Märchen
Texte und Interpretationen
1. Märchen: Herkunft – Vielfalt – Interpretation
(Der folgende Text folgt weitgehend den sehr empfehlenswerten Darstellungen von Stefan Neuhaus und Katrin Pöge-Alder, siehe Literaturverzeichnis, Nr. 15+17). Die weiteren Quellennachweise finden sich dort ebenfalls.
Märchen (Verkleinerungsform zu mhd. mære = „Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht“) sind Prosatexte, die von wundersamen Begebenheiten erzählen. Sie bilden die vielschichtigste, faszinierendste und älteste, jedoch aufgrund der meist ungesicherten Herkunft und des unbekannten Autors am schwierigsten zu analysierende literarische Gattung (s.u.).
Märchen treten in allen Kulturkreisen auf. Im Gegensatz zum mündlich überlieferten und anonymen Volksmärchen steht die Form des Kunstmärchens (s.u.), dessen Autor bekannt ist. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff Märchen insbesondere durch die Sammlung der Brüder Grimm geprägt, deren Märchensammlung gehört zum am weitesten verbreiteten deutschen Buch aller Zeiten gehört und in über 160 Sprachen übersetzt ist.
In den schriftlichen Zeugnissen aller frühen Hochkulturen finden sich märchenhafte Züge. Aus dem alten Ägypten sind viele Zauber- und Tiergeschichten überliefert. Das sumerische Gilgamesch-Epos, das vermutlich im 12. Jahrhundert vor Christus in Mesopotamien entstand und als älteste literarische Dichtung der Welt gilt, weist in vielen Passagen märchenhafte Formen auf. Die Sagen Homers haben märchenhafte Züge. Die Epen des griechischen Dichters Homer und andere Sagen zeugen vom großen Reichtum an Märchen der alten Griechen. Indien wird eine vermittelnde Rolle zwischen den sehr alten Erzähltraditionen des Fernen Ostens und des Vorderen Orients zugeschrieben. Für die europäische Märchentradition waren die Beziehungen zum Orient, die über Byzanz und Nordafrika verliefen, von großer Bedeutung. Kreuzfahrer, Kaufleute, Pilger und Seefahrer brachten Stoff für Märchen mit ins mittelalterliche Europa. Dort sorgten vor allem Spielleute für deren Verbreitung.
1.1. Märchen in Europa
Schon im 16. und 17. Jahrhundert schufen die Italiener Giovanni Straparola und Giovanni Battista Basile ganze Märchenzyklen (s.u.). Die sogenannten Feenmärchen waren im Frankreich des 17. Jahrhunderts sehr beliebt als Unterhaltung für den Adel. Ab 1704 erschloss die Übersetzung der „Geschichten aus 1001 Nacht“ von Antoine Galland neue Märchenwelten. Bereits 1697 hatte Charles Perrault eine französische Märchen-sammlung vorgelegt, die im 18. Jahrhundert auch in Deutschland erschien. „Dornröschen“, „Rotkäppchen“ und „Der gestiefelte Kater“ gehen nachweislich auf seine Sammlung zurück (s.u. Märchen Nr. 3 +5).
Im Unterschied zur Sage und Legende sind Märchen frei erfunden und ihre Handlung ist weder zeitlich noch örtlich festgelegt. Allerdings ist die Abgrenzung vor allem zwischen mythologischer Sage und Märchen unscharf, beide Gattungen sind eng verwandt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Märchen Dornröschen, das etwa von Friedrich Panzer als märchenhaft ‚entschärfte‘ Fassung der Brünnhilden-Sage aus dem Umkreis der Nibelungensage betrachtet wird. Dabei kann man die Waberlohe als zur Rosenhecke verniedlicht und die Nornen als zu Feen verharmlost ansehen.
Neben Märchen, Sage und Legende gibt es noch weitere Erzählformen wie Schwank, Witz, Rätsel, Novellen etc. die sich teilweise überlappen, so dass es Mischformen wie Schwankmärchen, Legendenmärchen, Rätselmärchen, Tiermärchen etc. gibt. Dies soll die nachstehende Abbildung veranschaulichen:
Charakteristisch für Märchen ist unter anderem das Erscheinen phantastischer Elemente in Form von sprechenden und wie Menschen handelnden Tieren, von Zaubereien mit Hilfe von Hexen oder Zauberern, von Riesen und Zwergen, Geistern und Fabeltieren (Einhorn, Drache usw.); gleichzeitig tragen viele Märchen sozialrealistische oder -utopische Züge und sagen viel über die gesellschaftlichen Bedingungen, z. B. über Herrschaft und Knechtschaft, Armut und Hunger oder auch Familienstrukturen zur Zeit ihrer Entstehung, Umformung oder schriftlichen Fixierung aus. Nach der schriftlichen Fixierung der Volksmärchen setzte eine mediale Diversifikation ein (Bilder, Illustrationen, Übersetzungen, Nacherzählungen, Parodien, Dramatisierungen, Verfilmungen, Vertonungen etc.), die nun an die Stelle der mündlichen Weitergabe trat. Insofern ist die ‚Rettung‘ der Märchen etwa durch die Brüder Grimm zwar einerseits begrüßenswert, aber andererseits setzt dies auch der mündlichen Weitergabe eines mono-medialen Texttyps ein jähes Ende.
Erst im 18. Jahrhundert begann der Siegeszug des Märchens als Sammelbegriff für die Gattung. Dabei wird vor allem an die französischen Feenmärchen angeschlossen, die conte de fees, ins Englische übersetzt als fairy tales. Märchen wird seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert oft synonym mit Volksmärchen verwendet. Seine besondere, bis heute gültige Prägung erfuhr der Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der deutschen Romantik durch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, André Jolles (Einfache Formen, s.u. Nr. 9) hat daher schon 1930 zu Recht von der „Gattung Grimm“ gesprochen.
1.2. Volksmärchen
Hier ist zunächst der traditionelle Zugriff auf das Volksmärchen als ursprüngliches Märchen oder als Märchen im engeren Sinn zu erläutern. Eine ältere Begriffsbestimmung lautet: Zum Begriff des Volksmärchens gehört, dass es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist, während man das Kunstmärchen zur Individualliteratur rechnet, geschaffen von einzelnen Dichtern und genau fixiert, heute meist schriftlich, in früheren Kulturen durch Auswendiglernen überliefert. Das hier betonte Definitionsmerkmal der mündlichen Tradierung ist heute nicht mehr haltbar. Die mündliche Weitergabe von Märchen – womöglich durch eine alte Bäuerin, die sie ihren Enkeln abends am Kaminfeuer erzählt – ist ein Mythos. Auch die Brüder Grimm haben ihre Märchen entweder älteren Märchensammlungen entnommen oder von „überdurchschnittlich gebildete(n) Frauen aus gutsituierten Familien“ erhalten (besonders von Marie Hasenpflug sowie Mutter und Tochter Wild, Heinz Rölleke, S.76, s.u. Nr.19) und dann im Sinne ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ z.T. sehr stark (‚kindgerecht‘) bearbeitet.
Alle Märchen haben einen Autor, selbst wenn sich dieser heute nicht mehr feststellen lässt. Dass Autoren voneinander abgeschrieben haben, ist nichts Neues und schon gar kein Grund, eine Überlieferung durch das ,Volk‘ – was immer das sein mag – anzunehmen. Bearbeitungen von Stoffen sind originäre Leistungen von Autoren, nicht nur bei Märchen – kein Mensch würde auf die Idee kommen, Goethes Faust oder Thomas Manns Doktor Faustus als reine Bearbeitungen des mittelalterlichen Sagenstoffes einzustufen. Bestimmte Stoffe sind so alt wie die Menschheit, aber das hat nichts mit der Tradierung, sondern vielmehr etwas mit den zentralen Bedürfnissen und Problemen der Menschen zu tun, die überall auf der Welt gleich oder ähnlich sind.
Das Besondere der mündlichen Tradierung soll nicht geleugnet werden, es gilt nur, seine Bedeutung zu relativieren. Da bis ins 18. Jahrhundert schriftliche Zeugnisse u.a. in Deutschland fehlten oder schwer zugänglich waren, weil die Märcheninteressierten Analphabeten waren, sind zweifellos durch das mündliche Erzählen Veränderungen vorgenommen worden, die sich gehalten haben oder wiederum Grundlage für weitere Veränderungen wurden (nach dem Prinzip der ,stillen Post‘). Solche Vorgänge lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren, und es scheint deshalb müßig, darüber nachzudenken, ob man die Personen, die stoffliche Veränderungen initiierten, als Autoren etikettiert. Auch Lüthis Begriff des „Zurechterzählens“ (Lüthi, s.u. Nr.12) im Sinne einer Vervollkommnung und Weiterentwicklung hilft bei einer fachgerechten Interpretation nicht weiter.
Volksmärchen, für die prototypisch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm stehen, lassen sich am leichtesten über textinterne Merkmale bestimmen. Ihre Handlung ist (immer idealtypisch gesprochen) einsträngig, es gibt keine Nebenhandlungen. Das Geschehen ist ort- und zeitlos, alle entsprechenden Angaben sind so allgemein, dass man nicht rekonstruieren kann, wann und wo es sich zuträgt. Die Figuren sind eindimensional, flächig, also entweder gut oder böse, klug oder dumm, wenn beide Merkmalspaare vorkommen, gut und klug oder böse und dumm. Eine Psychologisierung findet nicht statt. Bestimmte Figuren kehren immer wieder: Königinnen und Prinzessinnen, Könige und Prinzen als gesellschaftliche Rollenzuschreibungen, Schwester und Bruder, Mutter, Vater und Stiefmutter als familiäre Rollenzuschreibungen. Daneben dienen auch Handwerksberufe zur Figurencharakterisierung. Namen finden sich selten (außer, sie sind sprechend), eher schon Attribute, z.B. ,,Das tapfere Schneiderlein“. Die Heldin oder der Held des Volksmärchens wird gleich zu Beginn mit einer Mangelsituation oder einem Problem konfrontiert, die es abzustellen oder das es zu lösen gilt. Auf dem Weg zum guten Ende helfen wunderbare Requisiten oder Figuren. In Volksmärchen können Tiere sprechen und Menschen sich mit ihnen unterhalten, manchmal gilt dies auch für Pflanzen, Minerale, Metalle oder Gebrauchsgegenstände.
Das Volksmärchen ist sprachlich einfach; es gibt hauptsächlich Hauptsätze, keine schwierigen Vokabeln und immer wiederkehrende Formeln. Auch die Symbolik und Metaphorik ist einfach und einprägsam. Die wichtigsten Symbolzahlen finden Verwendung: 3, 4, 7, 12 und 13.
Ihre Entstehung verdanken die Märchen dem Bedürfnis nach einer gemeinsamen Kultur und Geschichte der deutschsprachigen Gebiete sowie nach politischer Einheit und dem nach Transzendenz.
Mit der Französischen Revolution wurde die alte politische Ordnung des Feudalstaates in Frage gestellt, das moderne Konzept der Nation wurde populär. Grundlage waren die politische Partizipation des Bürgertums und das Aufgehobensein in einer Gruppe, die sich mit der eigenen Nation identifizierte. Durch die napoleonische Besetzung und die anschließende Restauration überkommener Ordnungen auf dem Wiener Kongress von 1815 war das Bürgertum aber weiterhin von Mitbestimmung und nationaler Identitätsbildung weit entfernt – nur auf kulturellem Gebiet waren die Bürger autonom, auf diesem Gebiet konnten sie sich und ihre Anliegen verwirklichen.
Mit Ausgang des 18. Jahrhunderts entstand ein wieder stärkeres Bedürfnis nach Transzendenz. Die Religion hatte als alleiniger Wegweiser durch das Leben ausgedient, die Entwicklung der Naturwissenschaften und der technische Fortschritt hatten dem Individuum bisher ungeahnte Freiheiten gebracht. Die Kehrseite von Freiheit und Wohlstand war Orientierungslosigkeit, auch fehlende Geborgenheit als Teil eines größeren Ganzen. Gesellschaftlich-praktisch war die Antwort das Konzept der Nation, philosophisch hingegen die Formulierung eines neuen Natur- und Geschichtsbegriffs.
Das Märchen steht zwischen Realität und Transzendenz und bietet sich deshalb wie keine andere Gattung an, die divergierenden Bedürfnisse zu erfüllen. ,,Im Märchen findet im Glauben an seine Naivität, Reinheit und Volkstümlichkeit der Wunsch nach Harmonie, Gerechtigkeit und überzeitlicher Weltordnung eine fassbare Gestalt.“ (Sinjawskij, S.26f., s.u., Nr. 25). Es bietet Trost im Alltag und ist offen für jede Art von Glauben, der über die täglich-alltäglichen Erfahrungen herausreicht; dadurch kann es zwischen tradierten religiösen und modernen, naturwissenschaftlich basierten oder philosophischen Auffassungen von Welt bestehen, sich gar in ihren Dienst stellen (oder dafür instrumentalisiert werden).
Die Moral des Märchens deckt sich gelegentlich mit der christlichen Moral, aber auf eine ganz eigene Art. Das Gute triumphiert nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, und zwar in der Regel mit Hilfe der Magie. Die Belohnung des Guten geht mit sozialer Flexibilität einher, das bekannte Spektrum reicht vom Königssohn über den Schneider bis zum Aschenputtel.
Alle Rollen bieten hervorragende Identifikationsmöglichkeiten: Ein Königssohn würde jeder gerne sein, der ,normale‘ Leser ist aber eher ein Schneider oder ein Aschenputtel – an deren sozialem Aufstieg sich partizipieren lässt. Das Trost spendende Gute ist aber, wie wir noch sehen werden, ein zweischneidiges Schwert – es kann den Triumph des Trivialen wie des Subversiven bedeuten.
In der Popularisierung der Gattung um 1800 wird ihre Funktionsgebundenheit ganz deutlich. Die Frühromantiker entwickelten den Begriff des Goldenen Zeitalters, einer mythischen Vorzeit, in der die Natur eins war, eine säkularisierte Vorstellung vom Paradies. Dieses Zeitalter war gekennzeichnet durch Intuition, die Allverbundenheit war selbstverständlich. Dem folgte das – andauernde – Zeitalter der Spaltung, die Natur differenzierte sich aus in Mineralien, Metalle, Pflanzen, Tiere und Menschen. Der Mensch bildet die Krone der Schöpfung, denn ihm ist die Fähigkeit zu denken gegeben. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihm, die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters zu antizipieren. Das bedeutet nicht eine Restauration früherer Verhältnisse, vielmehr gilt es eine höhere Stufe zu erreichen, die Intuition und Reflexion einschließt.
Dieses abstrakte Konzept ist – wie für die Romantik üblich – nirgendwo aus formuliert und nur bruchstückhaft entwickelt worden. Schließlich lebte man im Zeitalter der Spaltung, dem das Fragment angemessen war. Zugleich konnte das Fragmentarische in seiner Zusammenstellung kaleidoskopartig das künftige Goldene Zeitalter erahnen lassen. In den Schriften von Friedrich Schlegel, Novalis und E.T.A. Hoffmann (etwa in der Atlantis-Mythe im Goldnen Topf, die zugleich eine Parodie der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter darstellt) finden sich entsprechende Konzeptualisierungen.
Wie dem Fragment kommt dem Märchen schon theoretisch eine besondere Rolle zu, da es (im Volksmärchen) in der Zeit unmittelbar nach der Spaltung angesiedelt ist oder (im Kunstmärchen) die Verbindung der Lesergegenwart zur mythologischen Vorzeit knüpft. Deshalb ist Wunderbares weitgehend alltäglich, und deshalb können Tiere sprechen – Reminiszenzen der verloren gegangenen Einheit allen Seins. Dem Märchen liegt also ein Konzept zugrunde, das philosophische, anthropologische und psychologische Überlegungen mischt, wie sie in der Zeit um 1800 diskutiert wurden; genau deshalb ist es auch in diesen wissenschaftlichen Disziplinen bis heute stark beachtet worden.
Der größte Teil der Märchenforschung beschäftigt sich mit den Volksmärchen oder Feenmärchen, denen eine mündliche Überlieferung zugrunde liegt oder liegen soll. Die zahlreichen Übereinstimmungen von Themen und Motiven der Märchen aus aller Welt haben viele Forscher inspiriert, Gemeinsamkeiten festzustellen und sich auf die Suche nach dem Ursprung dieser Themen und Motive zu machen.
Letztlich bleibt aber wohl nur als Grund für die Attraktivität von Volksmärchen festzustellen, dass sie allgemein menschliche Probleme (sexuelle Reifung, Geschlechter- und Rollenverhalten, Riten, Wünsche etc.) thematisieren und durch ihre einfache Struktur ein breites Publikum ansprechen.
Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft handelt es sich immer in erster Linie um literarische Texte, die folglich einen Autor oder mehrere Autoren oder Bearbeiter haben, auch wenn frühere Fassungen nicht bekannt sind und die Genese der Texte nicht dargestellt werden kann. Gerade bei einfachen Motiven wie Heirat, Konflikte zwischen Eltern und Kindern, Figuren mit magischen Fähigkeiten, sprechende Tiere o. Ä. wird es nicht möglich sein, einer solchen Genese auf die Spur zu kommen, und es fragt sich daher, ob der bisher in dieser Richtung betriebene Aufwand wissenschaftlich gerechtfertigt ist. Dass natürlich jeder Leser mit Märchen auf seine Weise umgehen, sie für persönliche oder gruppenspezifische Sinnstiftungsprozesse einsetzen kann, bleibt unbenommen.
Nachstehend eine kurze Zusammenfassung der Hauptmerkmale von Volks- bzw. Glücksmärchen und ein stark vereinfachtes Handlungsschema des Zaubermärchens:
1.2.1. Merkmale des Volks- bzw. Glücksmärchens (siehe auch Lüthi, Pöge-Alder etc., s.u., Nr. 12+17 )
1. Eindimensionale Handlung (Diesseits und Jenseits nicht getrennt) und Wirklichkeitsferne: Die Motive entstammen der Wirklichkeit, werden aber durch magische und mythische Elemente entwirklicht.
2. Andeutender Erzählstil. Märchenmotive wie Liebe, Hass, Hilfsbereitschaft, Grausamkeit, Opferbereitschaft, Mord, besonders aber Sexualität und Erotik werden oft nur angedeutet und nicht ausführlich geschildert.
3. Abstrakter Stil, nur aneinandergereihte Erzählstränge, die stets dem Helden folgen,
4. Isolation und Allverbundenheit der Episoden und Märchenfiguren, die nicht aus Erfahrung lernen,
5. Allmächtige Natur und Naturkräfte, Gegenstände mit magischer Wirkung (Zauberstab, -ring),
Auftreten fantastischer Elemente wie Verwandlungen, sprechende Tiere und Zauberkräfte
6. Keine individuellen Personennamen, nur Allerweltnamen wie Hänsel und Gretel,
7. Flächenhaftigkeit der Figuren ohne individuelle Körper- bzw. Charaktereigenschaften oder Psyche (nur z.B. Schönheit, Mut, Klugheit, Größe, langes Haar),
8. Zahlen 3,4,7,12,13; dreifache, ähnliche Handlungswiederholung mit entscheidender Wendung beim 3. Mal
9. Formelhafte Redewendungen und Verse,
10. Starke Gegensätze (schön/hässlich, gut/böse, dick/dünn etc.),
11. Glückliches Ende: Das Gute siegt, das Böse wird bestraft.
12. Unbestimmte Orts- und Zeitangaben,
13. Autor und Entstehungszeit unbekannt,
14. Mündliche und schriftliche Realisierung des Märchens als Kunstwerk,
15. Funktionen: Unterhaltung, psychodramatische Konfliktbewältigung, Einbettung in eine Erzählgemeinschaft
1.2.2. Vereinfachtes Handlungsschema des Zaubermärchens (abgewandelt nach Propp, s.u. Nr. 18)
Mangel und/oder Konflikt am Anfang, Unselbständigkeit von Held/Heldin
– Held/Heldin zieht hinaus in die Welt
– steht vor schwierige/unlösbaren Problemen
– findet übernatürliche Helfer
– löst die (selbst-)gestellten Aufgaben/Probleme
– wird selbständig und kehrt heim
– Reichtum und/oder gelöster Konflikt am Schluss
1.3. Kunstmärchen
Ein Kunstmärchen ist „eine individuelle Erfindung mit unverstelltem Kunstcharakter“.10 Das Kunstmärchen ist das Produkt eines einzelnen Autors, doch reicht dies, wie wir gesehen haben, für eine klare Trennung vom Volksmärchen nicht aus.“ Das Kunstmärchen zeichnet sich durch viele inhaltliche Merkmale aus, die denen des Volksmärchens genau entgegengesetzt sind. Die Handlung von Kunstmärchen ist nicht linear, es gibt Nebenhandlungen und zeitliche Rückblenden. Zur Komplexität der Handlung addiert sich jene der Sprache – komplizierter Satzbau und schwierige Vokabeln sind keine Ausnahmen. Es finden sich häufig Orts- und Zeitangaben. Die wichtigsten Figuren werden psychologisiert, sie haben gute und böse Eigenschaften, auch wenn in der Regel das eine oder das andere überwiegt. Zur Psychologisierung gehört, dass die Heldin oder der Held eine Entwicklung durchmacht; manches Kunstmärchen konkurriert hier mit Bildungsromanen. Die Figuren werden oftmals in einer konkreten Gesellschaft und in Alltagssituationen gezeigt, man denke an Hauffs „Das kalte Herz“. Die Handlung steuert häufig nicht auf ein glückliches, sondern auf ein – zumindest teilweise – unglückliches Ende zu, verbunden mit einer relativen Offenheit des Schlusses (wie beispielsweise in Texten Tiecks).
Mit dem Volksmärchen stimmt das Kunstmärchen darin überein, dass es eine durch Mangel gekennzeichnete Ausgangssituation gibt. Bei der Suche nach einer Lösung begegnen dem Protagonisten wunderbare Gegenstände und Figuren. Die Symbolik und die Metaphorik sind ausgefeilt und originell, lehnen sich aber an die Muster des Volksmärchens an.
Das Kunstmärchen bedient sich häufig des Stilmittels der Ironie. Das hängt mit dem wichtigsten Unterschied zusammen, der die Modernität des Kunstmärchens begründet: Geschildert wird nicht ein geschlossenes Weltbild, sondern eine fragmentarisch erfahrbare, problematische Welt, in der sich ein Subjekt bewegen muss, das sich auch seiner selbst, vor allem der eigenen Wahrnehmung, nicht sicher sein kann.
Das Wunderbare ist konsequenterweise nicht Bestandteil der Wahrnehmung aller Figuren. Oftmals finden sich zwei Handlungsebenen, die man eigentlich genauer als Wahrnehmungsebenen bezeichnen müsste, da es vom Subjekt abhängt, ob es das notwendige Sensorium für Dinge mitbringt, die sich mit Naturgesetzen nicht erklären lassen (hier spannt sich ein historischer Bogen von Hoffmanns „Der goldne Topf“ bis Rowlings „Harry Potter“). Die Trennung der beiden Welten ist graduell sehr unterschiedlich, sie kann auch in die Wahrnehmung des Lesers verlagert werden (wie in Tiecks „Der blonde Eckbert“).
Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Volks- und Kunstmärchen (Neuhaus, S.12):
Volksmärchen
- angeblich mündliche Überlieferung
- ort- und zeitlos
- einfache Sprache
- einsträngige Handlung
- stereotype Handlung
- stereotype Schauplätze
- eindimensionale Charaktere, Typen
- keine Psychologisierung der Figuren
- Figuren sind gut oder böse
- Happyend
- Formelhafter Anfang und Schluss
- Einfaches Weltbild
Kunstmärchen
- Werk eines bestimmten Autors
- Fixierung von Ort und Zeit
- künstlerische Sprache
- mehrsträngige Handlung
- originelle Handlung
- charakteristische Schauplätze
- mehrdimensionale Charaktere
- Psychologisierung der Figuren
- gemischte Figuren
- kein eindeutiges Happyend/ Schlechter Ausgang
- keine Formeln
- komplexes Weltbild
i.d.R. gemeinsame Merkmale
- Held muss Aufgaben lösen
- Magische Requisiten (Zauberstab, Besen etc.)
- Zahlen- und Natursymbolik
- Tiere können sprechen / animistische Weltsicht
- Verbindung zum Mythos / Transzendenz
- Symbolisches Verhandeln und Bewältigen alltäglicher Probleme
1.4. Die verschiedenen Interpretationsmethoden (nach Neuhaus, S.27ff., Nr.15)
1.4.1. Volkskundliche Deutungsansätze
Volkskundliche Deutungsansätze versuchen u.a. Motive in Märchen zu identifizieren (Brackert, Röhrig, Rölleke, Scherf, Uther u.a., s.u., Nr.2,17,19,20,25), die sie in Analogie zu Riten und Bräuchen der Gesellschaft setzen. Die Kontextualisierung von Märchenmotiven ist sicher aufschlussreich, doch dadurch kann ein möglicher Sinn eines konkreten Textes nicht erschlossen werden, wenn nicht zuvor ein hermeneutischer Verstehensprozess initiiert wurde. Volkskundliche Deutungen verfolgen aber in der Regel andere Ziele.
1.4.2. Sozialgeschichtliche Deutungsansätze
Diese in den späten 1960er Jahren entstandenen Deutungsansätze kritisierten die Märchen u.a. als oft grausam und damit pädagogisch schädlich und unterschieden zwischen ideologisch korrekten früheren, einfacheren Märchentexten und den ideologisch inkorrekten, die später von namhaften Autoren verfasst wurden. Richtig ist, dass Märchen affirmativ oder subversiv wirken können. Jedoch haben sie vorwiegend mimetische Funktion, indem sie die zeitgenössische Realität – auch manchmal kritisch – spiegeln. Die prinzipielle Deutungsoffenheit des literarischen Textes, also das, was Literatur von Sach- und Trivialliteratur unterscheidet, spielt dann keine Rolle mehr. Doch auch sozialgeschichtliche Deutungen sollten, wenn sie als Variante literaturwissenschaftlicher Interpretationsverfahren gelten wollen, den Text über der Interpretation nicht aus den Augen verlieren.
1.4.3. Strukturale Deutungsansätze
Neben anderen hat Max Lüthi ein Typensystem vorgestellt, in dem die ‚eigentlichen Märchen‘ von Schänken und Sagen unterschieden und größtenteils als Zauber- Wundermärchen klassifiziert werden (s.o., 1.2.1.).
Bereits 1928 hatte Wladimir Propp eine invariable Gesamt- und eine variable Binnenstruktur von Zaubermärchen herausgearbeitet (s.o., 1.2.2.). Heutzutage wird die Funktion der Strukturelemente nicht mehr nur auf den Text, sondern auch auf den Kontext bezogen. Es wird z. B. gefragt, welche Reaktionen diese Struktur beim Leser auslösen könnte. Ferner wird heute so ideologiefrei wie möglich gefragt, welche psychischen Prozesse Eltern-Kind-Probleme repräsentieren (Aussetzen der Kinder im Wald bei Hänsel und Gretel), welches Rollenverhalten durch die soziale Unterordnung von Frauen tradiert (Aschenputtel, Schneewittchen etc. heiraten nicht, sie werden geheiratet) oder ob Hans im Glück wirklich ein Happyend hat (siehe 2. Märchen).
Auf welche verschiedenen Arten man einen Text lesen kann, wenn man erst einmal dessen Struktur identifiziert hat, ist aus heutiger Perspektive viel lohnender als das Klassifizieren und Einteilen nach Merkmalen.
1.4.4. Tiefenpsychologische Deutungsansätze
Ein in der Märchenforschung wichtiger Ansatz geht zurück auf den Schweizer Psychoanalytiker C.G. Jung (1875-1961), der neben Freuds individuellen Unbewussten das kollektive Unbewusste stellte. Er geht davon aus, dass es psychische Dispositionen gibt, die bei allen Menschen gleich sind (Archetypen). Die elementaren Märchen- und mythologischen Motive begreift er als Strukturelemente der menschlichen Seele. Märchen als Botschaften des Unbewussten sollen ein Gleichgewicht wiederherstellen, das verlorengegangen ist. So wird ihnen eine teleologische Grundstruktur einfach übergestülpt. In der Praxis tiefenpsychologischer Märchendeutungen werden schematische Verfahren angewendet, die der Astrologie näher sind als der Literaturinterpretation. Laiblin (Das Urbild der Mutter. In: Ders. (Hg.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie, Darmstadt 1995, S. 143) behauptet: „Dornröschen … wird von der Spindel oder Nadel der bösen Fee, die nichts anderes als die fruchtbare Seite der Urmutter darstellt, in den Finger gestochen… Denn wie Siegfried den Drachen besiegt, die alles Leben lähmende Urmutter, so eröffnet erst der Freier dem Kind die Freiheit, den Weg zur Ganzheit des Lebens, zu sich selbst.“ Ganz abgesehen von der textfernen und ausufernden Fantasie des Autors: Sexuelle Freiheit eines Mannes gegenüber einem Kind? Das nennt man wohl Kindesmissbrauch.
Heute bekanntester Vertreter der tiefenpsychologischen Interpretationsrichtung ist der Theologe Eugen Drewermann, der zahlreiche Interpretationen insbesondere von Grimms Märchen vorgelegt hat. Bei ihm vermischen sich allerdings tiefenpsychologische, entwicklungspsychologische, anthropologische und religiöse Deutungsmuster. Für ihn ist Hänsel und Gretel die Kindheitsgeschichte schlechthin: „Da überlebt ein Junge das ‚Gefressenwerden‘ durch den ‚Hunger‘-Anteil seiner Mutter nur, indem er sich selbst bis zum Extrem hin mager stellt; denn einzig, wenn es ihm gelingt, jedes Anzeichen auch nur von körperlicher Wohlgenährtheit zu vermeiden, wird er am Leben bleiben; nur solange seine Mutter (und alle anderen ‚Kurzsichtigen‘)in ihm nichts weiter sehen als Haut und Knochen, wird er es verhindern, verschlungen zu werden.“ Für Drewermann ist das Knöchelchen, das Hänsel der Hexe herausstreckt, ein Phallussymbol. Daher fährt er fort: „Die Frau, jede Frau tritt wie eine Hexe an das Hänsel heran, um zu fühlen, ob es an ihm auch schon ‚groß‘, ‚dick‘ und stark genug ist. Und alsbald den ganzen Jungen auf ihrem ‚Ofen‘ zum ‚Kochen‘ bringen.“ Unabhängig von der vom Text (erst recht von der Urfassung, siehe 1. Märchen) ganz losgelösten Interpretation bzw. assoziativen Hineindeutung entspricht nach Drewermann das Verbrennen der Hexe dem Bedürfnis nach Disziplinierung und wäre damit die notwendige Befreiung von der sexuellen Bedrohung des heranwachsenden Mannes durch die Frau (Drewermann: Hänsel und Gretel etc. – Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 2003, S.70ff., s.u., Nr. 5). Besser kann man die Problematik und Absurdität tiefenpsychologischer Märcheninterpretation nicht zeigen.
Um es ganz deutlich zu sagen: Im Märchen ist nicht jeder Stab o.Ä. ein Phallussymbol, nicht jedes Blut Menstruationsblut, nicht jede Frau eine uralte Göttin, Erd-, Allmutter o.Ä., Sexualität ist nicht unterschwellig allgegenwärtig, Jungen haben dort wie auch im richtigen Leben nicht automatisch ödipale Konflikte und ständig den Wunsch, mit ihrer Mutter sexuell zu verkehren, Hunger bedeutet dort keineswegs Magersucht und die Märchensymbole stammen nicht automatisch direkt aus der mythischen Vorzeit der Jäger und Sammler. Hierfür gibt es keinerlei wissenschaftlich auch nur halbwegs haltbare Belege.
Bei manchen Märchen stoßen wir an einigen Stellen eindeutig an interpretatorische Grenzen, da wir oft weder die ursprüngliche Fassung noch Entstehungszeit, -ort, Kontext, Aussageabsicht etc. kennen. Deshalb sollte das auch ehrlicherweise zugegeben werden, anstatt seine blühende Fantasie als wissenschaftliche Erkenntnis auszugeben. Das ist nämlich nichts anderes als wissenschaftliche Scharlatanerie.
1.4.5. Psychoanalytische Deutungsansätze
Einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung ist der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1903-1990), dessen Buch Kinder brauchen Märchen 1976 erschienen ist (s.u., Nr. 1). Märchen seien Teil des kulturellen Erbes, mit dem sich das Kind vertraut machen müsse, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, sich besser kennen zu lernen und zu akzeptieren: „Sehr viele Eltern sind nicht bereit, ihren Kindern zu sagen, dass vieles, was im Leben nicht richtig ist, seine Ursache in unserer Natur hat, in der Neigung aller Menschen, aus Zorn und Angst aggressiv, unsozial, egoistisch zu handeln. Unsere Kinder sollen vielmehr glauben, alle Menschen seien von Natur aus gut. Kinder wissen aber, dass sie nicht immer gut sind, und oft, wenn sie es sind, wären sie es lieber nicht. Das widerspricht dem, was sie von den Eltern hören. Und auf diese Weise kann ein Kind in seinen eigenen Augen zum Ungeheuer werden, Ders., S.14ff.) Einerseits identifiziert sich das Kind mit dem/der siegreichen Helden/Heldin, um sein Selbstbewusstsein zu stärken und seine Moralvorstellungen auszubilden. Andererseits erfolgt im Märchen das Aufspalten einer Persönlichkeit in zwei, damit das gute Bild unangetastet bleibt. So kann das Kind die gute und die strafende Mutter auseinanderhalten und damit das Bild der guten Mutter bewahren (Ders., S.80ff.). Zwar sind diese Ausführungen Bettelheim sicher bedenkenswert sind, jedoch wendet er bei der psychoanalytischen Analyse einzelner Märchen ein allzu simples Dekodierungsschema an. Dornröschen ist bei ihm ein Märchen der Adoleszenz, „bei dem mit dem Anfang der Pubertät eine lange Periode des Schlafens einsetzt“ und „ein traumatisches Ereignis – wie die erste Blutung des jungen Mädchens zu Beginn der Pubertät und später beim Geschlechtsverkehr – tatsächlich die glücklichsten Folgen hat. (Ders., S.162ff.). Abgesehen davon, dass der 100-jährige Schlaf nirgendwo als positiv dargestellt wird, zeigt auch hier, wie willkürlich und textfern diese Analysemethode vorgeht.
Trotzdem kann die Beschäftigung mit Märchen gerade in Zeiten sich weiter auflösender Ideologien und postmoderner Beliebigkeit Teil der psychischen Hygiene werden – als eskapistische Lektüre, also als grandioses Abenteuer außerhalb der als unbefriedigend empfundenen Realität, oder als Spiegelbild zur Realität, mit deren Hilfe Erkenntnisse möglich werden, die nach der Lektüre weiterwirken.
1.4.6. Philologischer Deutungsansatz
Neben weiteren Analysemethoden soll hier der m. E. wichtigste, philologische Deutungsansatz zur Sprache kommen, den ich mit Neuhaus (S. 48ff.) für den geeignetsten halte, da er induktiv sowie textorientiert vorgeht und nicht deduktiv seine Erkenntnisse von spezifischen Theorien oder Theoremen ableitet. Daneben werde ich versuchen, auch die anderen Deutungsansätze, soweit sinnvoll, mit heranzuziehen, sowie auch psychologische Aspekte zu berücksichtigen.
Die Vielfalt und subjektive Bedeutsamkeit jeder der oben beschriebenen Deutungsmöglichkeiten von Märchen soll damit nicht eingeschränkt werden. Oft finden Leser/Hörer/-innen in einem Märchen die Darstellung eines menschlichen Grundproblems, das sie besonders anspricht oder berührt. Märchen werden ja auch erfolgreich in der Psychotherapie eingesetzt. Ich möchte mit der Analyse von 10 ausgewählten Märchen lediglich versuchen, eine philologisch-psychologische Deutung anzubieten, die möglichst nah am Text bleibt und deren psychologische Bedeutung für die heutige Zeit im Blick hat.