenbild wohl viel mehr als die selbstbewusste und fast schon emanzipierte Orsina.

Der Prinz ist mit seiner Rolle als Verantwortung tragender Herrscher unzufrieden und auch infolge seines unsteten Charakters überfordert. Er klagt über die „traurigen Geschäfte“ (I,1), gewährt willkürlich eine Bittschrift nur, weil die Bittstellerin zufällig auch mit Vornamen „Emilia“ heißt, und hat schon früh morgens keine Lust mehr zu arbeiten. Seine unumschränkte Macht gebraucht er im Drama eigentlich nur zur Durchsetzung seiner privaten Interessen.

Vor Marinelli distanziert er sich von seiner Rolle als Prinz und Veranstalter von Festen und Geselligkeiten („Mit euren ersten Häusern! – in welchen das Zeremoniell, der Zwang, die Langeweile und nicht selten die Dürftigkeit herrschet.“, I,6). Auch schätzt er Odoardo („bieder u. gut“) und Appiani („ein würdiger Mann … voller Ehre“, I,6) und damit die Vertreter der gegenhöfischen Welt, die die höfische Welt kritisieren. Dennoch nimmt er Odoardo seine Tochter weg, stürzt seine Familie ins Unglück und bedauert Appianis Ermordung nur kurz.  

Zwar liebt er die Rolle als Förderer der Kunst. In Wahrheit ist er deren Auftraggeber, denn „die Kunst geht nach Brot“ (I,2) bei ihm, wie sein Maler Conti richtig bemerkt, der vom Prinzen auch verschwenderisch für das Portrait belohnt wird, das dem launischen Prinzen gerade besonders gut gefällt („So viel Sie wollen, Conti“, I,4).

Seine Verantwortungslosigkeit zeigt sich auch, als er nur wegen der o.a. privaten Dinge in Eile ist und ein Todesurteil, ohne es zu lesen, „recht gern“, „geschwind“ (I,8) unterschreiben will. Er ist so verwirrt und entscheidungsschwach, dass er einem seiner dazu nicht befugten Räte (Camillo Rota) die Bewilligung der o.a. Bittschrift überträgt („Lassen Sie die Ausfertigung noch anstehen. – Oder auch nicht anstehen: wie Sie wollen.“, I,8). Als er über die bevorstehende Hochzeit Emilias mit Graf Appiani von Marinelli informiert wird, gibt er diesem eine Blankovollmacht, „alles (zu tun), was diesen Streich abwenden kann“ (I,6).

Der Prinz, der Emilia das 1. Mal einige Wochen vorher auf einer Vegghia bei seinem Kanzler gesehen hat, beschließt, sie in der Kirche aufzusuchen, wo er ihr während der Messe seine Liebe ins Ohr flüstert. Dies zeigt, wie rücksichtslos und respektlos er ist, da er seine Macht dazu missbraucht, die streng religiöse Emilia, die vor ihrer Hochzeit zu Gott betet, derart zu bedrängen und zu belästigen. Allerdings scheint er sich dabei sehr unwohl gefühlt zu haben, denn „stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da“, so dass er Angst bekommt, mitzittert, sie um Vergebung bittet und Marinelli gesteht: „Kaum getrau ich mich, sie wieder anzureden“ (III,3).

Seine geistige Unreife u. seine Schwankungen in der Beurteilung anderer zeigen sich in I,6 gegenüber Marinelli, den er als „treulos“ und „hämisch“ bezeichnet, was er ihm angeblich niemals vergeben werde, sich ihm dann aber im nächsten Moment in die Arme wirft („So verzeihen Sie mir, Marinelli“), von ihm bedauert werden möchte und ihn auffordert: „Liebster, bester Marinelli, denken Sie für mich“.

Als der Prinz in III,1 erfährt, dass Marinellis Plan, Appiani zur Verhinderung seiner eigenen Hochzeit sofort als Gesandten zum Herzog von Massa zu schicken, fehl schlägt, macht er ihm zunächst Vorwürfe („Wer weiß, wie albern Sie sich dabei benommen“). Marinelli schafft es aber sehr geschickt, durch dreiste Lügen von eigenen Fehlern abzulenken, und erklärt ihm seinen 2. Plan („gesetzt auch, ich wollte noch das Unmögliche versuchen“), der längst in Auftrag gegeben ist, da man bereits einen Schuss fallen hört. Nach Marinelli sollen von ihm bezahlte Räuber die Hochzeitskutsche zum Schein überfallen. Bedienstete des Hofes erscheinen ‘zufällig’ und bringen Emilia zum Lustschloss Dosalo, so dass der Prinz als ihr Retter erscheint.

Obwohl den Prinzen „eine Bangigkeit überfällt“, bestätigt er nochmals seine Blankovollmacht gegenüber Marinelli, der am Schluss der Szene dem Prinzen sogar Anweisungen erteilt (“Geschwind – entfernen Sie sich.“,III,1).

Als der Prinz in III,5 dann auf Emilia trifft, die – wie geplant – auf Schloss Dosalo gebracht worden ist, setzt er seinen ganzen Charme, seine Überredungskunst und Galanterie bei Emilia ein. Diese, von unguten Ahnungen geplagt, weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, und ringt die Hände, fällt dann aber dem Prinzen zu Füßen.

Der Prinz entschuldigt sich wortreich für seine „Schwachheit“. Er hätte sie niemals mit seinem Liebesgeständnis beunruhigen sollen. Sie habe „uneingeschränkteste Gewalt“ über ihn und könne daher mit ihm dorthin gehen, „wo Entzückungen auf Sie warten…“, (III,5). Sie ist dieser „unbedeutenden Sprache der Galanterie” (II,4) – laut Orsina “So viel Worte, so viel Lügen!“, IV,3 – nicht gewachsen, so dass sie „nicht ohne Sträuben“ (III,5) mit ihm ins Nebenzimmer geht.

Der Prinz, der vom Tod Appianis erfahren hat, stellt Marinelli in IV,1 empört zur Rede, der jedoch wahrheitswidrig behauptet, dass dessen Tod weder geplant, noch ihm gleichgültig sei, weil der Graf ihm noch Genugtuung schulde. Marinelli kann den recht naiven Prinzen leicht dazu bringen zu glauben, dass nicht das Ungeschick des Kammerherrn, sondern des Prinzen Begegnung mit Emilia in der Kirche schuld am Fehlschlag der Intrige sei („Verdammter Einfall!“).

Doch im Grunde ist es dem Prinzen egal, ob sich bei dem Plan „Unglücksfälle eräugnen könnten … oder sollten“. Ganz ungeniert äußert er seine ganze Skrupellosigkeit und Mitverantwortlichkeit: „… auch ich erschrecke vor einem kleinen Verbrechen nicht“. Bedauerlich findet er nur, dass „unseres da … weder stille noch heilsam“ (IV,1) ist. Er fürchtet nämlich, dass man ihn – wie Orsina in IV,5 – als „Mörder“ ansehen werde, wenn Emilia seine Geliebte werde.

(Orsina kommt nach Dosalo zwecks Aussprache mit dem Prinzen. Sie durchschaut die verbrecherische Intrige und klärt Odoardo auf, der in großer Sorge um seine Familie zum Schloss kommt. Odoardo, der von Orsina einen Dolch erhält, um den Prinzen zu töten, ist zunächst unschlüssig und will – wie der Prinz in V,1 bereits fürchtet – seine Tochter mitnehmen und in ein Kloster schicken.)

Im Gespräch mit dem Prinzen und Marinelli (V,5) tritt Odoardo, der noch im Monolog in V,4 vor Empörung tobt, zunächst beherrscht und als Untertan des Prinzen auf („Gnädiger Herr“).

Der Prinz spielt Odoardo gegenüber wieder sehr geschickt seinen Charme, seine galante, übertrieben liebenswürdige Art aus (“mein lieber, rechtschaffener Galotti”). Dieser bleibt höflich, beharrt aber auf seinem Entschluss bezüglich Emilia.

Hier zeigt sich nun die ganze Raffinesse und ‘teuflische Cleverness’ des Prinzen, der Odoardo scheinbar Recht gibt („Doch allerdings, dem Vater hat niemand einzureden. Bringen Sie Ihre Tochter, Galotti, wohin Sie wollen.“) und dann den Ball Marinelli zuspielt. Dieser fordert vom Prinzen eine gerichtliche Untersuchung, da der Mörder vermutlich ein „begünstiger Nebenbuhler“ sei, so dass die Familie Galotti als Zeugen voneinander getrennt werden müssten. Der Prinz spielt weiter den Naiven, den die ‘Argumente’ überzeugen („das verändert die Sache, lieber Galotti“). Geschickt besänftigt er Odoardo, der in seiner Wut schon nach dem Dolche greift. Natürlich soll dieser die „besondere Verwahrung“ für Emilia nicht missverstehen. Vorgesehen hat der Prinz nämlich „die alleranständigste. Das Haus meines Kanzlers“.  

Odoardo durchschaut das schäbige Spiel der beiden, ist ihnen aber nicht gewachsen und verharrt als gehorsamer Soldat und Untertan in ohnmächtigem Zorn. Er bittet nur darum, vorher noch einmal mit Emilia zu sprechen.

Die unglaublich zynische Art des Prinzen zeigt sich hier in V,5, als er zusichert, dass in diesem – laut Emilia – „Haus der Freude“ (V,7) ihr „mit der äußersten Achtung begegnet wird“. Odoardo könne hingehen, wohin er wolle („Es wäre lächerlich, Ihnen vorzuschreiben.“). Der Gipfel der Heuchelei – oder der Gefühlsverwirrung – ist des Prinzen Schlusssatz: „O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater sein wollten!“.

Nachdem Odoardo Emilia auf ihren Wunsch hin getötet hat, um ihre Unschuld zu retten, da sie fürchtet, den Verführungskünsten des Prinzen zu erliegen, ist der Prinz in V,8 entsetzt und nennt Odoardo „grausamer Vater“. Er selbst zeigt keine Reue, für ihn ist Marinelli der Sündenbock, den er als „Teufel“ bezeichnet und vom Hof verbannt, um damit die Schuld von sich zu weisen.  

Er zerfließt wieder vor Selbstmitleid, da Fürsten unglücklicherweise auch nur Menschen seien und zudem teuflische Freunde hätten. Am Ende schlüpft er wieder in die Rolle des Fürsten und Richters, vor dem sich Odoardo verantworten muss.

Der Prinz ist nicht der brutale Herrscher, sondern oft geradezu liebenswürdig und ‚menschlich’, allerdings ganz unberechenbar und steckt voller Widersprüche. Er verfolgt jedoch rücksichtslos seine Privatinteressen, spielt den Unschuldigen und Naiven und verschleiert so geschickt seine Skrupellosigkeit, seine katastrophale Staatsführung und Willkür, unter der das Volk leidet. Lessing zeigt, dass solche Fürsten alles andere als bedauernswert sind!  

Marchese Marinelli ist die rechte Hand des Prinzen, graue Eminenz, Intrigrant und ‘der Mann fürs Grobe’, der angesichts der Unfähigkeit des Prinzen für ihn unentbehrlich ist. Er handelt oft eigenmächtig, verfolgt eigene Interessen, provoziert, belügt den Prinzen und erteilt ihm sogar manchmal Anweisungen. Jedoch ist er vom Prinzen als absoluten Herrscher abhängig.

Beide spielen ihre Spielchen miteinander. Der Prinz lässt Marinelli gerne die Drecksarbeit machen, damit er anschließend den Ahnungslosen spielen und ihn als Bösewicht darstellen kann. Marinelli weiß, dass er gelegentlich den Prügelknaben spielen muss, angesichts der Gefühlsschwankungen des Prinzen meist nur für kurze Zeit. Beide brauchen einander, so dass der Prinz Marinelli zurückholen wird, wenn Gras über diese „Sache“ gewachsen ist.

Marinelli weist in I,6 selbst auf die Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit des Prinzen hin, der beklagt: „Fürsten haben keinen Freund!“, und entgegnet: „Weil sie keinen haben wollen!“. Heute würde sie einem vertrauen, ihre geheimsten Wünsche mitteilen und morgen seien sie wieder völlig fremd. Allerdings weiß Marinelli dies sehr geschickt zu seinem Vorteil auszunutzen.

Der Prinz liebt Emilia, seit er sie auf der Vegghia beim Kanzler Grimaldi das 1. Mal gesehen hat. Die Frage ist, was er unter Liebe versteht. Sicherlich möchte er sie – wie Orsina – nur zu seiner Mätresse machen. Er will ihr keine Gewalt antun, sondern sie für sich gewinnen und besitzen (I,5). Ihre Gefühle interessieren ihn nicht, zumal er als Prinz glaubt, alles zu dürfen.

Rücksichtslos dringt er in ihre Privatsphäre ein (Kirche) und bedrängt sie am Tage ihrer Hochzeit mit seinen Liebesschwüren.

Emilia ist von diesen Annäherungsversuchen verwirrt und entsetzt. Allerdings hat sie sich offensichtlich sehr angeregt und geistreich auf dieser Vegghia mit dem Prinzen unterhalten (II,4). Ihre strenge religiöse Erziehung und die (väterlichen) bürgerlichen Erziehungs-prinzipien (Selbstbeherrschung, Triebunterdrückung, Tugend, Bescheidenheit usw.) führen jedoch dazu, dass sie anschließend große Schuldgefühle hat („strengste Übungen der Religion“,V,7) und sich mitschuldig wider Willen (II,6) fühlt.

Sie bekennt: „Verführung ist die wahre Gewalt!“ … „auch meine Sinne sind Sinne“ (V,7), das heißt, dass sie sehr wohl irgendwie vom Prinzen, dessen charmant-galanter Art (für Appiani ist sie nur fromm und bescheiden) und dem prunkvollen, sinnlichen Leben bei Hofe fasziniert ist. Allerdings glaubt sie, dass diese „Lasterhaften“ schwere Sünden begehen und in die Hölle kommen. Daher bleibt ihr nur der Tod als Ausweg, um ihre Unschuld und ihr 2. Leben im Jenseits zu retten.

Hauptverantwortlich für die Tragödie ist auf jeden Fall der Prinz, der als absoluter Herrscher rücksichtslos seinen privaten Interessen, d.h. seinen Liebschaften, nachgeht. Mit der Blankovollmacht für Marinelli, dessen Hinterhältigkeit und Skrupellosigkeit er kennt, muss ihm klar sein, dass dieser wirklich alles tun wird, um die Hochzeit zu verhindern. Ihn stört ja auch nicht das Verbrechen, sondern nur die ungeschickte Ausführung, die seinem Ziel, Emilia zu besitzen, hinderlich ist.

„Der Prinz (und damit das politische System der Monarchie) ist ein Mörder“ (IV,5). Orsinas 2. These, dass Marinelli zwar ein „Teufel“ (IV,5), aber letztlich nur ein „nachplauderndes Hofmännchen” sei (IV,3), ist insofern nicht ganz richtig, als dieser hinterhältige Intrigant über weite Strecken eine dominierende Rolle spielt, eigene Interessen verfolgt, den Prinzen dreist belügt und dessen Schwächen gnadenlos ausnutzt.

Allerdings ist auch Odoardo nicht unschuldig an dieser Katastrophe, da seine überstrengen religiösen Moralvorstellungen und die Verteufelung von Sinnlichkeit bei Emilia völlig unberechtigte Schuldgefühle auslösen und sie unfähig machen, den unverschämten Verführungskünsten des Prinzen zu widerstehen, so dass sie lieber sterben will.

Lessing will mit diesem Trauerspiel dem Bürgertum zeigen, dass es sich solche Fürsten bieten lässt („dulden, was man nicht dürfte“, V,7) tatenlos zusieht, wie Familien zerstört werden, und sich selbst opfert, um ihre zweifelhaften Wertvorstellungen zu retten, anstatt diese zu überdenken und – wie 1789 in der Französischen Revolution – den Herrscher zu stürzen.

8. ERICH KÄSTERN: SACHLICHE ROMANZE (1929)

        Als sie einander acht Jahre kannten

       (und man darf sagen: sie kannten sich gut),

       kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

       Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

   5  Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

       versuchten Küsse, als ob nichts sei,

       und sahen sich an und wußten nicht weiter.

       Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

       Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

 10  Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

       und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

       Nebenan übte ein Mensch Klavier.

       Sie gingen ins kleinste Café am Ort

       und rührten in ihren Tassen.

  15  Am Abend saßen sie immer noch dort.

       Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

       und konnten es einfach nicht fassen.

BIOGRAFISCHER HINTERGRUND DES GEDICHTS:

Mit 21 Jahren verliebte Erich Kästner (1899-1974) sich in die 18-jährige Ilse Julius. Er begann 1919 sein Studium an der Universität in Leipzig, während sie in Rostock Chemie studierte. Ilse und Erich sahen sich so zunächst selten. Ihren Kontakt hielten sie hauptsächlich durch einen Briefwechsel. Sein Studium musste Kästner durch umfangreiche journalistische Tätigkeiten finanzieren.   

Für eine Freundin – zumal in einer anderen Stadt – blieb so wenig Raum, an eine feste Bindung oder gar Heirat mochte Kästner nicht denken. Ilse Julius mag sich eine solche eher vorgestellt und auch dafür gekämpft haben, obwohl sie, für die damalige Zeit, eine ungeheuer emanzipierte Frau war.

Trotz starker Bindungen beider aneinander, waren die Umstände gegen eine dauerhafte Beziehung der beiden. Dazu mag die Entfernung beigetragen haben, die Zeit und die unterschiedlichen Interessen: Kästner promovierte 1925 an der Universität Leipzig. Im gleichen Jahr legte Ilse Julius in Dresden ihr Chemie-Diplom ab. Es dauerte dennoch bis Ende 1926, bis sich ihre Wege endgültig trennten.

1. ÜBERBLICKSINFORMATION:

Im Gedicht „Sachliche Romanze“ (1929) von Erich Kästner (1899-1974) aus der Literaturepoche der Neuen Sachlichkeit geht es um ein (wohl eher unverheiratetes (Z.1+Biografie) Paar, das sich 8 Jahre kennt, aber wohl auseinandergelebt hat, ohne dies wahrhaben zu wollen, und am Ende fassungs- und verständnislos vor den Trümmern ihrer ihnen längst abhanden gekommenen Liebe steht.

2. FORMALE ANALYSE

Das 4-strophige (S.) Gedicht (3 Quartette, 1 Quintett, damit wichtigste Strophe) ist traditionell gebaut  (Kreuzreim: abab; in Z.16 durch Paarreim (aa) gedehnt, obwohl das Paar keins mehr ist), hat rhythmisch-lyrisch-beschwingten Sprechton und wirkt durch konventionellen Sprachgebrauch (vollständige Sätze, meist Satzzeichen (+ Doppelpunkt), 2 Zäsuren (Z.4, 8), 1 Einschub (Z.2), 1 überraschende Enjambements, Z.4, 10f.) und Erzählweise ausgewogen und harmonisch, was auch Anaphern (Z.5, 13, 16; das Paar, das keins ist!) und Alliterationen (Z.7f., 10, 13, 15) unterstreichen. Hierdurch und durch den meist parataktischen Satzbau (nur 2 NS in Z.1+6) wird jedoch zugleich die Monotonie und Einförmigkeit in dieser Beziehung verdeutlicht. Alliterationen, Rhythmus und Reime sollen fehlende Harmonie des Paares nur übertünchen.   

Die indirekte Rede (Z.10f.) unterstreicht, dass beide nie offen und direkt miteinander sprechen. Der „sachliche“ (Titel) Stil des Gedichts wird durch Verzicht auf fast alle typischen Stilmittel wie auffällige Metaphern, Personifikationen oder besondere Symbole betont. Viele Aufzählungen (u.a. 8-mal „und“) unterstreichen die Monotonie der Beziehung.

Es gibt einen Vergleich (Z.4), der durch eine Art elliptischen Enjambements und Punkt besonders betont wird.

Nur sehr indirekt lässt sich der Sinn einiger bildhafter oder symbolischer Wörter („betrugen“, Z.5, „Schiffen winken“, Z.9, „Klavier“, Z.12 usw.) erschließen, was die Kompliziertheit und fehlende Transparenz in der Beziehung dieses Paares zeigt.

Jedoch gibt es eine sarkastisch-ironische Bemerkung (Z.2) oder Untertreibung (zu gut!), 1 Paradoxon (Titel) und einen Gegensatz (Z.5), was die widersprüchliche Beziehung unterstreicht. Der Punkt in Z.3 soll das Besondere, Ungewöhnliche bzw. eigentlich Unmögliche in Z.4 hervorheben.

Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1. + 2. S.: fehlende Liebe und Trauer, 3. S.: Verdrängung, Blick in die Ferne, 4. S.: (scheinbarer) Ortswechsel (Café) und fassungslose Resignation). Auch die sich reimenden Wörter sind hier aussagekräftig: „Gut – Hut“ (Z.2,4) bedeutet, dass nur äußere Dinge gut und wichtig sind. „Heiter – weiter“ (Z.5,7) zeigt, dass beide heiter weiter so machen, obwohl sie für Fröhlichkeit gar keinen Grund haben. „Winken – trinken“ (Z.9,11) zeigt eher passives Verhalten. „Ort – Wort“ (Z.13,16) signalisiert, dass Sprache hier weniger mit Personen verbunden wird. „Tassen – fassen“ (Z.14,17): Das Begreifen und das „(An-)fassen“ wird ebenfalls mit Gegenständen, nicht mit Personen in Verbindung gebracht – Zeichen für Sachlichkeit und Oberflächlichkeit dieses Paares.

3. INTERPRETATION

Diese Sachlichkeit (d.h. das mangelnde subjektive Empfinden) zeigt sich auch beim fehlenden lyrischen Ich. Es gibt nur einen Gedichtsprecher, der außerhalb steht, nicht selbst betroffen ist und als neutraler Beobachter meist ‘sachlich’ berichtet.

In der 1.Strophe wird berichtet, dass einem Paar, obwohl es sich 8 Jahre (verflixtes 7. Jahr!) gut kennt (Z.1f.) und miteinander vertraut ist, „plötzlich ihre Liebe abhanden“ kommt wie „ein Stock oder Hut“ (Z.3f.). Der ironische Einschub (Z.2, wobei „darf“ nur scheinbare Zurückhaltung ist, um die Wirkung der sarkastische Einmischung zu verstärken) stellt nicht nur die Intensität der Beziehung des Paares infrage (nicht gut oder untertreibend: zu gut), sondern verdeutlicht durch das ironische „plötzlich“ (Sie haben es erst jetzt bemerkt!) und den Vergleich von Liebe mit Alltagsgegenständen („Stock oder Hut“, Z.3 u. Adjektiv „sachlich(e)“ im Titel !), die man achtlos verliert, auch ihr wenig emotionales Liebesverständnis bzw. ihre schon längst erkaltete Liebe.

Das Paar erträgt in der 2. S. diese Verlusterfahrung zuerst mit Fassung und versucht, seine Trauer zu überspielen (Gegensatz: traurig – heiter, Z.5). wobei „betrugen sich“(Z.5), was grammatisch von ‘betragen’ kommt, durch den Anklang an ‘Betrug’ zugleich auch ihren Selbstbetrug signalisiert. Sie „versuchten Küsse“, was ihre fehlenden Gefühle füreinander und die Verkrampftheit ihrer Beziehung zeigt.   

Dennoch versuchen sie, ihr eintöniges Leben weiterzuleben, „als ob nichts (passiert) sei“(Z.6). Hilf- und ratlos „sahen (sie) sich an und wussten nicht weiter“(Z.7). Sie sehen keine Alternativen zu ihrem tristen und gefühlsarmen Alltag. Schließlich lässt die Frau ihren Ohnmachtsgefühlen und ihrer Verzweiflung durch Weinen freien Lauf. Er dagegen (nicht nur durch einen Punkt optisch, sondern auch emotional von ihr getrennt) „stand dabei“(Z.8), hilf- und emotionslos sowie unfähig, sie zu trösten bzw. hierauf angemessen zu reagieren.

In der 3. S. blickt wohl der Mann („man“, Z.9) zur Ablenkung durch das Fenster in die Ferne, wo das wirkliche Leben stattfindet.

Das Paar kann nur passiv-resignativ den sich fortbewegenden „Schiffen winken“(Z.9), wobei nicht gesagt ist, dass sie dies auch tun.

Die Schiffe bewegen sich fort zu neuen Ufern, wo Ungewöhnliches, Interessantes wartet. Die beiden bleiben jedoch statisch und unbeweglich am selben Fleck. Sie können höchstens dem an ihnen vorbei ziehenden Leben zuwinken, wobei dieses Winken zugleich einen Anklang an den Abschied von ihrer Beziehung symbolisiert.

Der Mann sagt – wenn auch nur indirekt, also ohne direkten Blickkontakt oder direkte Ansprache! –, etwas Banales („Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken“, Z.11), wobei er verdrängt, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist. Vielleicht weist dies auch auf einen festen, starren Lebensrhythmus hin, der auf reinen Äußerlichkeiten beruht. „Irgendwo“ signalisiert das Bedürfnis des Mannes, irgendwohin (nur ja weg von dieser depressiven Situation!) zu gehen. Er überspielt nur Monotonie (8-mal „und“), Leere und Stille, was zeigt, dass sie sich in Wahrheit nichts mehr zu sagen haben. Sie hören zwar, dass „Nebenan … ein Mensch Klavier“(Z.12) spielt, der ein wirklicher Mensch ist, da er seine Gefühle musikalisch durch Höhen und Tiefen ausdrückt. Das Paar jedoch – und besonders der Mann – ist unfähig zu solchen wirklich menschlichen Emotionen.

Auch der Rückzug in eine intimere, vertraute Umgebung („kleinste Café“, Z.13) in der 4.Strophe kann die Liebe nicht zurückholen. „Am Ort“ (Z.13) heißt nur ein scheinbarer Ortswechsel, da sie unfähig zu wirklicher Veränderung sind. Vergeblich suchen sie Intimität und Romantik, die längst verloren gegangen ist. Sie „rührten (stundenlang sprachlos) in ihren Tassen“ (Z.13-15; Vermeidungsverhalten; keine emotionale Rührung oder gar körperliche Berührung), wobei der Paarreim („dort“ – „kein Wort“, Z.15f.) die fortdauernde Sprachlosigkeit unterstreicht. Die beiden sind kein Paar mehr, sondern „allein“ (Z.16), da ihre Beziehung zu Ende ist, wobei beide die Gründe hierfür „ einfach nicht fassen“ (Z.17) können. Keine der beiden spielt hier eine dominante Rolle.   

Die Frau könnte hier diese Rolle übernehmen, aber in der damaligen Zeit wäre dies sehr ungewöhnlich gewesen. Daher bleibt der Frau angesichts der emotionalen Defizite des Mannes nur die hilflose Resignation – ein Musterbespiel für Einsamkeit in der Zweisamkeit.

Der Titel „Sachliche Romanze“ verdeutlicht die Unvereinbarkeit von wirklicher Liebe mit sachlich-gefühllosem Zusammenleben im eintönigen Alltag wie im Gedicht.

4. FAZIT

Kästner zeigt mit diesem Gedicht, wie sehr sich ein Paar durch den banalen Alltag einer längeren intensiven (verflixtes 7.Jahr!), aber letztlich mit der Zeit nur noch oberflächlichen Beziehung entfremden kann – bis hin zur totalen Sprachlosigkeit und Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und sein eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Bei einem Ehepaar käme damals natürlich hinzu, dass eine Scheidung damals nur schwer möglich war, so dass der gesellschaftliche Druck oft ein zwangsweises Zusammenleben ohne wirkliche Liebe erzwang. Allerdings gab es immer auch die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen ohne Scheidung, was allerdings viel Selbstbewusstsein und Selbstreflexion sowie finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit erforderte.

Kästners eigene (unverheiratete) Beziehung zu Ilse Julius legt allerdings den Schluss nahe, dass es sich auch im Gedicht um ein unverheiratetes Paar handelt, dass sich nicht täglich trifft, eigentlich sehr aneinander hängt, aber deren Liebe erloschen ist, weil sie sich vielleicht zu sehr auf äußerliche Gemeinsamkeiten konzentriert haben und zu wenig Spannung und Leidenschaft in ihrer Beziehung zugelassen haben.

Diese Thematik ist auch heute noch aktuell, da es immer noch Paare (Hauptzielgruppe) gibt, die sich längst auseinander gelebt haben, ohne sich das einzugestehen, und die nicht die Kraft und Energie aufbringen, durch eine Trennung bzw. Scheidung die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, aus Angst vor Einsamkeit. Dies betrifft gerade ältere Paare.

Die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen und mit Emotionen (z.B. weinen) des Partners angemessen umzugehen, ist auch heute bei vielen Beziehungen noch unterentwickelt. Allerdings weichen allzu viele heute diesen Konflikten durch Scheidung aus (fast jede 2. Ehe wird geschieden), anstatt sich konstruktiv mit ihren Beziehungsproblemen auseinanderzusetzen, was meist zu Lasten ihrer Kinder geht.

Das Gedicht weist auch biografische Bezüge auf, denn Kästners eigene Beziehung mit Ilse Julius scheiterte nach 8 Jahren, da sie sich offensichtlich auseinandergelebt hatten. Jedoch spielten bei Kästner die längere räumliche Trennung und die unterschiedlichen Interessen eine zentrale Rolle.   

Im Gedicht dominieren dagegen die Unfähigkeit des Mannes, Gefühle zu zeigen und besonders die Sprachlosigkeit des Paares, was bei einem sprachgewaltigen und einfühlsamen Dichter wie Kästner und einer emanzipierten, gebildeten Frau wie Ilse Julius sehr ungewöhnlich wäre.

9. ERNST S. STEFFEN: ELSA (1970)

       Sie war gerade sechzehn geworden,

       Man sah es ihr noch an.

       In ihrem Busen schlummerten Torten

       Und Schweinchen aus Marzipan.

  5   Sie hatte so große Puppenaugen                        

       In ihrem kleinen Gesicht

       Und blickte dich an mit diesen Augen

       Und fand doch die Liebe nicht.

       In ihrem Seelchen wuchsen Mimosen,

10   Die hatte der Pastor gepflanzt                          

       Und in ihr Herzchen einen zu großen

       Paulusbrief zur Firmung gestanzt.

       Sie kam in der Nacht in mein Zimmer geschlichen

       Und fand mich und brauchte kein Licht.  

15   Wir haben die Sache dann durchgestrichen.  

       Doch die Liebe fand sie nicht.

       Sie hat sich mit mir noch ein bisschen gestritten:

       Das könne die Liebe nicht sein.

       Dann ging sie und hat sich den Puls durchgeschnitten,

20   Und ich war wieder allein.                                 

       Sie war gerade sechzehn geworden,

       Man sah‘s ihr auch jetzt noch an.

       In ihrem Busen schluchzten die Torten

       Und Schweinchen aus Marzipan.

       P.S.                                                                        

25   Der Jugend heute fehle die Haltung,

       Sagte der Pastor am Grab.

       Er empfahl ihr Seelchen der Himmelsverwaltung,

28   Und dann warf er Dreck hinab.

ERNST S. STEFFENS – ZUR PERSON:

Ernst S. Steffen (1936-70), aus einfachsten Verhältnissen stammend, lebte seit seinem 12. Lebensjahr bis 1967 in Heimen oder im Knast (13 Jahre wegen zahlreicher Einbruchs- und Diebstahldelikte). Dort beginnt er zu schreiben. Seine angriffslustigen, authentischen Texte sind von hoher literarischer Qualität. Er gab nie sich selbst, sondern immer der Gesellschaft die Schuld an seinem Schicksal.

Nach seiner Entlassung 1967 kommt er mit dem Leben draußen nicht mehr zurecht. Er verschuldet er sich hoffnungslos und muss immer vor seinen Gläubigern fliehen. Schließlich resigniert er und macht seinem Leben durch einen Autounfall mit einem roten Sportwagen ein Ende. Kurz vor seinem Tod wird das Gedicht „Elsa“ veröffentlicht.

1. ÜBERBLICKSINFORMATION:

Im Gedicht „Elsa“ (1970) von Ernst S. Steffen geht es um ein 16-jähriges, sehr religiöses und kindliches Mädchen, das nach der 1. Liebensnacht mit einem älteren Jungen Selbstmord begeht, da es diesem wohl nur um Sex geht.

Der Pastor, der bei der streng moralischen Erziehung des Mädchens wohl starken psychischen Druck ausgeübt hat, beklagt am Grab nur die fehlende Moral der Jugend und ist um Elsas Seelenheil besorgt.

2. FORMALE ANALYSE

Das Gedicht besteht aus 7 Strophen zu je 4 Versen mit Kreuzreimen (abab), wobei viele Reime Zeilen mit gleicher Bedeutung verbinden (s.u.). Die 7. Strophe wird mit P.S. überschrieben, um das Beiläufige des Begräbnisses und die fehlende innere Anteilnahme des Pastors zu unterstreichen.    

Das Gedicht ist in 5 Teile gegliedert. In den ersten 2 Strophen (kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.1+5) wird Elsas kindliches Aussehen und Gemüt beschrieben. In der 3.Strophe übt das lyrische Ich deutliche Kritik an dem psychisch-moralischen Druck des Pastors auf Elsa, der zu ihrer zu großen Empfindsamkeit geführt hat. In der 4. + 5.Strophe (wieder kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.13+17) berichtet das lyrische Ich von Elsas Enttäuschung über die 1. Liebesnacht und ihren Selbstmord.

Die 6.Strophe hält fest, dass Elsa nicht zur Frau geworden, sondern ein Kind geblieben ist. Durch P.S. abgesetzt wird in der 7.Strophe nebenbei und ohne innere Anteilnahme des Pastors von Elsas Begräbnis berichtet.

Der parataktische Satzbau (nur HS) bewirkt einen eher eintönigen Gleichklang. Durch die häufige Verwendung des Bindewortes „und“ wirken die einzelnen Teile des Gedichts wie eine unabhängige Kette von Ereignissen, die nur durch 2 überraschende Enjambements (Z.5f. und 11f.) unterbrochen wird. Die Interpunktion ist ebenfalls wenig überraschend und entspricht dem Satzbau.

Das gleichförmige Reimschema verstärkt den monotonen Charakter des Gedichts und verharmlost dessen bestürzenden Inhalt. Nur einmal wird die indirekte Rede (Z.18) verwendet, um den zentralen Aspekt des Streits zu verdeutlichen und Elsa auch einmal – wenn auch nur indirekt – zu Wort kommen zu lassen.

Die Alliterationen (Z.15,16,17,20) erzeugen einen Wohlklang, der jedoch nur fehlende Harmonie übertünchen soll. Neben vielen Anaphern  (Z.1+5,12+14f.), die ebenso Harmonie vorspiegeln sollen, und der fast wortgleichen 1.+6.Strophe, die die fehlende Veränderung Elsas durch die Liebensnacht andeuten, gibt es außer nichtssagenden (Z.5,8,18,25) auch ausdrucksstarke, z.T. sehr ungewöhnliche Metaphern („In ihrem Busen schlummerten Torten und Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f,23f. und Z15,27,28) In der 4.+5.Strophe wird jeweils die 1.+3.Zeile, in der 7. Strophe nur die 3.Zeile durch Überlänge hervorgehoben.

3. INTERPRETATION

Das lyrische Ich ist hier männlich und wohl deutlich älter, da es in der 1.Strophe Elsas Alter („gerade erst 16 geworden“, Z.1) u. ihre Jugendlichkeit (Z.2) betont. Auch seine kritische Bewertung der Einstellung und der Grabrede des Pastors zeigt, dass er klüger und „aufgeklärter“ ist als sie.

Mit einer ungewöhnlichen Metapher wird dann Elsas Jugend verdeutlicht. Süßigkeiten, wie Kinder sie lieben („Torten u. Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f.) sind noch in Elsa. Wenn diese „schlummern“ (Z.3), – wobei das Reimpaar in Z1/3 (ihr Alter und die Torten) zusammengehört –, heißt das, dass sie wieder erwachen können und jedenfalls nicht verschwunden sind. Auch mit der Verniedlichung „Schweinchen“(Z.4) wertet das lyrische Ich Elsa als bloßes „Kindchen“ ab.

In der 2.Strophe wird dies mit den „große(n) „Puppenaugen“ bekräftigt. Große Augen „in ihrem kleinen Gesicht“ (Z.6) – als Enjambement besonders betont – sind Teil des Kindchen-Schemas, auf das Erwachsene mit Hilfsbedürftigkeit und Zuwendung reagieren, aber nicht mit der Liebe. Auch hier gehört das Reimpaar in Z6/8 zusammen. Da sie ein kleines Gesicht hat, also noch Kind ist, kann sie die Liebe nicht finden.

„Puppen“ (Z.5) als Spielzeuge kleiner Mädchen zeigen, dass Elsa noch ein Kind ist. Sie „blickte dich an“ (vielleicht auch andere?) anstatt „mich“, was die Distanz des lyrischen Ichs zu Elsa ausdrückt und erklärt, dass dieses Kind die Liebe im Sex nicht finden kann.

Dies wird auch in der 3.Strophe wieder durch die Verkleinerungsformen („Seelchen“ und „Herzchen“, Z.9,11) verdeutlicht. „Mimosen“ (Z.9) steht für Elsas extreme jungmädchenhafte Empfindsamkeit. Der „zu große Paulusbrief“(Z.11f.) – wieder durch Enjambement besonders hervorgehoben –, d.h. die ihr zur Firmung verabreichte Frömmigkeit (Paulusbrief) ist für ihre Erlebensmöglichkeiten zu groß, hat sie also überfordert. Angesichts der Ablehnung von Sexualität bei Paulus wird klar, dass Elsa die Liebe nicht finden kann. Wenn der Pastor diesen Brief „gestanzt“(Z.12) hat, wird ausgedrückt, dass er seelische Gewalt bei seiner Erziehung zur Frömmigkeit ausgeübt hat; was ihm vom lyrischen Ich vorgeworfen wird. Die Tätigkeiten des Pastors im Firmunterricht reimen sich („gepflanzt / gestanzt“, Z.10/12). Beides hat er zum Schaden Elsas getan.

In der 4.Strophe berichtet er, dass Elsa in sein „Zimmer geschlichen“(Z.13) kommt – vielleicht auf einer Jugendgruppenfahrt, bei der er als Gruppenleiter teilnimmt?! Sie findet ihn auch ohne Licht (Z.14). Die Liebesbegegnung wird dann sehr distanziert erzählt: „Wir haben die Sache dann durchgestrichen“ (Z.15). Der Liebesakt ist für das ihn (der mit „Wir“ in Wahrheit nur sich meint) nur eine Sache, die er abgehakt hat (wie bei einer Einkaufsliste oder erledigten Programmpunkten), so dass Elsa dabei die (wahre) Liebe natürlich nicht finden kann (Z.16), was bei den rein sexuellen Erwartungen des lyrischen Ichs wohl auch gar nicht möglich ist. Es fragt sich natürlich auch, ob Elsas Vorstellungen von Liebe nicht völlig unrealistisch sind.

Die 5.Strophe zeigt, dass sie dies wohl schnell erkannt und sich mit ihm nur „noch ein bisschen gestritten“ (Z.17) hat. Der Doppelpunkt kündigt die im Konjunktiv („könne“, Z.17) formulierten enttäuschten Wünsche und Erwartungen Elsas an das lyrische Ich an. Dieser Streit ist wohl der direkte Anlass für ihren Selbstmord (Z.19) – hier zeigt sich, dass das Reimpaar in Z.17/19 zusammengehört. Das lyrische Ich beklagt jedoch nicht diesen tragischen Tod, sondern egoistisch nur sein erneutes Alleinsein (Z.20).

In der 6.Strophe wiederholt das lyrische Ich die Beschreibung der 1.Strophe und fügt nur „auch jetzt“ (Z 22) und „-‘s“ hinzu. Auch nach der Liebesnacht hat sie zwar ihre Jungfräulichkeit verloren, ist aber keine Frau geworden, sondern Kind geblieben. Dadurch bewertet bzw. erklärt das lyrische Ich, was dieses nächtliche Erlebnis für Elsa bedeutet. Die Torten und Schweinchen „schluchzten“, was Trauer um Elsas Tod und Kindlichkeit anzeigt (Z. 23).

Scheinbar absichtslos erzählt er in einem Nachtrag, als ob er es beinahe vergessen hätte (P.S.), in der 7.Strophe von Elsas Begräbnis. Sowohl in diesem „P.S.“ wie in der Art, in der er vom Pastor und dessen Einstellung spricht, zeigt sich, dass es Abstand vom kirchlichen Begräbnis hält. Schon Elsas Tod hat es nicht berührt (Z.20) Es zeigt kein Mitgefühl mit Elsas Tod, äußert kein Wort des Bedauerns, obwohl es mit dem Mädchen geschlafen hat.

Im „P.S.“ wird der Pastor in seinem amtlichen Verhalten bewertet. Statt Trauer über Elsas aus Verzweiflung verübten Selbstmord zu zeigen, beklagt dieser nur floskelhaft, „der Jugend heute fehle die Haltung“ (Z.25). Dies offenbart seine Heuchelei bzw. mangelnde Selbstwahrnehmung, da gerade sein Firmunterricht dazu beigetragen hat, dass Elsas Seele verkorkst und sie unfähig zu einer erwachsenen Liebe ist. Auch wertet er sie mit einer Verniedlichung („Seelchen“) als Kind ab, obwohl er ihre Unmündigkeit verstärkt hat.

Mit der Metapher „Himmelsverwaltung“(Z.27) wertet das lyrische Ich die vom Pastor wohl beschworene Fürsorge Gottes zur Verwaltung eines Betriebs ab. Damit kann gemeint sein, dass der Pastor seine Verantwortung auf dem Dienstweg an den Himmel abgibt, vielleicht aber auch, dass es „im Himmel“ genauso lieblos wie in einem Büro zugeht – die Seelen werden verwaltet. Das lyrische Ich sieht den Pastor nicht „Erde“ hinabwerfen, sondern „Dreck“ (V. 29) und bewertet damit des Pastors Handeln als ehrfurchtslos bzw. hält ihm vor, dass dieser mit Dreck (= Verleumdung, Abwertung) nach dem tragischen Opfer streng-religiöser Erziehung (Elsa) wirft.

Auch der Titel „Elsa“ ist nichtssagend und zeigt, dass das lyrische Ich sie nicht als individuelle Person wahrnimmt. Bezeichnend ist, dass er Elsa im Gedicht nie mit ihrem Namen, sondern meist mit verniedlichend-abwertenden Begriffen benennt. Durch die gleichförmigen Reime verniedlicht das lyrische Ich wohl bewusst dieses tragische Ereignis und verkleinert damit auch seine möglichen Schulanteile.

4. FAZIT

Die Analyse bestätigt die o.a. These von der 16-jährigen, sehr religiösen, kindlichen Elsa, die sich nach der 1. enttäuschenden Liebesnacht umbringt.   

Sehr auffällig ist die Mitleidslosigkeit des lyrischen Ichs bezüglich dieses tragischen Schicksals, das typisch für die streng religiös-moralische Erziehung der 1960er Jahre ist. Dessen Opfer waren oft Mädchen, die mit diesen kirchlichen Ansprüchen überfordert und hin- und hergerissen waren zwischen z.T. völlig unrealistischen Vorstellungen von wahrer Liebe, kirchlichen Verboten und eigenen sexuellen Bedürfnissen. Diesem Dilemma konnten sie infolge ihrer Kindlichkeit und Unmündigkeit nicht selten nur durch Selbstmord entkommen. Bei aller berechtigten Kritik am Pastor verdrängt das lyrische Ich seine eigenen Schuldanteile, da es hätte wissen müssen, was sein reines Verlangen nach Sex bei Elsa anrichten würde.

Der Autor ist sehr früh (mit 34 Jahren) bei einem Autounfall ums Leben gekommen, hat seine Jugend in Heimen, 13 Jahre wegen vieler Einbrüche im Gefängnis verbracht und ist erst dort zum Dichter geworden. Da er sehr authentisch schreibt, hat er wohl selbst so etwas Ähnliches erlebt. Typisch für ihn ist, dass er seine Erlebnisse meist als Anklagen gegen die Gesellschaft formuliert und eigene Schuldanteile gerne verdrängt.

Das Gedicht richtete sich damals sicher an eine männlich orientierte Zielgruppe, die Schuldabwehr, Sexismus und Kritik an kirchlicher Moral teilte.

Seine Kritik an überstrenger moralischer Erziehung und pastoralem Fehlverhalten ist dennoch berechtigt und zeitlos gültig, wobei es heute z.B. um Zeugen Jehovas u.a. Sekten, aber auch streng muslimische Familien in der BRD geht, in denen Mädchen Opfer von „Ehrenmorden“ werden können.   

10. JÜRGEN THEOBALDY: SCHNEE IM BÜRO (1976)

       Eine gewisse Sehnsucht nach Palmen. Hier

       ist es kalt, aber nicht nur. Deine Küsse

       am Morgen sind wenig, später sitze ich

       acht Stunden hier im Büro. Auch du

   5  bist eingesperrt und wir dürfen nicht

       miteinander telefonieren. Den Hörer abnehmen

       und lauschen? Telefon, warum schlägt

       dein Puls nur für andere? Jemand fragt:

       „Wie geht’s?“, wartet die Antwort nicht ab

 10  und ist aus dem Zimmer.

       Was kann Liebe bewegen? Ich berechne

       Preise und werde berechnet. All die Ersatzteile,

       die Kesselglieder, Ölbrenner, sie gehen

       durch meinen Kopf als Zahlen, weiter nichts.

 15  Und ich gehe durch jemand hindurch

       als Zahl. Aber am Abend komme ich zu dir

       mit allem, was ich bin. Lese von

       Wissenschaftlern: auch die Liebe ist

       ein Produktionsverhältnis. Und wo sind

 20  die Palmen? Die Palmen zeigen sich am Strand

       einer Ansichtskarte, wir liegen auf dem Rücken

       und betrachten sie. Am Morgen kehren wir

       ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.

 24  Er hat eine Nummer, wie das Telefon.

JÜRGEN THEOBALDY – ZUR PERSON:

Geboren 1944 in Straßburg, aufgewachsen in Mannheim. Zunächst Lehre im kaufmännischen Bereich, dann Gelegenheitsarbeiter, schließlich ab 1966 Studium an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg und Heidelberg. 1970 Lehrerexamen, anschließend Studium der Politologie und Germanistik. Seit Mitte der 70er Jahre freier Schriftsteller, lebt heute in Berlin. Theobaldy verbindet in seiner Lyrik Leben und Literatur, Ideologie und Wirklichkeit miteinander. Er lebt, wie er schreibt, und er schreibt, wie er lebt.

1. ÜBERBLICKSINFORMATION:

Das typische Alltagslyrik-Gedicht „Schnee im Büro“ (1976) von Jürgen Theobaldy (geb. 1944) aus der Epoche der Gegenwartslyrik spiegelt die Gedankenwelt einer in einer festen Partnerschaft in der 1970er Jahren lebenden Person wider, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet.     

Die von nüchternen Zahlen bestimmte Tätigkeit beeinflusst massiv das eintönige Privatleben dieser Person und seine wenig erfüllte sowie emotionsarme Beziehung zum anderen Partner.

Mit dieser restlos durchkalkulierten Welt haben sich – trotz aller Kritik – beide wohl am Schluss abgefunden, da sie morgens wieder zu ihrem Arbeitsplatz im Büro zurückkehren.

2. FORMALE ANALYSE

Das Gedicht besteht aus 2 Strophen, wobei die 1. Strophe aus 10 und die 2. Strophe aus 14 Zeilen besteht. In beiden Strophen befasst sich das lyrische Ich mit der Beeinträchtigung des Privatlebens durch den Büroalltag.    

Während die 1.Strophe die zu kurze Zeit der Zärtlichkeit zu Hause und die Isolation im Büro zeigt, beschreiben die Gedanken des lyrischen Ichs in der längeren 2. Strophe den sein tristes Leben dominierenden Kreislauf vom Büro zum eintönigen Privatleben am Abend und wieder zurück zum Büroalltag am nächsten Morgen.

Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen sehr unharmonischen, konturlosen, zerfahrenen, unpoetischen Eindruck hinterlässt. Die Ellipsen (Z.1,2,6f.,12f.,14,23f.) zeigen die nur angedeuteten Wünsche und Gefühle des lyrischen Ichs. Viele Metaphern („Schnee im Büro“,Titel; „Palmen“,Z.1; „Es ist kalt“, „Deine Küsse am Morgen sind wenig“, Z.2f.; “Auch du bist eingesperrt“, 4f.; „Telefon, warum schlägt dein Puls nur für andere?“, Z.7f.; „Was kann Liebe bewegen?“ und „Ich berechne und werde berechnet“, Z.11f.; „sie gehen durch meinen Kopf als Zahlen“, Z.13f.; „“Ich gehe durch jemand hindurch als Zahl“, Z.15f.; „Die Palmen zeigen sich am Strand“, Z.20) verdeutlichen Sehnsüchte, aber auch Beziehungslosigkeit und Isolation der Person. Es gibt einen Vergleich (Z.24), 2 Alliterationen (Z.2,16) und eine Verdopplung (Z.20).

Auffällig sind 5 Fragen in beiden Strophen. Die ersten 3 Fragen stellen seinen Büroalltag, die 4. Und 5. sein Privatleben in Frage. Sehr bedeutsam sind die fast durchgängigen Enjambements in beiden Strophen, die den Gedanken meist eine überraschende Wendung geben.

Der Satzbau ist fast nur parataktisch (HS). Es gibt nur einen NS (Z.17). Dies zeigt das einförmige Leben des lyrischen Ichs, das kaum Abwechslung kennt und in den immer gleichen Strukturen gefangen (Z.5) ist.

3. INTERPRETATION

Das lyrische Ich ist wohl ein Mann, da nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“(Z.1), wenig „Küsse am Morgen“(Z.2f.), der „nicht nur“ als „kalt“ (Z.2) empfundene beziehungslose Büroalltag, die wissenschaftliche Lektüre über Liebe als „Produktionsverhältnis“(Z.19) eher männliche Denk- sowie Verhaltensweisen widerspiegeln und die Biografie des Autors auf die Verarbeitung eigener Erlebnisse hinweist (s.u.).

Er befindet sich im Büro und lässt seine Gedanken zu der geliebten Partnerin und ihrem Privatleben abschweifen. Zugleich wird sein durchgeplanter, von Zahlen bestimmter Büroalltag geschildert. Nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“ (Z.1) hat das lyrische Ich zu Beginn der 1. Strophe, was zeigt, dass sich sein Verlangen nach Urlaub, Wärme und einer anderen, erfüllteren Welt in Grenzen hält.   

Die Situation „hier im Büro“ (Z.1,4) ist kalt. Das Enjambement in Z.1f. verstärkt noch den Kontrast zwischen Arbeits- und Gedankenwelt. Die Person fühlt sich „8 Stunden“ genauso „eingesperrt“(Z.4f.) wie seine Partnerin.

Deren „Küsse“(Z.2) lassen auf eine innige Beziehung schließen, jedoch wird diese durch das Enjambement „am Morgen sind wenig“ (Z.3) als unzureichend bezeichnet. Die Gedanken an den Beginn des Büroalltags lassen kaum Raum für intensivere Zärtlichkeiten. Dieser ist durch Ge- u. Verbote geregelt.

Die 1. Frage („Den Hörer abnehmen u. lauschen?“, Z.6f.) drückt die Einsamkeit des lyrischen Ichs aus angesichts des Verbots privater Telefonate am Arbeitsplatz. Selbst dieser verständliche Wunsch wird noch durch ein Fragezeichen relativiert, was die Verunsicherung des lyrischen Ichs zeigt.  

Es scheint ihm selbst nicht klar zu sein, worauf es lauschen möchte. Der Puls des Lebens („Telefon“ als Symbol für menschliche Kommunikation und Beziehungen) schlägt nicht für das lyrische Ich, sondern „nur für andere“. Dies wird in die direkt anschließende 2. Frage (Z.7f.) gekleidet, die für die Person nicht beantwortbar und ein hilfloser, verzweifelter Aufschrei ist, aus dieser Isolation auszubrechen. Die 3. floskelhafte Frage („Wie geht’s?“, Z.9) verdeutlicht die Oberflächlichkeit der kollegialen Beziehungen, die von Gleichgültigkeit bestimmt ist. Eine mögliche Antwort wird am Ende der 1. Strophe gar nicht erst abgewartet, da keiner echtes Interesse am wirklichen Befinden des lyrischen Ichs hat.

Die 2. Strophe beginnt mit der rhetorischen und resignativen 4. Frage: „Was kann Liebe bewegen?“ (Z.11), wobei statt einer möglichen Antwort (‘fast nichts’ oder vielleicht sogar ‘nichts’) ein reines, aus der Arbeit abgeleitetes Zahlenwerk folgt, das schließlich eben auch auf das Beziehungsverhältnis übergreift. So wie er Preise berechnet, wird er auch berechnet (Z.1f.), d.h. er wird auch unter Kosten-Nutzen-Aspekten beurteilt. „Ersatzteile“ (Z.12) symbolisieren die Ersetzbarkeit, Austauschbarkeit, fehlende Individualität u. Verdinglichung, die ihm als einziges durch den Kopf geht (Z.13f.) und sein ganzen Denken bestimmt, so dass er sogar selbst „durch jemand hindurch“ (Z.15) geht, diesen also gar nicht richtig wahrnimmt. Das überraschende Enjambement „als Zahl“ (Z.16) zeigt, dass er schon selbst im Büro zu einer anonymen Ziffer geworden ist u. seinen Kollegen nur noch in gleicher (kalkulationsdominierten) Weise begegnen kann.

Das „aber am Abend komme ich zu dir“ (Z.16) lässt nur scheinbar hoffen, dass das lyrische Ich zu Hause diese eintönige, von nüchternen Zahlen bestimmte Bürowelt hinter sich lassen kann, da mit dem erneuten Enjambement („mit allem, was ich bin“, Z.17) deutlich wird, dass die Person die frustrierende Last des Arbeitsalltags mit nach Hause nimmt. Er kann auch im Privatleben nicht abschalten, das durch den Büroalltag weitgehend dominiert wird.

Selbst beim Lesen greift er statt zu entspannender Lektüre zu wissenschaftlichen Büchern, laut denen auch „die Liebe“ den Gesetzen des Marktes gehorcht bzw. von Kosten-Nutzen-Aspekten bestimmt ist, was er wohl resignierend hinnimmt. Seine verzweifelte 5. Frage, wo die Palmen (d.h. die Wünsche und Sehnsüchte nach einem anderen Leben) seien, wird nur scheinbar beantwortet. Sie „zeigen sich am Strand“ (Z20), sind aber für ihn – so das wiederum überraschende und ernüchternde Enjambement in der nächsten Zeile – nur auf „einer Ansichtskarte“ (Z.21), also in weiter Ferne. Beide Partner „liegen auf dem Rücken“ (Z.21). Dies könnte vielleicht ihre Hilflosigkeit (am Boden?!), psychische Erschöpfung (nach dem frustrierenden Arbeitsalltag) oder auch Unfähigkeit symbolisieren, wieder auf die Beine zu kommen. Mit dem Enjambement „und betrachten sie“ (Z.22) wird diese (gewollte) Vermutung dann relativiert, jedoch bleiben beide beim Betrachten einer Ansichtskarte, und nichts deutet darauf hin, dass sie sich ihre Wünsche auch erfüllen.

Hier zeigt sich die Genügsamkeit im abendlichen Miteinander, wenn der Blick auf die Ansichtskarte die vielleicht nicht erfüllende, aber doch hinreichende Abendbeschäftigung ist. Insgesamt leben das lyrische Ich und dessen Geliebte ein leidenschaftsloses, indifferentes, unterkühltes Leben ohne Höhepunkte, auf einem ewig gleichbleibenden mittleren Niveau. Am Morgen „kehren“ beide wieder wie immer „ins Büro zurück, jeder an seinen Platz“ (Z.22f.). Dies bedeutet, dass der/die PartnerIn einen ähnlichen Beruf hat wie das lyrische Ich und wohl ebenso darunter leidet. Mit dieser nüchtern kalkulierten Welt hat sich das lyrische Ich zuletzt, bei aller Kritik, doch abgefunden. Zwar ist diese Welt kalt, „aber nicht nur“ (Z.2).  

Die Erwartungen an das Leben sind insgesamt durch die Bedingungen und Anforderungen des Arbeitsalltags geprägt. Dieser ist als das eigentliche Lebensfeld anerkannt, wenn das lyrische Ich die zentrale Standortbestimmung vornimmt: Nicht zu Hause ist man an seinem Platz. Im Gegenteil. Entlarvend und uneingeschränkt wird festgestellt: „Am Morgen kehren wir jeder ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.“ (Z.22f.) Dort ist man zugeordnet seinem nummerierten Platz, seiner Telefonnummer sowie dem eigenen Leben als Zahl, was somit als gegeben und Ausdruck eines scheinbar unabänderlichen Kreislaufes hingenommen wird.  

Der Titel „Schnee im Büro“ weist auf die (gefrorene) Beziehungskälte im Büroalltag hin, die aktive Lebensfreude, Spontaneität und tiefere emotionale Beziehungen auch im Privatleben verhindert.

4. FAZIT

Die Analyse bestätigt die These in der Einleitung von dem lyrischen Ich als Person, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet, was erhebliche Auswirkungen auf ihr Privatleben hat. Jedoch scheint der Mittelpunkt seines Lebens das Büro und nicht das ebenso unterkühlte Privatleben zu sein. Die Hauptzielgruppe sind daher berufstätige kinderlose Paare, die unter der Beziehungskälte am Arbeitsplatz leiden, so dass auch ihre private Beiziehung dadurch beeinträchtigt wird. Theobaldy, der schreibt, wie er lebt, hat hier laut Selbstaussage eigene frühe Erlebnisse im kaufmännischen Bereich verarbeitet und für sich daraus durch Lehrerexamen und z.B. Politologie-Studium die richtigen beruflichen Konsequenzen gezogen.  

Sehr anschaulich schildert er als Politologe die Verdinglichung des Menschen durch seine Arbeit und möchte meines Erachtens vor der Gefahr warnen, dass infolge die Deregulierung der Gefühle am Arbeitsplatz dieser als sicherer und verlässlicher Zufluchtsort erscheint. Die Entmenschlichung von Arbeit ist auch heute noch angesichts des überall wachsenden negativen Arbeitsstresses aktueller denn je.

Mich hat diese Alltagslyrik sehr berührt, da sie die Auswirkungen des durchkalkulierten Büroalltags auf das Privatleben sehr lebensnah zeigt.

11. ERICH FRIED: DIE MIT DER SPRACHE (1972)

        Ich beneide die mit der großen Sprache

       die reden von den Leuten

       als ob es die Leute gäbe

       sie reden vom Vaterland

  5   als ob es ein Vaterland gäbe

       und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit

       als gäbe es alle drei

       Tapferkeit Feigheit Liebe

       und sie reden vom Schicksal

10   als ob es ein Schicksal gäbe

       Und ich bestaune die mit der scharfen Sprache

       die reden von den Leuten

       als ob es sie gar nicht gäbe

       und vom Vaterland

15   als ob es kein Vaterland gäbe

       und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit

       als wäre es klar

       daß es das alles nicht gibt

       und sie reden vom Schicksal

20   als ob es kein Schicksal gäbe

       Und manchmal weiß ich nicht

       wen ich beneide und wen ich bestaune

       als gäbe es nur Staunen und keinen Neid

       oder als gäbe es nur Neid und kein Staunen

25   als gäbe es nur Größe aber nicht Schärfe

       oder als gäbe es nur Schärfe und keine Größe

       und ich weiß dann nicht ob es

       etwas gibt wie Reden und Wissen

       oder wie Geben und mich

30   nur daß es so nicht geht

AUFGABE:

Analysieren Sie das Gedicht „Die mit der Sprache“ (1972) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

LEHRERERWARTUNGSHORIZONT (LEH)

Der Schüler, die Schülerin

1.1. benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit etc.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für zeitlose gesellschaftskritische Gegenwartslyrik der 70er Jahre dar.

1.2. gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:

oberflächlicher, rein rhetorischer Gebrauch von Sprache besonders bei wertkonservativen + links intellektuellen Politikern am Beispiel des Begriffs „Vaterland“ und dessen emotionale Eigenschaften / Tugenden (Liebe, Tapferkeit, Feigheit)

1.3. beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts,

mit Verweis auf 3 Strophen (je 10 Z.), fehlende Interpunktion, lyrisches Ich, weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime), Zeilensprung (Z.27 f.), These – Gegenthese – Schlussfolgerung (Ablehnung beider Positionen), gleichförmiger Satzbau etc.

1.4. erläutert deren Funktion, z.B. 3-teiliger Aufbau als Erörterungsansatz mit Schlussfolgerung;

Unsicherheit der Positionen wird unterstrichen durch fehlende Interpunktion, Vorbereitung der Schlussfolgerung (Z.30), Hervorhebung der Z.28 durch Enjambement, Gleichförmigkeit der scheinbar konträren Positionen, Unterstreichung der inhaltlichen Ungereimtheiten durch fehlende Endreime etc.

1.5. untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.

Vordergründiger Neid des lyrischen Ichs auf die

  pathetische Haltung der wertkonservativen Politiker (Z.1-2)

  Verallgemeinerung der Menschen (Z.2f.)

  unkritische Annahme eine festen Vorstellung des Begriffs „Vaterland“ (Z.4f., Missbrauch durch Nazis)

  Zuschreibung von vaterländischen Tugenden (Z.6-8) aus militärischem Bereich (Anklang an NS-Zeit?)

  Verantwortungsabgabe für NS-Zeit durch inhaltsleeren Schicksalsbegriff (Z.8-10), Fatalismus

Vordergründige Bewunderung des lyrischen Ichs für die

  scharfe Kritik der radikalen Intellektuellen (Z.11)

  Missachtung der menschlichen Bedürfnisse (Z.12f.) und des einfachen Volkes

  Verneinung des Vaterlandbegriffes (Z.14f.) und dessen Zuschreibungen (Verneinung des Staats?)

  unbedingter Machbarkeitswahn (Z.19f.)

Ablehnung des Ausschließlichkeitsanspruchs der beiden konträren Positionen in Strophe 1 und 2

  unsichere Einstellung (Z.21-22)

  Kritik an vorschneller, emotional beeinflusster Übernahme fremder Positionen durch das Volk (Z.21-24)

  Entlarvung beider Gegenpositionen (scharf/groß) als Scheingegensätze infolge missbräuchlichen Umgangs mit Sprache (Z.25f.)

   Infragestellung zentraler Wirklichkeitsformen („Reden u. Wissen“, Z.28), des pol. Engagements des Einzelnen und des Verantwortungsbewusstseins der Politiker sowie der Intellektuellen („Geben und mich“, Z.29)

  Schlussappell: Ablehnung von Positionen mit unbedingtem Wahrheitsanspruch.

1.6. beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.

Emphasen, Parallelismen, Aufzählungen,, Ironie, Anaphern, Klimax, Konjunktiv, indirekte Frage, Als-ob-Konstruktionen, Chiasmus (Z.6-8,23f.,25f.), Scheinwiderspruch (Z.25), Floskeln, Verallgemeinerungen („den Leuten“, Z.2), Alliterationen (Z.4,6,11,14,16,24), Metaphern (Z.1,11) etc.

1.7. erläutert deren Funktionen (z.B.)

 Verstärkung der Gleichartigkeit der scheinbar gegensätzlichen Positionen (Scheinwidersprüche), Entlarvung der Inhaltsleere der pathetischen Redeweisen, Lächerlichmachung der scheinbar überlegenen Positionen,

 Aufforderung, solche Positionen kritisch zu hinterfragen, Anzweifelung des Realitätgehalts dieser gegensätzlichen Haltungen, Bezug auf anonyme Instanzen; scheinbarer Wohlklang steht im Widerspruch zur Inhaltsleere etc.

1.8. arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.

 Anlass zur kritischen Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf meinungsbildende Instanzen.

 Kritik an Autoritätsgläubigkeit und fehlendem politischen Engagement

 Warnung vor den manipulativen Tendenzen medialer Öffentlichkeit.

 indirekter Appell zur Übernahme von Verantwortung und Selbstbestimmung

1.9. ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.

  weitgehend apolitische Haltung der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit

  restaurative (rückwärtsgewandte), konservative Politiker in den 60er Jahren

  antinationale Haltung der APO, terroristische Radikalisierung durch RAF

  radikale Ablehnung konservativer Werte wie Vaterland

  pazifistische (Krieg ablehnende) Grundhaltung der 68er Bewegung

1.10. wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung.

Dabei verweist er/sie z.B. auf zeitlose Aktualität, Verwendung von Floskeln, ästhetische Gestaltung, vergleichbare Texte des Autors / anderer Autoren, die durch Sprache hervorgerufene Autoritätsgläubigkeit etc. Komplizierter Satzbau und Unentschlossenheit (Z.30) entsprechen Komplexität des Problems. Appell an ausgewogene politische / gesellschaftskritische Argumentation.

1.11. setzt sich mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

Dabei verweist er/sie z.B. auf den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs- u. Rezeptionsbedingungen, den Adressatenkreis (Intellektuelle der oberen Mittelschicht, Studenten, Medien = Mainstream) den gesellschaftlichen Einfluss von Dichtern, die Sensibilisierung für eigenes Sprachverhalten, eigene Werthaltungen, gesellschaftliches Handeln etc.

Appell an sprachliche Sensibilität kann nur langfristig Wirkung entfalten; abhängig von öffentlichem Diskurs

12. ERICH FRIED: GRÜNDE (1996)

       „Weil das alles nicht hilft

       Sie tun ja doch was sie wollen

       Weil ich mir nicht nochmals

       die Finger verbrennen will

  5   Weil man nur lachen wird:

       Auf dich haben sie gewartet

       Und warum immer ich?

       Keiner wird es mir danken

       Weil da niemand mehr durchsieht

10   sondern höchstens noch mehr kaputtgeht

       Weil jedes Schlechte

       vielleicht auch sein Gutes hat

       Weil es Sache des Standpunktes ist

       und überhaupt wem soll man glauben?

15   Weil auch bei den andern nur

       mit Wasser gekocht wird

       Weil ich das lieber

       Berufeneren überlasse

       Weil man nie weiß

20   wie einem das schaden kann

       Weil sich die Mühe nicht lohnt

       weil sie alle das gar nicht wert sind“

       Das sind Todesursachen

       zu schreiben auf unsere Gräber

25   die nicht mehr gegraben werden

       wenn das die Ursachen sind

AUFGABE:

Analysieren Sie das Gedicht „Gründe“ (1966) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

LEHRERERWARTUNGSHORIZONT (LEH)

Der Schüler, die Schülerin

(1.1.) benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit usw.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für gesellschaftskritische Lyrik der Gegenwart dar.

(1.2.) gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:

 fehlendes politisches und / oder gesellschaftliches Engagement und mögliche Konsequenzen

(1.3.) beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts, indem er z.B. verweist auf

 dreizehn zweiteilige Abschnitte (Unglückszahl?!)

 die zweiteilige Gliederung: 11 Doppelzeilen als Zitate und 2 Doppelzeilen als Kommentierung

 den lyrischen Sprecher in der vorletzten Doppelzeile, lyrisches Ich in den Zitaten

 den weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime)

 Zeilensprünge (Z.3f.,11f.,15f., 17f.), Inversionen (Z.6, 23)

 die Besonderheiten der Interpunktion, Satzbau etc.

(1.4.) erläutert deren Funktion, z.B.

 Anführungszeichen als Abgrenzung

 zweiteilige Gliederung als Ausdruck der Dominanz von Abwehrhaltungen

(1.5.) untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.

 die resignative und pessimistische Haltung (Z.1f.)

 den Hinweis auf vergleichbare negative Erfahrung in der Vergangenheit (Z.3f.)

 die Erwartung von Spott und Missachtung (Z. 5 – 6)

 den Hinweis auf bereits geleistetes Engagement; Erwartung von Dank (Z.7f.)

 den Verweis auf fehlende Möglichkeiten, komplexe gesellschaftliche Strukturen zu durchschauen (Z.9f.)

 die Relativierung und kritiklose Hinnahme von Missständen (Z.11f.)

 Orientierungslosigkeit (Z.13f.)

 Bagatellisierung und Verharmlosung der Situation (Z.15f.)

 den Rückzug aufgrund vermeintlich fehlender Kompetenz (Z.17f.)

 die Sorge um negative Konsequenzen (Z.19f.)

 Ablehnung von Engagement aufgrund fehlender Wertschätzung anderer (Z.21f.)

 die Entlarvung der „Gründe“ als „Todesursachen“ durch den lyrischen Sprecher (Z. 23-26)

(1.6.) beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.

die Aneinanderreihung von Einzeläußerungen (direkte Rede), die Dominanz und Wiederholung der Kausalkonjunktion „weil“, Konditionalsatz in der letzten Zeile, die indefiniten Pronomen  „man“, „niemand“, „sie“, „sie alle“, Redensarten, Floskeln, Formulierungen mit negativer Konnotation, Metaphern, Ellipsen, Anaphern, rhetorische Fragen, Alliterationen (Z.3,4,7,26,), Ironie (Titel!)

(1.7.) erläutert deren Funktionen. z.B.

 den Eindruck der Unmittelbarkeit und Authentizität der Aussagen (direkte Rede)

 der vordergründige Bezug auf anonyme Instanzen (Pronomen)

 die Entlarvung der „Gründe“ als „Todesursachen“, die eine tatsächliche kausale Bedeutung erlangen (Wechsel von Kausalsätzen zum Konditionalsatz)

(1.8.) arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.

 Entlarvung der „Gründe“ als Ausreden und Vorwände

 Anlass zur kritischen Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf (kommunikative) Gewohnheiten

 Kritik an Passivität und fehlendem gesellschaftspolitischen Engagement

 Warnung vor den Konsequenzen fehlender Mitwirkung und Mitverantwortung

 indirekter Appell zur Übernahme von Verantwortung

(1.9.) ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.

 das zunehmende Militärengagement der USA im Vietnam-Krieg (1964-1973)

 die Anfänge der Studentenbewegung und antiamerikanischen Protestbewegung

 weitgehend apolitische Haltung der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit

(1.10.) wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung;

dabei verweist er/sie z.B. auf

 die Verwendung von Floskeln und Redensarten

 das Fehlen eines konkreten kommunikativen Bezugsrahmens / zeitlose Aktualität

 Korrespondenztexte des Autors / anderer Autoren

 die ästhetische Gestaltung

(1.11.) setzt sich mit Möglichkeiten u. Grenzen der Wirkung pol. Lyrik auseinander; dabei verweist er/sie auf

den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs- und  Rezeptionsbedingungen, Adressatenkreis, gesellschaftlichen Einfluss von Dichtern, die Sensibilisierung für eigenes Sprachverhalten, eigene Werthaltungen und gesellschaftliches Handeln etc.

13. HEINRICH HEINE: ZUR BERUHIGUNG (1844)

       Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief –

       Doch jener erwachte und bohrte tief

       In Cäsars Brust das kalte Messer!

       Die Römer waren Tyrannenfresser.

  5   Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.

       Ein jedes Volk hat seinen Geschmack,

       Ein jedes Volk hat seine Größe;

       In Schwaben kocht man die besten Klöße.

       Wir sind Germanen, gemütlich und brav,

10   Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,

       Und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,

       Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.

       Wir sind so treu wie Eichenholz,

       Auch Lindenholz, drauf sind wir stolz;

15   Im Land der Eichen und der Linden

       Wird niemals sich ein Brutus finden.

       Und wenn auch ein Brutus unter uns wär,

       Den Cäsar fänd er nimmermehr,

       Vergeblich würd’ er den Cäsar suchen;

20   Wir haben gute Pfefferkuchen.

       Wir haben sechsunddreißig Herrn

       (Ist nicht zuviel!), und einen Stern

       Trägt jeder schützend auf seinem Herzen,

       Und er braucht nicht zu fürchten die Iden des Märzen.

25   Wir nennen sie Väter, und Vaterland

       Benennen wir dasjenige Land,

       das erbeigentümlich gehört den Fürsten;

       Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.

       Wenn unser Vater spazieren geht,

30   Ziehn wir den Hut mit Pietät;

       Deutschland, die fromme Kinderstube,

       Ist keine römische Mördergrube.

INTERPRETATION EINER SCHÜLERIN (GYMNASIUM, KLASSE 13):

Das von Heinrich Heine im Jahr 1844 veröffentlichte Gedicht „Zur Beruhigung” beschäftigt sich mit den politischen Problemen in Deutschland zu der Zeit, vor allem mit der Einstellung zum Deutschen Bund und richtete sich an das deutsche Volk während dieser vorrevolutionären Phase. Liest man das Gedicht zum ersten Mal, so könnte man denken, dass es einfach nur dazu dient, den Fürsten die Angst vor einem Umsturz zu nehmen. Jedoch erkennt man beim genaueren Lesen die Ironie, die hier vom Schriftsteller verwendet wurde, was typisch für viele Werke dieses Lyrikers ist. In dieser Dichtung verdeutlicht der Autor die Situation in Deutschland im Jahre 1844, also kurze Zeit vor der Märzrevolution. Heine strebt einen Vergleich des deutschen Volkes mit den Römern an, die er als Tyrannenmörder bezeichnet. Davon ausgehend macht er, unter vollem Gebrauch von seinem bekannten Sarkasmus und Ironie, deutlich, dass sich die Deutschen im Vormärz genauso verhalten haben.

„Zur Beruhigung” besteht aus 8 Strophen zu je 4 Zeilen, welche dem Reimschema aabb folgen (Paarreim). In der ersten Strophe leitet Heine das Gedicht ein, indem ein Vergleich der beiden Völker gezogen wird („Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief –”, Z.1). Mit „Wir” bezeichnet er das gesamte deutsche Volk, welches schläft und somit auch keine Gefahr von ihm ausgeht. Dies ist eine Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen. Mit dem Gedankenstrich am Ende der 1. Zeile wird wiederum eine Betonung auf das Verb „schlief” gelegt, das, obwohl es auf Brutus bezogen ist, durch den Vergleich auch eine Aussage über die Deutschen trifft. Auch stellt er diese mit den Mördern Cäsars gleich. Allerdings ändert sich dies in der zweiten Zeile, indem ein „Doch” (Z. 2) eingeworfen und somit verdeutlicht wird, dass Unterschiede vorhanden sind. Heine schreibt, dass „jener” (Brutus) „erwachte und bohrte” (Z. 2). Der erwachende Brutus ist gleichzustellen mit dem hoffentlich bald erwachenden deutschen Volk und das „Bohren” stellt eine Metapher für das Erdolchen der Herrscher dar. In der letzten Zeile der 1. Strophe folgert der Autor aus dieser Aktion, dass die Römer Tyrannenfresser waren und somit vor einem Mord nicht zurückschreckten, um sich damit eines unangenehmen Machthabers zu entledigen.

In der zweiten Strophe wird der zuvor angedeutete Unterschied direkt angesprochen: „Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.” (Z. 5). Damit verdeutlicht Heine, dass „Wir” keine Römer seien und daher auch keine Tyrannenfresser, sondern ein kultiviertes und zivilisiertes Volk, das Tabak raucht und sich den sinnlichen Begierden hingibt. In den nächsten beiden Zeilen spricht das lyrische Ich nicht von den Deutschen oder den Römern, sondern von Völkern allgemein. Dass „jedes Volk (…) seinen Geschmack” (Z. 6) und „seine Größe” (Z. 7) hat. Von der „Größe” kann man auch auf den Mut oder die Angst bezüglich eines Widerstandes gegen die Staatsmacht schließen. Die letzte Zeile der 2. Strophe (Z. 8 „In Schwaben kocht man die besten Klöße.”) ist wie ein plötzlicher Einwurf, und zwar ohne Zusammenhang zu den vorherigen Zeilen und hier nicht nur fehl am Platz, sondern auch noch vollkommen belanglos. Es wirkt daher eher als ein Mittel, die zuvor erläuterten Auffassungen ins Lächerliche zu ziehen. Somit wird der Sarkasmus aufgezeigt, der in fast jeder Zeile vorhanden ist. Aus diesem Grund müssen die ersten Strophen unter ein anderes Licht gestellt werden, und so kann man nun darauf schließen, dass Heine dem deutschen Volk zumindest das Potenzial zu einer Revolution einräumt.

Eine weitere Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen wird in der 3. Strophe durch die Äußerung „Wir sind Germanen, gemütlich und brav, / Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,” (Z.9-10) noch verstärkt, denn Pflanzen ist es nicht möglich zu schlafen/denken. Die wirkliche Bedeutung liegt jedoch darin, dass sich die Deutschen wahrscheinlich sehr intensiv mit den damaligen Geschehnissen auseinandersetzten. Es scheint, als spielt Heine auf die deutsche Treue an, die das Volk veranlasst, nie Hand an ihre Staatsoberhäupter zu legen. Aber wenn man den vom Autor so typischen Sarkasmus berücksichtigt, wird das genaue Gegenteil ausgesagt, sprich, dass es den Deutschen sehr wohl nach dem Blute ihrer Fürsten dürstet.

Die 4. Strophe führt den Gedanken der Treue fort durch „Wir sind so treu wie Eichenholz” (Z. 13). Eichenholz ist sehr beständig und hart. Dies könnte eine der ganz seltenen Stellen sein, in der Heine keinen Sarkasmus zu verstecken versucht. Jedoch wird eine Zeile weiter die deutsche Treue mit „Lindenholz” (Z. 14) verglichen. Lindenholz ist leicht verformbar und leicht zu bearbeiten. Es scheint also, als ob die deutschen Seelen und Geister Wachs in den Händen der Herrscher seien und deswegen kein „Tyrannenfresser” (Z. 4) unter diesen zu finden sei.

Die folgende Strophe ist auf zwei Arten zu deuten. Denn „Und wenn auch ein Brutus unter uns wär, / Den Cäsar fänd er nimmermehr, / Vergeblich würd er den Cäsar suchen;” kann sich entweder auf das politische Problem beziehen, dass die Fürsten zu viel Macht haben und ein „Brutus” niemals an diese herankommen könnte. Oder es soll auf die territoriale Situation der Partikularstaaten hinweisen, die zu viele „Cäsaren” (Fürsten) haben, und somit einem „Brutus” das Auffinden des Cäsaren unmöglich macht. Ein Anschlag auf einen höchsten Herrscher könnte es so nicht geben, da es einen solchen Führer ebenfalls nicht gibt und sich viele Fürsten die Gewalt über das eigentliche deutsche Herrschaftsgebiet teilen. Dies erweckt den Eindruck, dass Heine gegen die Vielstaaterei klagt und für einen einheitlichen Machthaber ist. Weiterhin kritisiert er, dass die Fürsten nicht mehr sind wie Cäsar. Cäsar festigte die römische Weltmachtstellung, gründete zahlreiche neue Kolonien, stellte die Wirtschaft auf eine gesunde Grundlage, begann zahlreiche bedeutende Bauwerke, ließ Rechte erfassen und führte den Julianischen Kalender ein. Die Fürsten waren im Deutschen Bund jedoch mehr an der Sicherung ihrer fürstlichen Rechte, als am Aufbau eines einheitlichen Nationalstaates interessiert. Mit „Wir haben gute Pfefferkuchen” (Z. 20) wirft der Autor wieder eine zusammenhangslose Zeile ein und zieht somit wieder alles zuvor Genannte ins Lächerliche.

In der 6. Strophe geht der Schriftsteller weiter auf das Thema der Kleinstaaterei ein, indem er mit den „sechsunddreißig Herrn” (Z. 21) beginnt, womit alle Fürsten der deutschen Staaten gemeint sind. Im darauf folgenden Vers zeigt Heine durch die äußerliche Gestaltung einer Zeile seinen Sarkasmus sehr deutlich auf, wie in keinem der restlichen Teile des Gedichts. Indem er „(Ist nicht zu viel!“, Z. 22) durch die Setzung der Klammern und des Ausrufezeichens versieht, hebt er somit noch einmal seine Meinung zur damaligen territorialen Lage hervor. Danach setzt er mit den Worten fort „und einen Stern/trägt jeder schützend auf seinem Herzen”, (Z. 22f.). Dieser „Stern” bezieht sich auf die Fürsten und stellt deren Adels- und Machtanspruch dar. Dazugehörig wird in Zeile 23 und 24 hinzugefügt, dass dieser sie beschütze und sie daher keine Furcht vor den Ideen des Vormärz haben müssen. Doch dies ist wieder nur eine von Ironie gespickte Textpassage von Heine, denn die revolutionären Gedanken richteten sich vor allem gegen die Regentschaft, die Machtgrundlagen und die Prinzipien des Adels.

Fortfahrend beschäftigt sich die vorletzte Strophe wieder mit der Thematik der Rolle der Fürsten und bezeichnet sie als „Väter” (Z. 25). Weiterhin benennt der Autor das Land, welches den Fürsten „erbeigentümlich” (Z. 27) gehört, als „Vaterland” (Z. 26). Dies ist wieder sarkastisch gemeint und soll einen falschen Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, darlegen. Denn wie kann EIN Volk, das deutsche Volk, zu mehreren Vaterländern zugehörig sein!? Zudem wird auch kritisiert, dass ein großes Land in mehrere Eigentümer unterteilt ist, denn es sollte eine Einheit sein, die auch dementsprechend regiert wird. Dies lässt auf eine demokratische Lösung der politischen Probleme in Deutschland schließen. Danach folgt in Zeile 28 zum dritten Mal eine Verspottung („Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.”), die wieder vollkommen zusammenhangslos eingefügt wurde und ein Fingerzeig Heines auf seinen Sarkasmus darstellt.

Die 8. und letzte Strophe von „Zur Beruhigung” steht nicht im direkten Zusammenhang zur vorherigen und bildet somit einen deutlich abgegrenzten Abschluss. Sie beginnt mit der Zeile 29-31 („Wenn unser Vater spazieren geht, / Ziehn wir den Hut mit Pietät;”) sehr ruhig und ausgeglichen, sogar fast idyllisch. Jedoch wirkt der letzte Vers im totalen Gegensatz dazu und zerstört die vorher aufgebaute Harmonie. Der „deutschen Kinderstube” (Z. 31) wird nun die „Mördergrube” (Z. 32) gegenübergestellt. Die Zeile 32 „Ist keine römische Mördergrube.” wirkt jedoch so sarkastisch, dass es schon fast wie ein Aufruf zu einer Revolution klingt.

Heinrich Heine schuf meiner Meinung nach ein Leitbild für alle politischen Gedichte. Er schrieb nicht nur einen plumpen Aufruf an das deutsche Volk, dass sie endlich „ihren Hintern hoch bekommen und Widerstand leisten sollen”, sondern er verpackt es viel überlegter und anspruchsvoller durch seinen Sarkasmus. Somit übt er mittels seiner wunderbar unterschwelligen Botschaften schwerste Kritik an der politischen Situation seines Vaterlandes in der Zeit des Vormärz. Mit seiner scharfzüngigen und brillanten Dichtung über den Zustand seiner Heimat, zeigt er dem Volk seine Fehler durch ironisch, verpönende Weise auf und gab ihm Anlass sich zu erheben. Schlussfolgernd ist zu sagen, dass der Titel des Gedichts „Zur Beruhigung” schon allein Ironie ist, denn für die damaligen Herrscher wird es alles andere als beruhigend gewesen sein.

14. HANS MAGNUS ENZBERGER: VERTEIDIGUNG DER WÖLFE GEGEN DIE LÄMMER (1982)

       soll der geier vergißmeinnicht fressen?
       was verlangt ihr vom schakal,
       daß er sich häute; vom wolf? soll
       er sich selber ziehen die zähne?

  5   was gefällt euch nicht
       an politruks und an päpsten,
       was guckt ihr blöd aus der wäsche
       auf den verlogenen bildschirm?

       wer näht denn dem general
10   den blutstreif an seine hosen? wer
       zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
       wer hängt sich stolz das blechkreuz
       vor den knurrenden nabel? wer
       nimmt das trinkgeld, den silberling,
15   den schweigepfennig? es gibt
       viel bestohlene, wenig diebe; wer
       applaudiert ihnen denn, wer
       lechzt denn nach lüge?

       seht in den spiegel: feig,
20   scheuend die mühsal der wahrheit,
       dem lernen abgeneigt, das denken
       überantwortend den wölfen,
       der nasenring euer teuerster schmuck,
       keine täuschung zu dumm, kein trost
25   zu billig, jede erpressung
       ist für euch noch zu milde.

       ihr lämmer, schwestern sind,
       mit euch verglichen, die krähen:
       ihr blendet einer den andern.
30   brüderlichkeit herrscht
       unter den wölfen:
       sie gehen in rudeln.

       gelobt sei´n die räuber; ihr,
       einladend zur vergewaltigung,
35   werft euch aufs faule bett
       des gehorsams, winselnd noch
       lügt ihr, zerrissen
       wollt ihr werden, ihr
39   ändert die welt nicht mehr.

KURZINTERPRETATION EINES SCHÜLERS (KLASSE 13):

In seinem 1962 verfassten Gedicht „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ klagt Hans Magnus Enzensberger den durchschnittlichen, politisch nicht engagierten, aber wirtschaftlich benachteiligten Arbeitnehmer an, indem er ihn unter Rückgriff auf Metaphern bewusst macht, dass er seine Opferrolle gegenüber den politisch wie wirtschaftlich Mächtigen selbst verschuldet, weil er durch sein Handeln ihre Machtausübung erst ermöglicht.

Zur formalen Seite lässt sich sagen, dass das Gedicht ohne Reim auskommt und in freien Metren verfasst ist, so dass die Einteilung der 40 Zeilen in fünf tendenziell kürzer werdende Abschnitte nur dazu dient, Absätze von der Qualität gedanklicher Einschnitte zu schaffen. Auffällig ist die Kleinschreibung aller Wörter, in Hinblick auf Interpunktion und Syntax genügt Enzensberger weitgehend den gängigen Regeln der Prosasprache.

Enzensberger beginnt seinen Gedankengang – man könnte mit Blick auf die Überschrift von einem Plädoyer sprechen – mit einer geballten hintereinander Reihung rhetorischer Fragen, die sich an den vielzitierten „kleinen Mann“ in unserer Gesellschaft richten, der sich beim Ansehen der Fernsehnachrichten über die großen Einflussträger in Politik, Wirtschaft und auch Gesellschaft („politruks und päpste“) empört. Durch seine Eingangsfragen, in denen Enzensberger die Mächtigen bildlich als Geier, Schakal und Wolf darstellt, will er dem entrüsteten Kleinbürgertum verdeutlichen, dass man von „denen da oben“ einfach nicht erwarten kann, dass sie sich aus eigenem Antrieb ändern, also „sich selber … die Zähne [ziehen]“. Schließlich liegt es ja in der Natur eines Geiers und Schakals, Aas zu fressen und die Gefährlichkeit des Wolfes ist ebenfalls in seinem Wesen als Raubtier begründet.

Im zweiten Abschnitt erfolgt die grobe Übertragung dieser Tiersymbolik auf gesellschaftliche Verhältnisse: Nachdem sich die Kritik am „blöden“ Betrachter des „verlogenen bildschirms“ schon am Ende des ersten Abschnitts gesteigert hat, prangert der Autor nun – wiederum mit vielen rhetorischen Fragen – das Verhalten der Kleinbürger als systemtragend und damit für die Unrechtsausübung der Machthaber förderlich an. Die Begriffe „general“, „wucherer“, „blechkreuz“ etc. sind hier jeweils als pars pro toto zu verstehen. Sie repräsentieren moralisch negativ behaftete gesellschaftliche Kräfte (Militär, Großkapital), die jedoch erst in Interaktion mit den breiten Gesellschaftsschichten unter ihnen wirksam werden können. So können beispielsweise die militärischen Werte Hierarchie, Ehre und Tapferkeit (symbolisiert durch „blutstreif“ und „blechkreuz“) nur auf der Grundlage breiter gesellschaftlicher Anerkennung bestehen („…wer applaudiert ihnen denn, wer steckt die abzeichen an, …“). Die Frage „wer hängt sich stolz das blechkreuz vor den knurrenden nabel?“ kann als historische Bezugnahme auf den teilweise fanatischen Einsatz deutscher Wehrmachtssoldaten gedeutet werden, die sich über ihren körperlichen Mangel aufgrund Unterversorgung mit Nahrungsmitteln durch militärische Ehrenabzeichen hinwegtrösten ließen. Mit dem bewusst abwertend-sachlichen Ausdruck „blechkreuz“ meint Enzensberger offenbar das „Eiserne Kreuz“ oder ähnliche Orden.

Aber auch im wirtschaftlichen Bereich machen diejenigen, die sich unterprivilegiert fühlen, sich in Wahrheit zu Sekundanten und Wasserträgern der Privilegierten. Sie ordnen sich den ökonomischen Strukturen unter womit sie sich selbst schaden, indem sie es den Reichen ermöglichen, den Reichtum auf ihre Kosten noch weiter auszubauen. Dabei lassen sie sich mit einem „trinkgeld“ abspeisen und mit einem „schweigepfennig“ ruhigstellen. Aus der Feststellung „es gibt viele bestohlene, wenig diebe“ spricht wohl die vom Linksradikalen Enzensberger aus der marxistischen Ideologie entnommene Vorstellung von der zwangsläufigen Akkumulation von Kapital in den Händen weniger auf der einen Seite und vom Elend der Massen auf der anderen. Dies kann nach Marx nur so lange „gutgehen“ wie ein ideologischer Überbau die Gesellschaft zusammenhält und somit eine Revolution des Proletariats verhindert. Was Enzensberger nun den Benachteiligten dieser Entwicklung vorwirft – wie es auch Bertolt Brecht in seinen Werken zu tun pflegt – ist das bereitwillige Festhalten an dieser falschen Ideologie („…, wer lechzt nach der lüge?“).

Im dritten Abschnitt wird dieser systemerhaltende Mechanismus und vor allem der Beitrag, den die Kleinbürger dazu leisten, schonungslos konkretisiert: Aus Feigheit und Bequemlichkeit verzichten sie auf eine eigene aufrichtige Wahrheitssuche und überlassen das Denken ihren Ausbeutern, den „wölfen“. Sie sind leicht zu führen („der nasenring euer teuerster schmuck, …“) und zufriedenzustellen („keine täuschung zu dumm, kein trost zu billig, …“).

Eine sprachliche Auffälligkeit in diesem Abschnitt ist der gehäufte Gebrauch von Partizipien („scheuend“, „abgeneigt“, „überantwortend“) und die hintereinander Reihung von durch Kommata abgetrennten Ellipsen („der nasenring…billig,…“). Das verstärkt die Eindringlichkeit des negativen Bildes, das hier vom einfachen, politisch passiven Arbeiter gezeichnet wird, weil viele Eigenschaften auf engem Raum gebündelt präsentiert werden und man – aufgrund des sperrigen Satzbaus – nicht so leicht über diese Stelle hinwegliest.

Aus diesem letzten Grund nimmt Enzensberger vermutlich auch im ersten Satz des dritten Abschnitts eine Inversion vor: „…, schwestern, mit euch verglichen, die krähen: …“.

Nachdem schon zuvor die Erwähnung der Wölfe in der Rolle der wirtschaftlichen Ausbeuter und politisch Mächtigen den Bezug zum Titel hergestellt hat, werden jetzt entsprechend die Leser, an die der Autor das Gedicht adressiert, als „lämmer“ direkt angesprochen. Diesen wirft der Autor vor, sich im Grunde weniger sozial als Krähen und Wölfe („sie gehen [immerhin] in rudeln“) zu verhalten, da sie sich gegenseitig eine gesellschaftliche Moral vorgaukeln („ihr blendet einer den andern“).

Den letzten Abschnitt leitet Enzensberger mit dem provokativen Satz „gelobt sein die räuber“ ein. Dies meint er nicht wörtlich, sondern nur im Vergleich zur völlig passiven, bereitwilligen und im größten Leiden noch verlogenen Handlungsweise der Opfer.

Der deutliche Übertreibungscharakter dieser Schlusssätze („einladend zur vergewaltigung“, „zerrissen wollt ihr werden“) ermöglicht eine eindringliche, komprimierte Zusammenfassung des Kernproblems, das den Gegenstand des Gedichts bildet: Das Proletariat trägt die Schuld an seiner benachteiligten Situation, weil ihm der Wille zur Veränderung der Welt fehlt, nicht aber die Macht.

Vor diesem Hintergrund ist das Gedicht als eine sozialrevolutionäres Werk einzuschätzen, das die Unterprivilegierten zum Erkennen ihrer eigenen Situation und zum gemeinsamen Ändern der Umstände auffordert (im Sinne des alten Arbeiterliedes „Mann der Arbeit, aufgewacht und erkenne Deine Macht! Alle Räder stehen still wenn Dein starker Arm es will…“).

Das Gedicht ist handwerklich geschickt gestaltet und könnte – rein von der Versprachlichung her – eine große Überzeugungswirkung haben, wenn auch die inhaltliche Argumentation viele Ansatzpunkte zur Kritik bietet, da sie sehr undifferenziert von der marxistischen Grundhaltung ausgeht.

15. ERICH FRIED: SPRUCH (13.12.1945)

1     Ich bin der Sieg

2     mein Vater war der Krieg

3     der Friede ist mein lieber Sohn

4     der gleicht meinem Vater schon

ERICH FRIED – ZUR PERSON:

Erich Fried, geboren 1921 in Wien war ein österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist jüdischer Herkunft. Nach dem Tod seines Vaters Hugo 1938, verursacht durch Folterungen während eines Verhörs durch die Gestapo, wanderte Fried mit seiner Mutter aus dem mittlerweile an Deutschland angegliederten Österreich nach London aus. Dort schlug er sich während des Krieges mit Gelegenheitsarbeit durch und arbeitete anschließend für verschiedenste neue Zeitschriften. Fried war politisch sehr engagiert. So trat er dem „Freien Deutschen Kulturbund“, „Young Austria“, sowie später auch dem „Kommunistischen Jugendverband“ bei, den er allerdings 1943 aufgrund stalinistischer Tendenzen wieder verließ. Von 1952 bis 1963 arbeitete Fried als politischer Kommentator für den German Service der BBC. Seinen ersten Gedichtband, die antifaschistische Lyrik-Sammlung „Deutschland“, erschien 1944. Im Jahr 1963 trat er der durch Hans-Werner Richter gegründeten literarischen Gruppe 47 bei. Nach 1968 engagierte er sich insbesondere in Deutschland schriftstellerisch und politisch. 1988 verstarb der Lyriker in Baden-Baden an Darmkrebs.

2 KURZINTERPRETATIONEN:

1. In dem Gedicht „Spruch“ von Erich Fried (1921-1988), das er 1945/46 auf einer Neujahrkarte

verschickte, behandelt der Autor die Beziehung von Krieg und Frieden. Das Gedicht gehört zur Nachkriegsliteratur, was sich auch in der behandelten Thematik Krieg/Frieden zeigt.

In seinem Gedicht „Spruch“ stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden konträren Punkten „Krieg“ und „Frieden“ her. In diesem Vergleich stellt der „Krieg“ den Vater und der Friede dessen Enkel dar. Das lyrische Ich, der „Sieg“, versteht sich als Übergang, der beide verbindet. Bedenklich scheint dem Sprecher die politische Situation: Der Friede nehme bereits erneut die Gestalt des Krieges an.

Das kurze Spruch- Gedicht hat vier Zeilen, die in Form von Paarreimen organisiert sind. Die Zeilen haben kein einheitliches Metrum. Die Sätze, die ausschließlich Aussagen darstellen, sind einfach strukturiert und verwenden eine schlichte, verständliche Sprache. Satzzeichen tauchen nicht auf. Der Charakter des Gedichtes ist ein einfacher Spruch, wie bereits der Titel des Gedichtes vermuten lässt. „Spruch“, das lässt an Kalendersprüche oder knapp formulierte Lebensweisheiten erinnern. Dieser Vierzeiler soll einfach zugänglich und leicht zu behalten sein, weswegen eine gehobene Sprachwahl nicht sinnvoll erscheint.

Fried verwendet in seinem Gedicht eine Reihe von Personifikationen. So stellt er „Sieg“ (Z.1) als lyrische Ich, den „Krieg“ (Z. 2) als dessen Vater und den „Frieden“ (Z. 3) als den Sohn des lyrischen Ichs dar. Indem er Krieg und Frieden gegenüberstellt bedient sich der Dichter einer Antithese, die er in Form eines Vergleiches formuliert. Damit stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden gegensätzlichen Dingen „Krieg“ und „Frieden“ her. Diese Verbindung kommt über die Komponente „Sieg“ zustande. Das bedeutet, dass am Anfang der Krieg in Form desVaters stand. Dieser brachte das lyrische Ich, somit den Sieg, hervor. Dieser wiederum zeugte einen Sohn und zwar den Frieden.

Abschließend schreibt Fried: „Der [Sohn] gleicht meinem Vater schon“ (Z. 4). Das bedeutet, dass der Sohn dem Großvater, also der Friede dem Krieg, immer ähnlicher werde. Damit stellt der Autor die These auf, Krieg und Frieden seien keine Gegensätze, sondern sich ähnelnde Dinge. Aus Krieg werde durch den Sieg einer Partei Frieden, der nach einiger Zeit wieder zu einem neue Krieg führe.

Diese gesellschaftskritische These ist ein Resultat der Erlebnisse und Erfahrungen Frieds während des Zweiten Weltkriegs, als er vor den Nationalsozialisten, die bereits seinen Vater umgebracht haben, nach London flüchtet, wo er den Krieg erlebt. Es zeigt sich, dass der Autor dem Frieden nicht traut. Diese lässt sich an der Phase zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg veranschaulichen. Dort ist aus dem Frieden, der dem Deutschen Reich diktiert wurde, ein neuer Krieg entstanden.

Das Gedicht „Spruch“ ist ein typisches Beispiel für ein Gedicht des politisch sehr engagierten Erich Fried, in dem er in der literarischen „Stunde Null“ den eigenen politischen Standpunkt und seine Befürchtungen verarbeitet.

2. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ ist uns von Heraklit von Ephesus (ca. 500 v. Chr.) überliefert. Und auch Erich Fried bezeichnet in seinem „Spruch“ aus dem Jahre 1945 den Krieg als den Vater des Sieges, verkörpert durch das lyrische Ich, und als den Großvater des Friedens.

Während Heraklits Sentenz auf den ersten Blick und ohne Kenntnis seiner Philosophie schwierig zu erschließen ist, schafft Fried in seinem Vierzeiler ein sofortiges Verständnis beim Leser, indem er Heraklits Familien-Analogie weiterführt und ein ausgeprägtes Porträt der Familie menschlicher Lauf der Dinge liefert. Denn nicht weniger beschreibt der Spruch als den Gang der Welt seit Menschengedenken.

Zum Neujahrswechsel 1945/46 versandte Fried den Spruch auf einer Postkarte an seine Freunde. Ein pessimistischer Neujahrgruß, ein halbes Jahr nach Ende des blutigsten aller jemals gefochtenen Kriege. Der geborene Jude Fried verfolgte das Kriegsende von London aus, nachdem er 1938, auf den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland hin, aus Wien geflohen war.

Großbritannien gehörte zu den Siegermächten des zweiten Weltkrieges, doch die Menschen litten Not. Vor allem für überlebende Juden war der Untergang der Nazis kaum als Sieg über jene zu bezeichnen, in Anbetracht der grausamen Vergehen an Familienmitgliedern und Freunden. Schon die erste Zeile entpuppt sich demnach im historischen Kontext als ambivalent. Ein Sieg ist nicht immer glücklich, ein Sieg macht nicht immer glücklich.

Ein Sieg folgt immer auf einen Krieg bzw. Konflikt – auch Heraklits „Krieg“ ist in diesem allgemeinen Sinne zu verstehen: Das altgriechische Wort „polemos“ kann auch Kampf, Konflikt bedeuten; und auf einen Sieg folgt immer eine kurze oder lange Periode des Friedens. Krieg und Frieden wechseln sich also immer ab, denn nach dem Frieden steht irgendwann wieder der Krieg vor der Tür, der dem Frieden nach Fried sogar „gleicht“.

Diese Periodizität zweier Zustände finden wir nicht nur in Krieg und Frieden, Vater und Sohn, sondern in vielfältiger Weise im natürlichen Lauf der Dinge. Tag und Nacht wechseln sich ab, Sommer und Winter, Warmzeit und Eiszeit. Abstrakt lässt sich von einem Dualismus der Prinzipien Konstruktion und Destruktion sprechen, und vor allem am zweiten Weltkrieg ist dies sehr anschaulich. Fried prophezeite also eine Periode des Friedens, und diese war eine Phase des Wiederaufbaus, der Konstruktion. Nachdem die Kriegsmächte ihre Städte im zweiten Weltkrieg gegenseitig zerbombt, also destruiert hatten, bauten sie sie nach 1945 wieder auf.

Die verheerende Zerstörung Deutschlands war überhaupt die Voraussetzung für einen Neuanfang zur Stunde Null und somit für das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre.

Frieds Spruch ist also sehr realistisch; gleichzeitig aber auch pessimistisch, weil er pünktlich zum ersten Friedensjahr einen neuen Krieg prophezeit, indem er die Ereignisse in einen unentrinnbaren, weil natürlichen Kreislauf stellt. Das lapidare Auslassen von Satzzeichen verstärkt den fatalistischen Charakter des Gedichts. Denn was nützt (deutsche) Korrektheit schon, wenn es um Leben und Tod geht. Frieds Erkenntnis scheint banal, was unterstützt wird durch den pauschalen Titel und den einfachen Paarreim, doch sie ist eminent zum Verständnis der Welt.

Dazu lohnt es, das Gedicht aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ein Sohn erfordert Vater und Großvater, ohne Großvater kein Enkel. Stellen wir uns eine Welt vor ohne Krieg, ohne Streit, ohne Konflikt. Wer wüsste in einer solchen Welt den Wert von Frieden und Harmonie zu schätzen?

Sobald etwas selbstverständlich ist, schätzen wir es nicht mehr. Gäbe es keine Krankheiten auf der Welt, so gäbe es auch keine Gesundheit, weil Gesundheit nur aus ihrem Kontrastpartner ihre Existenzberechtigung schöpft. Darf ich meinen (Groß)Vater überhaupt verurteilen? Verdanke ich ihm doch meine Existenz!

Diese dialektische Weltsicht lohnt es sich, gerade in Friedenszeiten wie unserer, immer wieder vor Augen zu führen. Das Gute ist nicht selbstverständlich, und es ist nur gut, weil es auch Schlechtes gibt.

16. ERICH FRIED: WAS ES IST (1979)

       Es ist Unsinn

       sagt die Vernunft

       Es ist was es ist

       sagt die Liebe

  5   Es ist Unglück

       sagt die Berechnung

       Es ist nichts als Schmerz

       sagt die Angst

       Es ist aussichtslos

10   sagt die Einsicht

       Es ist was es ist

       sagt die Liebe

       Es ist lächerlich

       sagt der Stolz

15   Es ist leichtsinnig

       sagt die Vorsicht

       Es ist unmöglich

       sagt die Erfahrung

       Es ist was es ist

20   sagt die Liebe

KURZINTERPRETATION:

Es ist eines der absoluten Liebesgedichte, u. es handelt sich um eine absolute Definition von Liebe! Der Titel kommt schon – sich selbst – behauptend daher: „Was es ist“! Es heißt nicht: Was ist es? Es ist eben keine Frage, keine Befragung, keine Unsicherheit, sondern nur mehr Antwort, Erklärung, Tatsache, Existenz. Und es ist das „es“, das Faktum per se! Und es existiert, unabhängig von den großen gedanklichen und emotionalen Versuchen, die die Liebe in ihrem existentiellen und essentiellen Da-Sein in Frage stellen wollen.

Es treten auf in der Reihenfolge ihrer vergeblichen Bemühungen: die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie alle behaupten Dinge über unsere Liebe, die die Liebe vollkommen aufzuheben und zu zerstören trachten!

Die Vernunft! (Pah, was ist schon die Vernunft? Sie bemüht sich vernünftig zu sein, „sei doch vernünftig“ etc.) sagt gleich, fällt mit der Tür ins Haus, darf als erste sprechen, angreifen: das ist Unsinn, Quatsch, Einbildung, gibt es gar nicht, ohne irgendwelchen Sinn, Unsinn, Verkehrung allen Lebens, das darf es nicht geben. Und bei Unsinn kann auch die Bedeutungsebene von Sinnen, Sinnenhaftigkeit gemeint sein, also Unsinn: du täuschst dich, in dem was deine Sinne da wahrnehmen an Augenblicken, Gerüchen, Tasten, Streicheln, Wärme… alles Unsinn, sagt die Vernunft.

Die Liebe antwortet ruhig, gleichmütig, stets in der Gewissheit in immer gleicher Formulierung, gibt Antwort, stellt sich geduldig den Angriffen, unverletzbar, unerschütterlich, und sie wird das letzte Wort behalten mit eben dem gleichen, alle Not wendenden Wort.

Die Berechnung tritt auf, oh ja jene Instanz in uns, die die teils unfassbaren Dinge des Lebens in ein berechenbares Maß zwingen will – vergeblich. Sie ist kalt, berechnend, sie rechnet mit dem Schlimmsten, sie droht mit dem Unglück, das alles zerstört. (siehe auch das Gedicht von Fried: Fast Glück)

Von Unsinn zu Unglück handelt es sich durch die Wiederholung um eine poetische Steigerung, um eine Verstärkung des Angriffs auf die Liebe.

Immer drohen die „Angreifer“ mit dem, was kommen könnte, zuerst: mit dem Schmerz droht die Angst, unsere Angst, es könnte schief gehen, vergeblich sein, wehtun, wenn es scheitert; die Einsicht (welche Einsicht? Wessen Einsicht?) droht sogar mit der Aussichtslosigkeit, fast Blindheit: du gewinnst nichts mit der Liebe. „es ist aussichtslos“ hat in dieser Formulierung sogar noch einen stärkeren Klang. Und Berechnung, Angst und Einsicht fallen gemeinsam über die Liebe her, und behaupten eben auch: „So ist es!“, nicht so sei es , oder es könnte so sein. Sie befragen die Liebe nicht, sondern „hauen ihr ihre Behauptungen um die Ohren“. Wieder antwortet die Liebe stark und fest.

Und es droht der Liebe sogar noch mehr an Gefährdung: es ist lächerlich, man wird dich auslachen, du wirst isoliert und man wird dich für verrückt halten, so kommt der Stolz scheinbar stolz daher. Wie oft sind wir in unseren liebevollen Verrückungen uns selbst nicht sicher und machen die tollsten Sachen, um unserer Liebe zu dienen, sie zu erfüllen auch gegen alle Anfeindungen, als könnten wir den Verlust der Liebe unbeschadet überstehen, aus ihrem Nichterfüllen auch noch Stolz ziehen: das hab ich hinter mir. Bitterer Stolz, eine Einsamkeit (der „Hagestolz“), die die Liebe verraten hat.

Da meldet sich die Vorsicht: es ist leichtsinnig, du gefährdest deine Existenz, pass auf, was du tust, wenn du der Liebe folgst, begehst du einen großen Fehler und hinterher tut es dir leid.

Und da tritt auch noch die Erfahrung auf den Plan: sie behauptet, dass doch das ganze Leben bisher eben ohne die Liebe funktioniert habe, dass es sie gar nicht gibt, sie sei unmöglich.

Das ist nun der Gipfel der Unverfrorenheit, die totale Infragestellung der Existenz von Liebe, man hatte sich eingerichtet und mit Mario Simmel: „Liebe ist nur ein Wort“ nachgeplappert, nach all den schwierigen Erfahrungen und Verlusten haben wir einfach behauptet: gibt`s nicht, kommt bei uns nicht vor. Um die ersten Verluste zu schützen, um unser Weiterleben im mittelmäßigen Dahin-Dümpeln zu rechtfertigen, um den Riss zwischen liebvoller Utopie und dunklem Alltag wenigstens rhetorisch zu überdecken, um die Balance des Ringens zwischen Pessimismus und Optimismus jeweiligen Situationen verräterisch anzupassen, haben wir die Liebe und die Liebenden sich immer weiter wie „Scheusal“ zurückziehen und vereinsamen lassen.

Aber: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“

Punkt. Aus! So ist es. Es ist da. Und es ist unvernichtbar. Und es erfüllt uns, unverwundbar gegen die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie bildet die Grundlage allen Lebens, kein noch so großes Bemühen, sie zu verleugnen, kann sie überhaupt in Frage stellen.

Und sie ist jeder noch so schlüssigen Erklärung der Vernunft, der Berechnung, der Angst, der Einsicht, des Stolzes und der Vorsicht unerreichbar.

Dieses Gedicht tut allen Liebenden gut, die da zweifeln und fragen, die angegriffen werden und manchmal vor überbordender Liebe kaum mehr wissen, wie ihnen geschieht, und dass sie auserwählt sind, die Welt zusammenzuhalten, ohne dafür eine Erklärung zu haben, nur die innere Kraft.

„Wenn dir die Liebe winkt, folge ihr, möge das unterm Gefieder versteckte Schwert dich auch töten“ (aus: Ghalil Gibran, Der Prophet“)

Erich Fried hat mit diesem Gedicht in dieser sprachlichen Pointierung eines der grundlegendsten Gedichte und Verdichtungen über die Liebe geschaffen.

Das Gedicht teilt sich mit, gibt sich aber nicht preis. Es gibt die Liebe, die hier spricht, nicht preis, sondern lässt sie auf deren Anfeindungen mit einer in sich ruhenden Kraft reagieren.

„Es ist was es, sagt die Liebe“ so die interpunktionslose handschriftliche Anordnung durch Erich Fried selbst, die sich einer Interpretation nicht gleich erschließt. Wollte er die Einheit der Aussage betonen?

Die „Vernunft“ steht in der 1. Strophe herausgehoben einleitend und schafft der „Liebe“ Raum sich zu exponieren; dann folgen zwei Strophen, in denen jeweils drei „Gegner“ auftreten, die sich in den Strophen noch steigern und in der Behauptung der Unmöglichkeit von Liebe gipfeln. Jeder Liebende spürt mit jeder Zeile seine Kraft zur Liebe wachsen, weil er sich dieser poetischen Provokation mit Liebe entgegenstellen will. Insofern hat Fried ein Gedicht geschaffen, das uns stärken soll und tut.

ZUR FORTSETZUNG ALLTAGS- & LIEBESLYRIK 2

Goethe will also mit seinem Gedicht zum Ausdruck bringen, dass sich alles um uns herum ändert, vergänglich ist, auch unser Körper, dass aber unsere Seele und unser Verstand, was also unseren Charakter ausmacht, unvergänglich sind. Er sieht die Welt in ständigem Wandel, das Individuum aber als etwas, das in seiner Einzigartigkeit trotz kleiner Veränderungen im Grunde gleich bleibt.