GREGOR SCHRÖDER
sozial · literarisch · kreativ · global
Gregor Schröder
Tel +49 (0)163 63 355 35 | schroedergregor@aol.com | Am Köppekreuz 21 | 53225 Bonn
Hier folgen nun nach Hinweisen zur Analyse von lyrischen Texten mit Fachbegriffen zunächst 11 Gedichte, meist aus dem Bereich Alltags-
Danach folgen Schülerklausuren bzw. -
Am Schluss stehen Gedichte (Nr. 21-
Selbstverständlich enthalten auch meine eigenen Texte neben subjektiven Wertungen hoffentlich nur ganz unwesentliche Fehler und könnten an manchen Stellen sicher noch ergänzt werden. Ich habe mich bemüht, meine Aussagen stets an Textstellen zu belegen sowie einigermaßen klar und verständlich zu formulieren, unter Verwendung der notwenigen Fachbegriffe. Für Anregungen jeder Art bin ich natürlich dankbar.
Ich hoffe, dass Lehrer-
Wichtig: Schreibweise, Rechtschreibung und Interpunktion sind bei den Gedichten unverändert beibehalten worden.
1. Ingeborg Bachmann Reklame (1956)
2. Bertold Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau (1925)
3. Ulla Hahn: Angeschaut (1981)
4. Ulla Hahn: Bildlich gesprochen (1981)
5. Ulla Hahn: Ich bin die Frau (1983)
6. Ulla Hahn: Keine Tochter (1983)
7. Ulla Hahn: Mit Haut und Haar (1981)
8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)
9. Ernst S. Steffen: Elsa (1970)
10. Jürgen Theobaldy: Schnee im Büro (1976)
11. Erich Fried: Die mit der Sprache (1972)
12. Erich Fried: Gründe (1966)
13. Heinrich Heine: Zur Beruhigung (1844)
14. Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1962)
15. Erich Fried: Spruch (31.12. 1945)
16. Erich Fried: Was es ist (1979)
17. Johann Wolfgang von Goethe: Dauer im Wechsel (1815)
18. Gottfried Benn: Aber du -
19. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)
20. Rainer Maria Rilke: Herbsttag (1902)
8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)
21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)
22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)
23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)
24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)
25. Ulla Hahn: Allein (1983)
26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)
27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)
28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)
29. Ulla Hahn: Danklied (2003)
30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)
31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)
32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)
33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)
34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)
35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)
36. Ulla Hahn: Wartende (1983)
37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)
38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)
39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)
40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)
41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)
42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)
43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)
44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)
45. Hermann Hesse: Stufen (1941)
46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)
47. Ernst Jandl: Beschreibung eines Gedichts (1977)
48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)
49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)
50. Anja Kampmann: steilküste (2012)
51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)
52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)
53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)
1.1. Textsorte, Autor, Titel, Erscheinungsjahr in Klammern, Zeit, Epoche u.a. Infos, Thema (These)
1.2. Kurzinhalt einschließlich Ende des Gedichts (ca. 3 Sätze)
2.1. Aufbau: Anzahl und Länge sowie Zeilen (besser als: Verse) der einzelnen Strophen
Sonderform Sonett: 2 Quartette (2 vierzeilige Strophen) und 2 Terzette (2 dreizeilige Strophen)
(meist: abba – abba – cdc – dcd oder abba – cddc – eef – ggf)
2.2. Metrum, Versmaß, Versfüße (Senkungen, Hebungen, Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst etc.), soweit vorhanden
2.3. Reimarten
2.3.1. Endreim (Jeweils die letzte betonte Silbe zweier Zeilen reimen sich.)
2.3.2. Anfangsreim (Jeweils das 1. Wort zweier Zeilen reimt sich.)
2.3.3. Binnenreim (Jeweils 2 Wörter innerhalb zweier Zeilen reimen sich.)
2.3.4. Reiner Reim (Übereinstimmung der hörbaren Reihenfolge der Reimsilben: gehen -
2.3.5. Unreiner Reim (ungefähre Übereinstimmung der hörbaren Reihenfolge der Reimsilben: hören – wehren)
2.3.6. Assonanz (Nur Vokale stimmen überein: wagen – laben)
2.3.7. Schlagreim (Jeweils 2 aufeinanderfolgende Wörter innerhalb einer Zeile reimen sich.)
2.3.8. Vexierreim (frivoler Reim: Adam kommt mit großen Schritten und fasst Eva an die Schulter)
2.3.9. Schüttelreim (Doppelreim mit 2 Anfangslauten oder -
Wer andern in die Möse beißt, ist böse meist.)
2.4. Reimschema
2.4.1. Paarreim (aabb -
2.4.2. Kreuzreim (abab -
2.4.3. Umarmender Reim (abba -
2.4.4. Gliederung in mehrere Teile (Welche Strophen gehören zusammen?) mit kurzen Erläuterungen
2.5. Art und Häufigkeit der Interpunktion (Satzzeichen)
2.6. Satzbau (hypotaktisch: HS, NS, EI etc., parataktisch: HS, HS etc.)
2.7. Zeilensprung (Enjambement) bzw. Strophensprung (Satz geht in nächste Zeile bzw. Strophe über.)
2.8. Inversion (ungewöhnliche Satzstellung)
2.9. Rhetorische Figuren:
Metaphern (gewöhnliche/Alltagsmetaphern oder ungewöhnliche Metaphern), Vergleich, Alliterationen, Anapher, Ellipse, Emphase, rhetorische oder echte Fragen, Hyperbel, Gegensatz, Euphemismus, Neologismus, Personifikation, Symbol, Steigerung, Klimax, Ironie, Vergleich, pars pro toto, Paradoxon, Oxymoron etc.
2.10. Direkte oder indirekte Rede
Bitte immer mit möglichen bzw. beabsichtigten Wirkungen !!!
3. Interpretation (genau, konkret, jede Strophe, Zeile, geeignete Zitate, über 50% der Klausur)
3.1. Wer ist das lyrische Ich? Was wissen wir / vermuten wir über es?
3.2. Bei fehlendem lyrischem Ich spricht man vom Gedichtsprecher, der das Geschehen von außen als scheinbar neutraler Beobachter berichtet und eventuell auch kommentiert. (Lyrisches Ich und Autor sind nicht identisch!)
3.3. Bei der Interpretation z.B. von (ungewöhnlichen) Metaphern ruhig auch mehrere begründete Vermutungen anstellen.
3.4. Bei manchen Formulierungen möchte Dichter/-
3.5. Am Schluss: Bezug des Titels zum Inhalt des Gedichts
3.6. Zitierweise: z.B. „Puppenaugen“ (Z.5)
4.1. Kurze Zusammenfassung der Hauptergebnisse bzw. der möglichen Aussageabsicht des Gedichts mit Bezug zum Titel und weiterführenden Aspekten
4.2. Wenn vorhanden: Bezug der Biografie von Dichter/-
4.3. Gegenwartsbedeutung (Relevanz des Themas)
4.4. Persönliche Stellungnahme (positiv/negativ und bezüglich der Wirkung auf mögliche
Zielgruppe)
Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
5 aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
10 heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
15 unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille
20 eintritt
Das Gedicht „Reklame“ (1956) von Ingeborg Bachmann ist der Nachkriegslyrik der 50er Jahre zuzuordnen und spiegelt die Verlockungen sowie die Scheinwelt der Werbung wider, die die drängenden, sorgenvollen Fragen des lyrischen Wir mit ständig sich wiederholenden Sinn entleerten, heiteren Reklamesprüchen beantwortet. Bei der Frage nach Bewältigung der jüngsten Vergangenheit rät die Werbung ebenso zu Sorglosigkeit und Verdrängung. Auf die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Tod weiß sie jedoch keine Antwort mehr.
Das Gedicht weist weder ein klar erkennbares Versmaß noch Reime auf und besteht aus nur einer Strophe mit 20 Zeilen, wobei die letzte Zeile durch eine Leerzeile getrennt ist. Jede zweite Zeile ist kursiv gedruckt, was darauf hindeutet, dass eine weitere Person spricht.
Daher wirkt das Gedicht zunächst wie ein Dialog. Die ‚Gesprächspartner’ scheinen jedoch aneinander vorbei zu ‚reden’, da die Antworten völlig unvereinbar mit den Fragen sind. Das ‚Missverständnis’ entpuppt sich nämlich als bewusste Ablehnung dieser Antworten. Das lyrische Wir scheint sie zu ignorieren, da sie ihm offensichtlich nicht helfen. Es fehlt jede Interpunktion, selbst der Punkt am Schluss, was auf das Unabgeschlossene des dort Thematisierten hinweist.
Es gibt Parallelismen (Z.2,4,16), Wortwiederholungen (5-
Der Satzbau ist weitgehend parataktisch, da neben den 4 Fragesätzen nur 2 Nebensätze (Z.3, 19f.) sowie die kursiv gedruckten elliptischen Aufforderungssätze vorhanden sind.
Neben der zentralen Metapher bzw. dem Neologismus („Traumwäscherei“, Z.16) z.B. ) gibt es noch weitere Metaphern („ … tragen wir unsere Fragen und den Schauder aller Jahre“, Z.15), wobei auch „dunkel“ und „kalt“ metaphorische Bedeutung haben.
Die Epiphern (Z.2 und 4) und eine Anapher (Z.3, 19) unterstreichen die ständigen Wiederholungen der Reklame bzw. die immer weiter gehenden Fragen des lyrischen Wir. Alliterationen (Z.2, 6, 12, 16) und der auffällige Singsang der Werbesprache (Z.2,4,8) mit den weichen Konsonanten sollen deren einlullende und wohlklingende Wirkung verstärken. Typisch für die Werbesprache sind auch der Superlativ („am besten“, Z.14) und ständig wiederholte Werbeslogans („sei ohne sorge“, Z.2ff.).
Auffällig ist bei den Fragen des Lyrischen Wir, dass es durch Aktivität zeigende Verben wie „gehen“ (Z.1), „tun“ (Z.7), „denken“ (Z.9), „tragen“ (Z.13) und „eintreten“ (Z.20) deutlich macht, dass es Antworten benötigt, nach denen es handeln kann. Bei den kursiv gedruckten Texten des Reklamesprechers kommt jedoch nur das statische Hilfsverb „sein“ vor, da die Reklame nur solche zu passivem Konsum animierende Antworten liefert.
Zu Beginn des Gedichtes stellt das lyrische Wir – ein kollektives Subjekt, dem sich auch der Leser zugehörig fühlen soll – die 1. W-
Das „aber“ deutet an, dass die sorgenvollen Fragen und die „Reklame“ Aufforderungen wohl Bruchstücke eines längeren ‚Dialogs‘ zwischen zwei Sprechern sind, wobei der Reklamesprecher z.B. die heile Welt des Wirtschaftswunders und des Konsumrausches gepriesen haben könnte.
Der Einwand des lyrischen Wir nach dem „Wohin“ wird mitten im Satz mit der beschwichtigenden, ja beschwörenden 2-
Auch die 2. W-
Die Fortführung der 2. Frage durch eine Thematisierung der Veränderung unseres Denkens (im Sinne von Veränderung unseres unkritischen Konsumverhaltens) wird wiederum durch den Reklamesprecher mit „heiter“ (Z.10) geradezu unterlaufen. Nicht das „Was“ (also der Inhalt) ist wichtig, sondern nur das „Wie“, also die heiter-
Der Schluss der 2. Frage thematisiert, dass alles ein Ende hat (Z.11), auch das Wirtschaftswunder der 50er Jahre, und dass man alles Handeln auch vom Ende her beurteilen sollte. Der Reklamesprecher ignoriert dies erneut völlig und wiederholt stereotyp und unbeirrbar „mit musik“ (Z.12). Das heißt, dass er sich diese Fragen nicht stellt, sondern alles mit Musik ‚bewältigt‘, ja geradezu zu dröhnt bzw. erfolgreich verdrängt und Zweifel oder Angstgefühle nicht zulässt.
Die 3. W-
Mit „aller Jahre“ wird angedeutet, dass es sich hierbei das schlimmste Verbrechen „aller Zeiten“ handelt, nämlich den Holokaust und den 2. Weltkrieg mit ca. 56 Millionen Toten.
Gerade diese Frage wurde in den 50er Jahren ‚erfolgreich‘ verdrängt und erst in den 60er Jahren mit dem Ausschwitzprozess und der 68er Revolution wieder thematisiert.
Die auf den ersten Blick befremdlich anmutende Antwort des Reklamesprechers lautet: „am besten“ … „in die traumwäscherei“ mit dem beschwörend beschwichtigenden, stereotyp wiederholten Zusatz „ohne sorge sei ohne sorge“ (Z.15f.).
Der Neologismus „Traumwäscherei“ ist zusammengesetzt aus „Traum“ und „Wäscherei“ und meint das Waschen von (Alb-
Diese Albträume werden so lange gewaschen und weich gespült, bis sie schöne Träume sind und keine Ängste mehr auslösen. Zugleich weckt diese Wortneuschöpfung die Assoziationen „Traum-
Die Lebenseinstellung des Reklamesprechers wird hierbei in 3 Motiven deutlich: das „Ohne-
Die 4. und letzte W-
Der Reklamesprecher versucht noch den Superlativ „am besten“(Z.18) anzubringen, wobei unklar bleibt, was am besten zu tun ist. Bei der „Totenstille“ fallen ihm dann noch nicht einmal mehr nichts sagende Floskeln bzw. Werbesprüche ein. Die Reklame hat keine Antworten auf Fragen, die den Tod betreffen. Deshalb entsteht eine Lücke, die nicht mehr gefüllt werden kann.
Das wirkungsvolle „eintritt“ in der Schlusszeile signalisiert, dass danach nichts mehr kommen kann – weder befriedigende Antworten noch irritierende Banalitäten der Werbung –, wobei der fehlende Punkt die Allgegenwärtigkeit des finalen Ereignisses signalisiert, das jeden unter-
Ingeborg Bachmann beschreibt eindringlich, wie penetrant, aufdringlich und mit immer den gleichen oberflächlichen Werbesprüchen wir täglich berieselt werden, so dass uns kaum Zeit bleibt, unsere Fragen nach unserem Dasein, der Zukunft und auch der Vergangenheit in Ruhe zu stellen. Sie entlarvt die Hohlheit und Stereotypie der Werbesprüche, die die KonsumentInnen überhaupt nicht ernst nehmen, ihnen lediglich eine Scheinwelt vorgaukeln und sie nur zu sinnlosem Konsum verleiten wollen. Die Werbung blendet konsequent alle wirklichen Probleme aus, so dass niemand sich sorgen muss. Musik wird gezielt als Droge und Berieselung bzw. Betäubung der Sinne eingesetzt. Der Zwang zur Heiterkeit, verdrängt jede Ernsthaftigkeit.
Natürlich ist das vorliegende Gedicht vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders der 50er Jahre zu sehen, als Werbung noch völlig unkritisch aufgenommen wurde und der ungebremste Konsumrausch die breite Masse erfasste. Damals wurden nur ganz vereinzelt Fragen nach der jüngsten Vergangenheit gestellt, da es viel bequemer war, diese zu verdrängen.
Der Titel „Reklame“ bedeutet einerseits „Werbung“, weckt aber auch die Assoziation des ‚Reklamierens‘, des hilflosen Klagens, da eine Anlaufstelle oder Instanz (früher: Gott), die auch Sinn und Werte vermittelt, sicher auch infolge der Katastrophe des 2. Weltkrieges im Gedicht nicht mehr angesprochen wird.
Zwar appelliert Ingeborg Bachmann an die Leser/-
Sicherlich hat sich heute in dieser Hinsicht – besonders bezüglich der Einstellung der Verbraucher/-
Die Fragen nach einer selbstbestimmten, konsumkritischen und umweltbewussten Lebensweise muss jedoch jede/r immer wieder neu für sich beantworten.
Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau
Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn.
Da sah ich: eine Strähne in ihrem Haar war grau
Ich konnte mich nicht entschließen mehr zu gehen.
5 Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte
Warum ich Nachtgast nach Verlauf der Nacht
Nicht gehen wollte, denn so war’s gedacht
Sah ich sie unumwunden an und sagte:
Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben
10 Doch nutze deine Zeit; das ist das Schlimme
Dass du so zwischen Tür und Angel stehst.
Und lass uns die Gespräche rascher treiben
Denn wir vergaßen ganz, dass du vergehst.
14 Und es verschlug Begierde mir die Stimme.
Das Gedicht „Entdeckung an einer jungen Frau“(1925) von Bertold Brecht (1898-
Als die Frau ihn fragt, warum er nicht gehen wolle, fordert er sie auf, angesichts ihres vorgerückten Alters die ihr verbliebene Zeit dazu zu nutzen, mehr Leidenschaft zu zeigen, und will noch eine weitere Nacht bleiben.
Brecht wählt die traditionelle Gedichtform des Sonetts mit der streng gegliederten Anordnung von 2 Quartetten und 2 Terzetten. Dieses Formschema erlaubt eine klare Strukturierung der lyrischen Handlung, der Reden und Gedankengänge der Gedicht-
In der 1. Strophe wird der Kreuzreim (abab) verwendet, erst das 2. Quartett endet in Form des umarmenden Reims (abba). Die Terzette weisen ein strophenübergreifendes Reimschema (abc, acb) auf, was deren Abruptheit und Direktheit unterstreicht.
Der Satzbau ist unregelmäßig, d.h. in der 1.Strophe parataktisch (Ellipsen + HS) und ab der 2.Strophe hypotaktisch (HS + NS). Auch eine Inversion (Z.4) u. 2 überraschende Enjambements (Z.1f.,6f.) verdeutlichen den unharmonischen Eindruck des Gedichts, der durch Alliterationen (Z.6f.,9,13) u. eine Anapher (Z.2) nur etwas abgemildert wird.
Wörtliche sowie indirekte Rede (in der 3. u. 4. sowie 2. Strophe) unterstreichen die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der geschilderten Situation, die durch häufige sprachliche Bilder („nüchterner Abschied“, Z.1; „Kühl zwischen Tür und Angel“, Z.2+11; „eine Strähne in ihrem Haar war grau“, Z.3; „Gespräche rascher treiben“, Z.12; „du vergehst“, Z.13; „verschlug Begierde mir die Stimme“, Z.14) anschaulicher wirkt. Die zentrale Metapher „Nachtgast“ (Z.6) ist zugleich ein Neologismus. Satzzeichen (Punkte, Kommas, Doppelpunkte) strukturieren die einzelnen Verse, wobei die z.T. fehlenden Satzzeichen am Zeilenende den inhaltlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Zeilen hervorheben. Der Punkt nach Zeile 13 signalisiert, dass das Gedicht unvorbereitet und plötzlich endet.
Der Beginn der 1.Strophe zeigt eine Abschiedsszene zweier Liebender an der Tür am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht. Der Abschied wird als ,,nüchtern“ u. ,,kühl (Z.1f.) dargestellt, wobei diese Kühle von der Frau ausgeht, den das lyrische Ich, also ein Mann, mit kühlem Blick (Z.2) erwidert. Bei der Frau handelt es sich möglicherweise um eine Prostituierte („eine Frau“, Z.1), deren ,,Nachtgast“ (Z.6) das lyrische Ich ist.
Die disharmonische, qualvolle Situation des Eingangsbildes spiegelt sich zusätzlich im rhythmischen ,Missklang’ der ersten 2 Zeilen. Leicht u. getragen, mit 2-
Der unbeholfene Rhythmus verrät innere Widerstände des lyrischen Ichs. Er kündigt das Zögern, das Umwenden des Mannes an, das in der folgenden Zeile mit einer belanglos scheinenden Wahrnehmung einsetzt.
Als er ,,eine (graue) Strähne in ihrem Haar“ (Z.3) sieht, kann er sich jedoch ,,nicht entschließen mehr zu gehen“ (Z.4). Diese Zeile sticht durch seine parataktische Form hervor, da die vorhergehenden Zeilen 1 und 2 durch Enjambement verbunden sind und die Aufzählung durch ihn abgebrochen wird. An der grauen Strähne scheint das lyrische Ich zu erkennen, dass die ,,junge Frau“ (Titel) altert. Nun wird eine emotionale Betroffenheit (Mitleid?) spürbar, die den Wunsch zum Bleiben wachruft. Unbewusst erinnert das Altern der Frau das lyrische Ich dabei auch an dessen eigene Vergänglichkeit, was es in seinem Entschluss bestärkt, die Zeit zu nutzen (Z.10) und noch nicht zu gehen.
In der 2. Strophe signalisiert der Mann seine vage Absicht zu bleiben, indem er „stumm ... ihre Brust“ (Z.5) nimmt, weshalb sie ihn fragt, warum er entgegen der Absprache als bloßer „Nachtgast nach Verlauf der Nacht“ (Z.6) nicht einfach gehe. Das lyrische Ich sieht ihr nun direkt und selbstbewusst in die Augen, um ihr zu zeigen, dass er sich seines Entschlusses nicht schämt und auch nicht auf ihre Einwilligung angewiesen ist.
Mit der direkten Ansprache zu Beginn der 3. Strophe teilt er ihr zunächst mit, dass er nur noch eine Nacht bleiben wolle. Ferner ermahnt er sie, angesichts ihres vorgerückten Alters die ihr verbliebene Zeit zu nutzen (Z.10).
Der Mahnung an die Frau lässt das lyrische Ich dann einen Vorwurf folgen („das ist das Schlimme, daß du so zwischen Tür und Angel stehst“, Z.11). Die Rede ist hier von der Türschwelle als einem Ort des Übergangs, an dem man sich nicht lange aufhält. Da das Gedicht sowohl von der Liebe als auch von der Zeit spricht, wohnt dem Bild eine 2-
Die Frau steht auf der Grenzscheide zwischen Jugend und Alter, ja sogar zwischen Leben und Tod, wie Z. 13 („daß du vergehst“) zu entnehmen ist.
Der 2. Sinn der Redewendung „zwischen Tür und Angel“ ergibt sich aus dem Kontext mit dem Liebesthema. Es handelt sich hier ja auch um den Ort des Hauses, an dem man innerlich ‘auf dem Sprung ist’, an dem man die Besucher flüchtig abfertigt, auf die man sich nicht ernstlich einlassen will. So hat das lyrische Ich offenbar das nächtliche Beisammensein empfunden, was in seinen Augen „das Schlimme“ (Z.10) ist. Er fordert sie damit zu mehr Leidenschaft, erotischer Begeisterung und völliger Hingabe auf und ermahnt sie, sinnliche Liebe nicht nur nebenbei zu erledigen.
Die Beziehung des Besuchers zu dieser Frau scheint eine weitaus intimere zu sein, als man bei einem normalen ,,Nachtgast“ (und käuflicher Liebe?) annehmen könnte. Obwohl von vornherein geplant war, dass er ,,nach Verlauf der Nacht“ (Z.6) gehen sollte, haben die beiden offenbar eine engere Beziehung aufgenommen, die neben sexuellem Kontakt und ,,Begierde“ (Z.14) auch ,,Gespräche“ (Z.12) mit sich bringt.
In der 4. Strophe folgt der 2. Teil der Äußerungen des lyrischen Ichs, wobei die Wir-
Die Schlusszeile („Und es verschlug Begierde mir die Stimme“, Z.14) steht bereits außerhalb der Rede und betrifft allein die Erlebnissphäre des Mannes. Sie schließt das Gedicht nicht nur formal, sondern auch mit inhaltlicher Folgerichtigkeit endgültig ab. Dem lyrischen Ich versagt die Stimme, und jede weitere Mitteilung wäre Indiskretion.
Das Sprechen des lyrischen Ichs wirkt hier eher monologisch, ohne erkennbare Reaktion auf Seiten der Frau. Die Rede stiftet also keinen dialogischen Kontakt, sondern dringt beziehungslos auf die Angesprochene ein, lieblos im Ton wie im Inhalt.
Dennoch steht das Gedicht ganz im Zeichen einer vor allem von Sexualität geprägten Liebesbegegnung. Das gesamte Geschehen ist eingebettet zwischen „nüchternen Abschied“ (Z.1) u. „Begierde“ (Z.14), was die psychische Kälte deutlich macht, wie sie Erlebnissen ohne Zärtlichkeit und menschliche Wärme eigen ist. Das 2-
Der Titel „Entdeckung an einer jungen Frau“ zeigt, wie abhängig von der momentanen emotionalen Stimmung die männliche Wahrnehmung des Äußeren einer Frau ist. Schon eine graue Strähne lässt sie für ihn plötzlich alt erscheinen, und er macht sich Sorgen um ihre Lebenserwartung.
Die Analyse bestätigt weitgehend die These von der unerfüllten Liebe bzw. Begierde des lyrischen Ichs zu einer (käuflichen?) alternden Frau, die ihn veranlasst, noch eine Nacht zu bleiben und zugleich an sie zu appellieren, die kurze Zeit zu leidenschaftlicher, statt kühler Liebe zu nutzen.
Vielleicht möchte Brecht mit dem Bild der käuflichen Liebe, die nur eine nüchterne Dienstleistung ist, das Verhalten der Menschen in einer kapitalistisch geprägten Welt anprangern sowie das Fehlen echter, bedingungsloser Gefühle.
Es geht ihm darum, bewusst zu leben, sich jeden Tag den drohenden, jederzeit möglichen Tod, aber auch die Erkenntnis vor Augen zu halten, dass jeden Tag ein Teil des Menschen stirbt.
Die mit starker Leidenschaft durchlebte Begegnung hinterlässt Spuren im Bewusstsein, die länger in der Erinnerung haften, wenngleich auch sie letztlich vergehen. Zu diesem außerordentlichen Erlebnis ist das lyrische Ich bereit, und dazu fordert es die Partnerin auf, weil es die Begegnung der raschen Vergänglichkeit entreißen will. Mehr kann man der Flüchtigkeit der Liebe nicht entgegensetzen.
Nur durch die Steigerung des Augenblicks zu höchster Erlebnisdichte gewinnt der Moment eine Fülle, die etwas Bleibendes in den Beteiligten bewirkt. Das ist der Sinn von Z.12 und darin liegt der eigentliche Inhalt der „Entdeckung“, von welcher der Gedicht-
Die Zielgruppe ist hier schwerer zu bestimmen, da sich Frauen infolge der männlichen Dominanz des lyrischen Ichs sicher weniger angesprochen fühlen. Das Ungleichgewicht in der Beziehung verhindert eine wirkliche, tiefere Liebe zwischen beiden, so dass das lyrische Ich von der Frau etwas fordert, was ausschließlich den Bedürfnissen des Mannes entspricht und der Situation völlig widerspricht.
Du hast mich angeschaut jetzt
hab ich plötzlich zwei Augen mindestens
einen Mund die schönste Nase
mitten im Gesicht.
5 Du hast mich angefaßt jetzt
wächst mir Engelsfell wo
du mich beschwertest.
Du hast mich geküßt jetzt
fliegen mir die gebratenen
10 Tauben Rebhühner und Kapaunen
nur so ausm Maul ach
und du tatest dich gütlich.
Du hast mich vergessen jetzt
steh ich da
15 frag ich was
fang ich allein
mit all dem Plunder an?
In dem Gedicht „Angeschaut“ (1981) von Ulla Hahn aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um ein lyrisches Ich, das durch das begehrende Anschauen eines jungen Mannes starke Liebesgefühle entwickelt und sich zunächst unglaublich aufgewertet fühlt.
Nachdem er das lyrische Ich jedoch angefasst u. geküsst hat, hat er es ganz schnell vergessen, und das lyrische Ich kommt sich am Ende ausgenutzt und verloren vor.
Das reimlose Gedicht besteht aus 4 Strophen (S.) (4, 3 u. 2-
Auffällig ist der symmetrische Beginn des jeweils 1.Verses jeder S. Auf die 4-
Innerhalb einer Strophe fehlen alle Satzzeichen, besonders die Kommas. Jede S. steht zunächst für sich und wird mit einem Satzzeichen abgeschlossen: In der 1.-
Die abschließende Frage ist jedoch sowohl eine echte Frage als auch rhetorisch gemeint (s.u.).
Der Satzbau ist parataktisch (nur HS, 1 Ausruf:„ach“), nur in der 2. S. hypotaktisch (HS, NS). Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1.S.: anschauen, was beim lyrischen Ich einen Gefühlssturm entfesselt; 2. + 3. S.: anfassen u. küssen, was beim lyrischen Ich bereits zwiespältige u. verletzte Gefühle auslöst; 4. S.: vergessen, so dass sich das lyrische Ich einsam und verloren fühlt). Auch die Reihenfolge von Ich und Du (1.S.: Du -
Auffällig ist der Tempuswechsel: Ist das lyrische Ich Subjekt, steht das Verb im Präsens (Z.2,6,9,14-
Ungwöhnlicher Satzbau (fehlendes „Und“ in Z.3 und 14) u. durchgehende Enjambements außer in Z.11 und 14 (unterstreichen die lyrische Disharmonie, die durch fehlende Alliterationen und den Kontrast zw. umgangssprachlich-
Ungewöhnliche Metaphern, z.T. Übertreibung, Oxymoron u. Neologismus („mindestens einen Mund die schönste Nase“, Z.2f.; „Engelsfell“, Z.6; „fliegen mir die gebratenen Tauben ... ausm Maul“, Z.9-
Das Gedicht stellt eine einzige Anklage (Du-
Das lyrische Ich ist ein naives, junges, schüchternes, in der Liebe wohl noch sehr unerfahrenes Mädchen („Engelsfell“,Z.6), das erzählt, was ein Du mit ihm ‘angestellt’ hat und wie es ihm nun damit geht. In der 1.S. wird das Mädchen vom Du wohl lüstern „angeschaut“ (Z.1), so dass es dadurch erst Gesicht (Z.4) und Leben erhält und „2 Augen, mindestens einen Mund und die schönste Nase“(Z.3) bekommt. Diese übertriebenen Komplimente des Du über seine Schönheit bewirken, dass es sich „jetzt“ (Z.1) zum 1. Mal gesehen, aufgewertet und emporgehoben fühlt.
Jetzt plötzlich wird sich das lyrische Ich seiner Schönheit bewusst und nimmt die Welt mit seinen Augen selbstbewusst wahr und kann seine bisherige Schüchternheit ablegen. „Mindestens einen Mund“ bedeutet, dass es, um den Überschwang seiner Gefühle auszudrücken, nicht nur den Mund oder mehr als einen Mund bräuchte. Die fehlenden Satzzeichen unterstreichen dabei seine dauernden Gefühlsaufwallungen.
In der 2.S. wird das Mädchen vom Du „angefasst“ (Z.5), wodurch ihm statt Engelsflügel ein „Engelsfell“ (Z.6) wächst. Diese zentrale Metapher (auch Neologismus + Oxymoron) besteht aus Engel und Fell u. zeigt seine gegensätzlichen Gefühle. Als Engel wäre es wunderschön, makellos, heilig, unverletzbar. Fell dient dagegen zum Schutz (vor dem zudringlichen Du) und wächst einem Tier, als das es sich vom Du wohl behandelt fühlt. Es braucht ein Fell da, wo das Du es beschwert (Z.7), belastet, belästigt. Auch meint es mit dem schönen Fell wohl sein Äußeres, das das Du allein interessiert.
In der 5-
Werden die Vorstellungen des Ichs von der 1.-
All das, was es sich vom Du erhofft und gewünscht hat, all die liebevollen Gefühle des Mädchens, sind für das lyrische Ich jetzt wertloses Zeug.
Die Frage am Ende ist nicht nur rhetorisch zu verstehen (Antwort: gar nichts!), sondern auch ein Impuls, daraus für die Zukunft die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Es hat immerhin erkannt, dass alle Komplimente u. männlichen Liebesbeteuerungen, aber auch ihre ganzen Gefühle bezüglich ihrer romantischen Beziehung wertloser Plunder sind. Sie muss jetzt selbst sehen, wie sie mit diesen enttäuschten und verletzten Gefühlen zurechtkommt.
Der Titel „Angeschaut“ spiegelt die Illusionen, aber auch Enttäuschungen des lyrischen Ichs wider, das vom Du nur auf seinen Körper reduziert wurde.
Die Analyse bestätigt weitgehend die These bezüglich des lyrischen Ichs als naives, junges Mädchen, das die übertriebenen Blicke und Komplimente eines Du bezüglich ihres Äußeren als wahre Liebe fehlinterpretiert und sich am Ende allein, verloren, ausgenutzt und vergessen fühlt. Ulla Hahn, die hier sicher auch eigene Erlebnisse mit einbezieht und so verarbeitet, möchte aber auch dazu auffordern, nicht nur passiv auf Handlungen anderer zu reagieren und diese zu erleiden, sondern selbst aktiv zu werden und endlich selbstbestimmt zu handeln.
Gerade die als Zielgruppe hier bes. angesprochenen jüngeren Frauen sollten vorsichtig sein und nicht auf Männer hereinfallen, die ihnen Komplimente machen, die allein auf ihr Äußeres Bezug nehmen. Das Thema ist zeitlos gültig, da der Wunsch von Mädchen nach der wahren Liebe und die Projektion ihrer Liebe auf ihren Freund sie oft blind werden lässt für die z.T. oberflächlichen u. banalen männlichen Absichten.
Das Andauernde „du hast mich“ ist nicht nur eine andauernde Anklage gegen den Mann, sondern drückt auch die enttäuschten Gefühle des Mädchens aus („du ‘hasst’ mich“), da es sicher meint, dass er es sehr hassen müsse, wenn er es nicht nur verlässt, sondern sogar vergisst. In Wahrheit ist es der eigene Hass des Mädchens, der aus dieser enttäuschten Liebe resultiert. Vielleicht sollte das lyrische Ich, statt voller Selbstmitleid den Mann dauernd mit „du hast (hasst) mich“ anzuklagen, selbstbewusst sagen: Du kannst mich mal!
Wär ich ein Baum ich wüchse
dir in die hohle Hand
und wärst du das Meer ich baute
dir weiße Burgen aus Sand.
5 Wärst du eine Blume ich grübe
dich mit allen Wurzeln aus
wär ich ein Feuer ich legte
in sanfte Asche dein Haus.
Wär ich eine Nixe ich saugte
10 dich auf den Grund hinab
und wärst du ein Stern ich knallte
dich vom Himmel ab.
In dem Gedicht „Bildlich gesprochen“ (1981) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um die Vorstellungen des lyrischen Ichs von unbedingter, rein subjektiver Liebe zu einem fiktiven Du.
Während die ersten 2 Bilder zu Beginn noch eine gewisse Vertrautheit in der Beziehung widerspiegeln, gewinnen ab der 2. Strophe Metaphern des Besitzergreifens und der Zerstörung durch das lyrische Ich die Oberhand, wobei die 3. Strophe in eindeutige Vernichtungsfantasien gegenüber dem fiktiven Du mündet.
Das Gedicht besteht aus 3 Strophen zu je 4 Versen, wobei sich jeweils die 2. und 4. Zeile jeder Strophe reimen. Während in der 1. Strophe das Reimpaar „Hand“ u. „Sand“ noch mit positiven Assoziationen verbunden ist, deuten die 2 weiteren Reimpaare „Haus“ u. „aus“ sowie „hinab“ u. „ab“ auf die zunehmend negativere Entwicklung hin.
Die Reime erzeugen Wohlklang und Harmonie und bilden einen starken Kontrast zu den immer größeren inhaltlichen Ungereimtheiten u. Gewaltfantasien des lyrischen Ichs. Es ist in 3 Teile gegliedert, was auch durch den Punkt als einziges Satzzeichen am Ende jeder Strophe deutlich wird. Die Inversion (Z.8) verstärkt noch die Wirkung von Zeilensprung u. Euphemismus („sanfte Asche“).
Syntaktisch auffällig ist der symmetrische Satzbau jeder Strophe (NS,HS,NS,HS), was einen rhythmischen Gleichklang erzeugt. Die Anaphern sind jedoch nur in der 1. u. 3. Strophe in der gleichen Reihenfolge angeordnet (wär ich / ich -
Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eindeutig eine Frau („Nixe“, Z.9). In der 1.Strophe stellt sie sich vor, wie sie noch scheinbar liebe-
In der 2.Strophe verwandelt sich die Liebe in Eifersucht und Hass („Wärst du eine Blume ich grübe dich mit allen Wurzeln aus“, Z.5f.). Eine Blume kann, ohne in der Erde zu stehen, nicht weiter wachsen und geht langsam ein. Das lyrische Ich will dem Geliebten so den Halt nehmen. Die zerstörerische Eifersucht spiegelt sich auch in den folgenden Zeilen wider („wär ich Feuer ich legte in sanfte Asche dein Haus.“, Z.6f.). Das Adjektiv „sanft“ mildert das Tod bedeutende Nomen „Asche“ nur scheinbar ab. Haus steht zwar für Geborgenheit und Schutz sowie andere Personen und Freunde, die zu Besuch kommen. All das jedoch will das lyrische Ich dem Geliebten nehmen. Das Wort Feuer kann hier auch für die leidenschaftliche Wut des lyrischen Ichs stehen. Es ist aber sein Haus, das nur ihm gehört und in das er sich zurückziehen und damit der Frau entziehen kann.
Das Du ist nur mit nominalen Wendungen bedacht, denen zwar eine gewisse Ausdruckskraft und Bewegung innewohnt (Meer = Unendlichkeit, Blume = Schönheit, aber verblühend und vergänglich, Stern = leuchtend, aber unerreichbar), die jedoch kein eigenes Willenshandeln (nur Objekt) ausdrücken. Im Verlauf des Textes offenbart das lyrische Ich dem begehrten Du ein Grundgefühl von Zuneigung, das in 6 Bildern (je 2 in jeder Strophe) zum Ausdruck gebracht wird. Dabei gehören die 4 Bilder der ersten 2 Strophen aufgrund wichtiger Gemeinsamkeiten zusammen.
Die Bilder 1 und 3 beziehen sich auf den Pflanzenbereich (Baum, Blume), die Bilder 2 und 4 auf die Naturgewalten (Wasser -
Hinein spielt auch die Wirkung, die vom 3. Bild ausgeht und auf den Anfang zurückstrahlt. Das Ausgraben und Heimtragen der Blume setzt ebenso die Sorge um das weitere Gedeihen voraus, diesmal in umgekehrter Rollenverteilung. Das „mit allen Wurzeln“ (Z.6) signalisiert die Behutsamkeit, mit der jede Beschädigung des anderen Wesens vermieden werden soll. Aber das Bild drückt auch einen der Liebe eigenen Besitzwillen aus.
Die Folgebilder 2 und 4 lassen die positiven Deutungen der Liebe nicht mehr zu. Zwar suggeriert das Errichten weißer Sandburgen im 2. Bild die Vorstellung, dass das Ich dem begehrten Du Freude bereiten will, aber genau genommen dienen die Sandburgen am Strand den Meereswellen zum Spiel der Zerstörung. Das Bild drückt also auch die Bereitschaft des liebenden Ichs zur Preisgabe des eigenen Selbst aus. Diese Auslegung bestätigt sich beim Blick auf das 2.Bild der 2.Strophe, das auffällige Parallelen besitzt. Dort formuliert das lyrische Ich im Gleichnis vom Verbrennen des Hauses den Wunsch, den Partner zur Aufgabe des in sich abgeschlossenen Selbst-
Dass diesem Bild etwas Gewaltsames, Bedrohliches anhaftet, wird schon durch die Bezugnahme auf die Naturgewalt deutlich. Das Feuer gilt ja als traditionelles Symbol für Liebesleidenschaft und deutet zugleich Gefahr an. Durch die versöhnliche Formulierung „sanfte Asche" wird das nur wenig gemildert. Allerdings wirkt die Forderung, alle ich-
Schließlich beschreibt das lyrische Ich in der 3.Strophe, wie es das lyrische Du töten würde. Hier ist die Eifersucht schon soweit fortgeschritten, dass es den Geliebten bei sich haben will, egal was das für ihn bedeutet, auch wenn es ihm dabei Schaden zufügt („Wär ich eine Nixe ich saugte dich auf den Grund hinab“, Z.9f.). Die Nixe, das Lyrische Ich, will den Geliebten bei sich haben, egal ob er dabei ertrinkt. Bewusst wird das normalerweise bei Nixen verwendete verführerische ‘hinablocken’ durch ‘hinabsaugen’ ersetzt. Das Du wird jeder freien Wahl-
Auch in den letzten beiden Zeilen wird der Egoismus deutlich („und wärst du ein Stern ich knallte dich vom Himmel ab.“, Z.11f.). Die Nixe, das friedvolle und schöne Lebewesen, ertränkt eine Person. Und auch der Stern, weit weg und unerreichbar, wird vom Himmel „geknallt“ und ist ganz nah.
Das lyrische Ich wurde von ihrer Liebe enttäuscht und hat sich durch das „Ermorden“ des Geliebten von der Liebe, die keine Zukunft hat, befreit. „Hinabsaugen „abknallen" -
Liebe ist hier keine Idylle. Die Aussagen des lyrischen Ichs sind auch als radikales Bekenntnis zu seinem Gefühl verstehen. Das Subjekt fordert von sich u. vom Du vorbehaltlose Hingabe für die Verwirklichung der Liebe, die Verschiedenheit oder Trennung nicht erträgt. Das Ich orientiert sich in der Beziehung zum Partner nur an seinen eigenen Ansprüchen u. nimmt das Objekt`des Verlangens als eigenständiges Ich nicht wahr. Somit trägt diese Liebe deutliche Züge von Selbstsucht u. Gewaltsamkeit.
Der Titel „Bildlich gesprochen“ zeigt die Radikalität dieser Liebe, die nicht durch einfache Worte, sondern nur bildhaft ausgedrückt werden kann.
Die Metaphern ersetzen hier die Gefühle (totale Hingabe, Liebe, Wut, Enttäuschung etc.), die die Frau nur indirekt auszudrücken vermag.
Die Analyse bestätigt weitgehend die These bezüglich der Vorstellungen des lyrischen Ichs von unbedingter, rein subjektiver, selbstsüchtiger besitzergreifender Liebe, die am Ende in Vernichtungsfantasien gegenüber dem Du mündet.
Möglicherweise hat Ulla Hahn hier eine eigene vergangene, nicht erfüllbare Liebe verarbeitet, die dann in Hass umschlug. Vielleicht möchte sie an die vorwiegende Zielgruppe der Leserinnen appellieren, sich der Gefahren der unbedingten Liebe bewusst zu werden, die etwas Zerstörerisches, Gewaltsames an sich hat, da sie so nie zu verwirklichen ist. Eventuell ist es auch ein Versuch, sich durch die gedankliche Tötung des Geliebten von ihm zu befreien.
Liebe zwischen 2 Partnern ist das zentrale – mit Urgewalt plötzlich auftretende – Ereignis im menschlichen Leben und muss von jeder/jedem für sich neu entdeckt werden – mit all seinen wunderbaren wie abgründigen und (selbst-
Ich bin die Frau
die man wieder mal anrufen könnte
wenn das Fernsehen langweilt
Ich bin die Frau
5 die man wieder mal einladen könnte
wenn jemand abgesagt hat
Ich bin die Frau
die man lieber nicht einlädt
zur Hochzeit
10 Ich bin die Frau
die man lieber nicht fragt
nach einem Foto vom Kind
Ich bin die Frau
die keine Frau ist
15 fürs Leben.
In dem Alltagsgedicht „Ich bin die Frau“ (1983) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um eine Frau, die darüber nachdenkt, welche Bedeutung sie im Leben anderer hat, wie sie auf andere wirkt, wie sie sich selbst sieht und welchen Stellenwert sie als Frau in der Gesellschaft um 1980 einnimmt.
Sie scheint unter einem Mangel an Zuwendung und dauerhaften sozialen Kontakten zu leiden, so dass sie am Ende resignierend oder nüchtern feststellend ihr (traditionelles) Frausein und ihre Eignung für eine Lebenspartnerschaft verneint.
Das Gedicht besteht aus 5 Strophen zu je 3 Zeilen, wobei die Zeilen zum Ende hin immer kürzer werden.
Es ist in 3 Teile gegliedert. Die ersten 2 Strophen formulieren scheinbar positiv ihre Wünsche („könnte“, Z.2,5), während die 3.+4. Strophe sich damit befasst, was „man lieber nicht“ (Z.8,11) in Bezug auf sie tun sollte.
In der 5. Strophe zieht sie daraus ihr mit Punkt verstärktes persönliches Fazit („keine Frau ist“ -
Das Gedicht weist weder ein klares Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen eher unharmonischen, abgehackten Eindruck hinterlässt. Jedoch werden durch die Anaphern zu Beginn jeder Strophe („Ich bin die Frau die“, Z.1,4,7,10,13) und die Parallelismen (gleicher Satzbau: HS,NS,NS in 1.+2. Strophe und HS,NS in 3.-
Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eine Frau, die wohl darunter leidet, kaum angerufen zu werden (Z.1). Darauf deuten der Konjunktiv („könnte“) und das sehr vage “man wieder mal“ (Z.2) hin, was bedeutet, dass es ihr letztlich egal ist, wer anruft, Hauptsache, es ruft sie überhaupt irgendjemand an, wobei das „wieder mal“ die Seltenheit eines Anrufs unterstreicht. Dieses „man“ repräsentiert zugleich die Außensicht, d.h. für sie steht im Vordergrund, was andere von ihr denken. Die 3. Zeile der 1.Strophe verdeutlicht ihre geringen Erwartungen an die Motivation des/der AnruferIn, da sie glaubt, dass dies nur dann geschieht, wenn z.B. das Fernsehen langweilt. Sie setzt damit voraus, dass diese/r kein wirkliches Interesse an ihr hat und sie nur -
Die 2. Strophe folgt dem gleichen Muster, geht aber inhaltlich über die 1. Strophe hinaus. Sie möchte sicher auch gerne – von wem auch immer – nicht nur angerufen, sondern auch eingeladen werden. Der abermalige (wohl eher irreale) Konjunktiv („könnte“) und das unbestimmte “man wieder mal“ (Z.5) deuten gleichfalls auf die Unerfülltheit auch dieses Wunsches hin. Ihr ist bewusst, dass dies kaum oder nicht geschieht – und wenn, dann nur als Lückenbüßerin für den Fall der Absage einer/s anderen.
Daraus zieht sie in der 3. u. 4. Strophe insofern wohl resignierend die Konsequenzen, als sie gar nicht mehr die vage Möglichkeit einer Kontaktaufnahme in Betracht zieht, sondern nur noch für sich begründet, warum man sie „lieber nicht einlädt“ (Z.8) oder einladen sollte(?!).
Recht überraschend folgt dann „zur Hochzeit“ als Zeilensprung und Inversion (s.o.). Diese Inversion (eigentlich müsste es heißen: ... die man lieber nicht zur Hochzeit einlädt) führt zur Pointe, was wie eine Rechtfertigung für fehlende Einladungen klingen könnte. Vielleicht glaubt sie, nicht die richtige Person für solche Art von Einladungen zu sein. Oder drückt sich hierin doch der uneingestandene Wunsch nach einem glücklichen Leben (Heirat) aus? Vielleicht möchte sie aber auch „lieber nicht“ (Z.8) mit einer Hochzeit in Verbindung gebracht werden.
In der 4.Strophe folgt eine Steigerung gegenüber der 3. Strophe, da sie jetzt sogar nach einem weiteren Grund dafür sucht, weshalb man sie „lieber nicht fragt“ (Z.9). Zunächst könnte man denken, dass vielleicht niemand etwas von ihr wissen will. Damit nähme „man“ Rücksicht auf ihren bemitleidenswerten Zustand, der nicht zu so einem Lebensglück verheißenden Fest wie einer Hochzeit passt. Vielleicht ist aber auch ihre (unbequeme, unkonventionelle) Antwort bzw. Art bekannt und nicht erwünscht (?!).
Diese Vermutungen werden durch das 2. Enjambement und die 2. Inversion (eigentlich müsste es heißen: ... die man lieber nicht nach einem Foto vom Kind fragt) wieder mit einer überraschenden Pointe aufgelöst. Dieses ungewöhnliche Ende der 4.Strophe wirft mehrere Fragen auf:
Weshalb glaubt sie, dass sie niemand danach fragen wird/sollte? Hält sie sich nicht für interessant genug? Glaubt sie, dass Männer fürchten, dass sie Kinder habe oder (Frauen?) ihr es nicht zutrauen? Meines Erachtens steht in Z. 12 bewusst „vom Kind“ (und nicht: von einem/meinem Kind).
Wenn sie ein Kind hätte und stolz darauf wäre oder aber kein Kind haben möchte, stünde hier wohl eine eindeutige Formulierung. Auf jeden Fall weist dies auf mangelndes Selbstwertgefühl der Frau hin.
Vermutlich drückt sich in dieser Uneindeutigkeit ihr innerer Zwiespalt aus: Sie weiß oder fürchtet, dass sie keiner nach einem solchen Foto fragen wird/möchte/sollte (weil das an einem wunden Punkt in ihrem Leben rühren könnte?!), weiß aber auch, dass ein Kind (wie auch die Hochzeit!) durchaus zu einer Frau im traditionellen Sinne gehört.
Vermutlich repräsentieren Einladungen, Hochzeit und Kind (Z.5,9,12) Stationen eines konventionellen Lebens einer Frau, die sie nicht ist, aber wohl vielleicht doch (wenn auch nur uneingestanden) sein möchte.
In der 5. Strophe sind die Verse deutlich kürzer, Zeichen ihrer Resignation. Sie zieht hier für sich die radikale Konsequenz, dass sie (als Frau) einfach keine Frau ist. Dieses (scheinbare) Paradoxon zeigt, dass sie sich durchaus an dem traditionellen Frauenbild misst, was zur damaligen Zeit (um 1980) zwar schon durch Gesetzgebung (verändertes Ehe-
Diese traurige Grundstimmung des Gedichts wird noch durch fehlende Metaphern und die betont nüchterne, schnörkellose, ganz alltägliche Sprache verstärkt, die vielleicht darauf hindeutet, dass zumindest ihre momentane Stimmung (oder gar ihr Leben?) eher trist, einfach oder langweilig ist. Man erfährt kaum etwas über das lyrische Ich. Es wird nur aufgezählt, was nicht passiert und was sie nicht ist, aber nicht, wer oder wie sie tatsächlich ist. Die Verneinungen erzeugen ein Bild der Unzufriedenheit und bieten kaum Anhaltspunkte, um das lyrische Ich anders als eine abgelehnte, ausgestoßene, nicht erwählte Frau zu sehen. Die Frau scheint resigniert zu haben, sie unternimmt offenbar nichts, um den beschriebenen Zustand zu ändern, sondern berichtet lediglich davon. Sie spricht nur von Dingen, die andere nicht tun, sagt aber nichts darüber aus, was sie selbst unternimmt. Sie setzt also der Resignation, die sich in den vielen verneinten Sätzen ausdrückt, nichts entgegen, sondern nimmt die Gegenwart einfach hin.
So wird das Gedicht zum Ausdruck einer enttäuschten Frau, die sich nicht aktiv mit ihrer Unzufriedenheit auseinandersetzt, sondern diese nur passiv durchleidet. Um 1980 hätte eine Frau durchaus zahlreiche Möglichkeiten gehabt, die Leere ihres Lebens selbständig zu überwinden, da sie nicht mehr nur an Haus und Mann gebunden war.
Ihr offensichtlicher Mangel an Fantasie oder Kreativität wird noch durch die Gleichförmigkeit des Aufbaus (s.o.) verdeutlicht. Im gesamten Gedicht kommen nur 2 Pronomen vor: das persönliche Fürwort „ich“ und das unbestimmte Pronomen „man“. Zunächst einmal kann man daraus schließen, dass die Frau von den anderen abgegrenzt ist. Es wird eine Distanz aufgebaut, die auch das Gefühl der Unbeliebtheit der Frau widerspiegelt.
Ihre Suche nach Aufmerksamkeit zeigen schon der Titel „Ich bin die Frau“ und die Wiederholung als Anapher in jeder Strophe. Auch wird nur das Wort „Ich“ als einziges am Zeilenanfang groß geschrieben, was zeigt, wie wichtig sie sich selbst nimmt. Dies könnte auch ein indirekter Hinweis darauf sein, dass sie als Konsequenz sich ihrer selbst durchaus bewusst ist und zu ihrer Entscheidung, keine traditionelle Frau für ein herkömmliches Leben (Heirat, Kind) zu sein, steht. Vielleicht möchte sie mit der 3.-
Die Analyse bestätigt weitgehend die These in der Einleitung bezüglich der resignativen Grundstimmung des Gedichts. Es enthält aber manche Unbestimmtheiten, die Ansätze selbstbewussteren Verhaltens der Frau erkennen lassen. Vielleicht hat Ulla Hahn als damals 35-
Mir hat die Einfachheit des lyrischen Textes sehr gut gefallen, der immer noch gültig ist und vielfältigen Interpretationsansätzen breiten Raum lässt.
Ja der Kuchen ist gut – Ich habe
nie gern Süßes gegessen – Ich esse
gern noch ein Stück
Nein mir geht es nicht schlecht.
5 Viel Arbeit. Ja. Älter werde ich auch.
Noch kein Mann? Nein kein Mann.
Vorm Eigenheim mit Frau und Kind
des Sohnes wuchs der Ableger
von der Clematis vorm Elternhaus an.
10 Überm Fernsehen schläfst du ein.
Dein Kopf sackt nach vorn deine Schulter
auf meine. Ich halte still.
Näher kommst du mir nicht.
Ich bin dir wie vor meiner Zeugung
15 so fern. Verzeih ich möchte
auch keine Tochter haben wie mich.
Im Alltagsgedicht „Keine Tochter“ (1983) von Ulla Hahn aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um eine Tochter, die sich mit der Beziehungskälte von und zu ihrer Mutter, ihrer als mangelhaft empfundenen Tochterrolle und ihrem negativen Selbstbild auseinandersetzt.
In dem kurzen Dialog der ersten 2 Strophen antwortet die Tochter abwehrend auf die lästigen, stereotypen Fragen ihrer Mutter. Als diese vorm Fernseher einschläft und sich bei ihr anlehnt, spürt sie trotz körperlicher Nähe große Distanz zwischen ihnen und stellt am Schluss fest, dass sie auch keine solche Tochter wie sie haben möchte.
Das Gedicht besteht aus 5 Strophen zu meist je 3 Zeilen. Nur die 5. Strophe hat 4 Zeilen. Es ist in 3 Teile gegliedert. Die ersten 2 Strophen geben einen Ausschnitt aus einem Dialog zwischen Tochter und Mutter wieder.
In der 3.Strophe geht es um das konventionelle Leben des Sohnes bzw. Bruders. Die 4. und 5.Strophe dreht sich erneut um die Tochter-
Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime auf, was einen unharmonischen, abgehackten, gehetzten Eindruck hinterlässt und durch Ellipsen besonders in der 2. Strophe und nicht gesetzte Kommas (Z.1, 4, 6, 11, 15) verstärkt wird.
Auch die fehlenden Alliterationen zeigen mangelnden Wohlklang bzw. Harmonie zwischen Mutter und Tochter.
Der parataktische Satzbau (nur HS) erzeugt einen rhythmischen Gleichklang, der eher eintönig und langweilig wirkt, jedoch durch einen komplexen HS (3. Strophe) sowie durch überraschende Zeilensprünge in den Strophen (außer der 2.) und Inversionen (3.-
Ein Paradoxon in der 1.Strophe zeigt den Widerspruch zw. den Antworten u. Gedanken der Tochter. Neben Anaphern (Z.1f., 1+5, 12+14f.), die dauernde Rechtfertigungsversuche der Tochter unterstreichen, u. einer Epipher, die die kurze, abwehrende Bestätigung der bohrenden mütterlichen Fragen hervorhebt (Z.6), gibt es wenige, nichtssagende Alltagsmetaphern („der Kuchen ist gut“,Z.1; „mir geht es nicht schlecht“,Z.4; „Dein Kopf sackt nach vorn“,Z.11) und ein symbolisches sprachlichen Bild, das sich auf das traditionelle Verhalten ihres verheirateten Bruders bezieht.
Der Vergleich („wie vor meiner Zeugung so fern“, Z.14f.), durch eine Inversion (s.o.) hervorgehoben, weist ebenfalls auf die schwierige Tochter-
Dies liegt daran, dass mit der 4. Zeile zwar die 1. Zeile der 2.Strophe beginnt (schwacher Strophensprung), aber zugleich ihre Antwort aus der 1.Strophe erst endet. Die letzte Strophe wirkt durch ihre Überlänge bewusst hervorgehoben und wirkt abschließend.
Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eindeutig eine Tochter, die wohl bei ihrer Mutter zu Besuch ist und distanziert-
Die wieder sehr floskelhaft-
Offensichtlich hat die Mutter keine gute oder intensive Beziehung zu ihrer Tochter, da sie sie lediglich nach ihrer Arbeit und einer festen Partnerschaft fragt (Z.5f.), wobei das lyrische Ich diese lästigen Fragen kurz und abwehrend beantwortet. Aus der Folge von „Nein – Ja – Nein" ergibt sich die gespannte atmosphärische Wirkung des Dialogs. Die einzige Frage („Noch kein Mann?“, Z.6) enthält zugleich einen indirekten Vorwurf.
Der Bruder des lyrischen Ichs entspricht in der 3. Strophe wohl dem mütterlichen Ideal eines ‘Nachwuchses’ (Enkel!) viel eher, weil er ein „Eigenheim mit Frau und Kind“ (Z.7) hat. Das überraschende Enjambement („des Sohnes“, Z.8) betont die Wichtigkeit des männlichen Nachwuchses für die Mutter und drückt zugleich (auch mit der abwertenden Metapher „der Ableger“ (Z.8,) womit auch der Sohn gemeint ist) die Distanz des lyrischen Ichs zu seinem Bruder aus. Vielleicht ist das ihr immer wieder vorgehaltene brüderliche Vorbild das Trauma der Tochter?!
Der überraschende Wechsel von Tempus und Sprechweise sowie der komplex gebaute Satz mit mehreren präpositionalen Wendungen („vorm“, „mit“, „von“, „vorm“, wobei „vorm“ vor Eigenheim und Elternhaus dessen Verbundenheit u. Ähnlichkeit betont) deutet dies ebenfalls an.
Auch Clematis als Name für die an Hauswänden sich emporrankende Kletter-
Mit der 4. Strophe spricht das lyrische Ich wieder die Mutter an, nun aber eher in Gedanken: Die Mutter ist eingeschlafen. In den stillen Worten an die schlafende Mutter verbalisiert die Tochter ihr Gefühl völliger Beziehungslosigkeit und Ferne der Mutter gegenüber.
Dies zeigt auch deren Interesselosigkeit gegenüber ihrer Tochter, die wohl nicht sehr oft zu Besuch kommt. Der Kopf der Mutter „sackt nach vorn“ (Z.11), eine Metapher, die fehlende Lebendigkeit und emotionale Wärme der Mutter verdeutlicht. Schon die Tatsache, dass die Mutter fernsieht, zeigt, dass beide sich nichts mehr zu sagen haben. Zwar lehnt Mutters Schulter auf der ihrer Tochter (erneut unvermutetes Enjambement, Z.11f.), was die Anlehnungs-
Auch jetzt in der 5. Strophe entsteht keine wirkliche Nähe. Dieser Zustand ist für das lyrische Ich „wie vor meiner Zeugung“(Z.14). Hierin drückt sich vielleicht der unbewusste Wunsch aus, nie gezeugt bzw. geboren zu sein. Die Tochter hat ein sehr geringes Selbstwertgefühl und leidet wohl so sehr unter der emotionslos-
Durch die überraschende Pointe („so fern“, Z.15) durch Inversion mit Enjambement wird diese pessimistische Perspektive etwas entschärft, jedoch nicht entkräftet. Größer als „vor meiner Zeugung“ (Z.14) kann eine Distanz zwischen Mutter und Tochter eigentlich gar nicht mehr sein.
Die hastige (ohne Komma!) Entschuldigung am Schluss („Verzeih“, Z.15) klingt ebenso aufrichtig wie hilflos und resignativ. Es fragt sich, wofür das lyrische Ich die Mutter um Verzeihung bitten möchte. Dafür, dass die Tochter sie bitter enttäuscht hat, da diese sich anders entwickelt hat, als die Mutter wollte und für richtig hielt?! Oder hat sie sich viel zu wenig um ihre (einsame) Mutter gekümmert, die wohl verwitwet ist?!
Auf jeden Fall formuliert sie in der vorletzten Zeile zum 1. Mal einen Wunsch („möchte“, Z.15), der jedoch durch die Wendung und Schlusspointe in Form eines abschließenden Enjambements („auch keine Tochter haben wie mich“, Z.16), wieder nur offenbart, was sie nicht möchte.
Ob sie überhaupt eine Tochter haben möchte, bleibt zunächst unklar. Auf keinen Fall sollte sie aber so wie sie sein. Daraus lässt sich schließen, dass sie sich gar nicht zutraut, eine wirkliche Mutter mit einer richtigen (ihre Tochterrolle im positiven Sinne ausfüllenden) Tochter zu sein. Ihr negatives Selbstbild ist dermaßen übermächtig, dass ein/e „Ableger“/-
Dies führt zurück zum paradoxen Titel des Gedichts, da sie als Tochter weiß, dass sie keine Tochter im herkömmlichen Sinne elterlicher bzw. mütterlicher Erwartungen ist. Sie bereut dies wohl offensichtlich und beneidet vielleicht insgeheim ihren Bruder, der genau diesem Idealbild entspricht. Zugleich zeigt sie große Distanz zu ihm und bezeichnet ihn als Sohn (ihrer Mutter) und nicht als Bruder. Auch zu ihrer Schwägerin und zu ihrem Neffen bzw. ihrer Nichte hat sie keine oder keine intensivere Beziehung („Frau u. Kind“, Z.7).
Vielleicht hat sie als Kind zu wenig Liebe erfahren (früher Tod des Vaters?), wobei ihr Bruder, wie in Familien durchaus üblich, die (meiste?) Zuwendung von der Mutter erhalten hat, was Enttäuschung und mangelndes Selbstwertgefühl der Tochter und ihre große Distanz zur Mutter erklären würde. Auch die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit „nie gern Süßes gegessen“ (Z.2) hat, dies aber wohl weder in ihrer Kindheit noch heute ihrer Mutter einzugestehen wagt und, um dies zu verheimlichen, noch ein Stück nimmt, zeigt, wie sehr sie – früher u. heute – ihre Gefühle unterdrückt und wie wenig sie sich beachtet und geliebt fühlt. Dies führt zwangsläufig zu Bindungs-
Die Analyse bestätigt weitgehend die These der Einleitung bezüglich des negativen Selbstbildes der Tochter und ihrer großen Distanz zur Mutter, was offensichtlich durch deren mangelnde Liebe und geringes Verständnis wesentlich beeinflusst worden ist.
Vielleicht hat Ulla Hahn (geb. 1946) als Tochter selbst unter mangelnder Zuwendung gelitten. Somit könnte das Gedicht auch ein Aufruf besonders an die nicht selten in ähnlichen Konflikten stehende weibliche Leserschaft als Hauptzielgruppe sein, sich z.B. innerhalb der eigenen Familie stärker um gleichgewichtige Zuwendung und Verständnis für alle Familienmitglieder zu bemühen.
Die zentrale Bedeutung der Familie, besonders psychische Entwicklung und Selbstbild des einzelnen sowie die Übernahme positiver familialer Rollenmuster sind unbestritten, zeitlos gültig sowie die Basis jeder späteren erfolgreichen Partnerschaft und Familiengründung.
Ich zog dich aus der Senke deiner Jahre
und tauchte dich in meinen Sommer ein
ich leckte dir die Hand und Haut und Haare
und schwor dir ewig mein und dein zu sein.
5 Du wendetest mich um. Du branntest mir dein Zeichen
mit sanftem Feuer in das dünne Fell.
Da ließ ich von mir ab. Und schnell
begann ich vor mir selbst zurückzuweichen
und meinem Schwur. Anfangs blieb noch Erinnern
10 ein schöner Überrest der nach mir rief.
Da aber war ich schon in deinem Innern
vor mir verborgen. Du verbargst mich tief.
Bis ich ganz in dir aufgegangen war:
14 da spucktest du mich aus mit Haut und Haar.
In dem Gedicht „Mit Haut und Haar“ (1981) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um die leidenschaftliche, aktive u. völlige Hingabe des lyrischen Ichs an ein geliebtes Du am Beginn einer auf Dauer angelegten Beziehung. Das lyrische Ich erleidet jedoch zunehmenden Persönlichkeitsverlust u. Selbstentfremdung als Folge der totalen Vereinnahmung und Dominanz durch den älteren Partner.
Nach völliger Selbstaufgabe des Ichs beendet dieser verächtlich die für ihn wertlose Beziehung.
(Das 4-
Wo dieser Sprachfluss in der 2.Strophe durch Dissonanzen gestört wird, lassen sich inhaltliche Unstimmigkeiten vermuten (Z.5: rhythmischer Bruch in der Versmitte -
Hier geschieht der gewaltsame Eingriff des Mannes in die Gefühlswelt der Frau; Derselbe formale Bruch (Z.7) unterstreicht die zerstörerische Selbstaufgabe der Frau, die „schnell“ geschieht, was die Kürze dieser Zeile verdeutlicht.
Mit der 3.Strophe (erneut Kreuzreim: abab) beginnt der 2. Teil des Gedichts, in dem der zunehmende Persönlichkeitsverlust und die Selbstentfremdung des lyrischen Ichs durch eine starke rhythmisch-
Die 4. Strophe (3.Teil des Gedichts) schließt das Sonett ab, wobei der Paarreim (aa) ironischerweise die nicht zukunftsfähige Zweierbeziehung beendet. Der Doppelpunkt in Z.13 kündigt die bittere (logische?) Konsequenz der völligen Selbstaufgabe der lyrischen Ichs an: Ihr Partner macht der für ihn wertlosen Beziehung ein abruptes, mitleidsloses und sie demütigendes Ende.
Der Satzbau in der 1. + 2. Strophe ist gleichmäßig und weitgehend parataktisch (4HS + EI) und ab der 3. Strophe hypotaktisch, wobei in der 3.Strophe der NS an 2., in der 4.Strophe jedoch an 1. Stelle steht, was die Dreiteilung des Gedichts auch formal unterstreicht.
Von der 1. zur 2.Strophe kehrt sich die Reihenfolge des Ich und Du um (1. Ich -
Eine Inversion (Z.8f.), 4 Zeilen-
Ungewöhnliche sprachliche Bilder praktisch in jeder Zeile signalisieren die Intensität des Erlebens des lyrischen Ichs. Die zentrale Metapher „Mit Haut und Haar“(Titel und Z.14) bildet die äußere Klammer dieses Gedichts.
Die wenigen Satzzeichen (nur Punkte u. 1 Doppelpunkt) ermöglichen einen fließenden (auch strophenübergreifenden) Übergang zwischen den Zeilen und zeigen deren inhaltlichen Zusammenhang. Der Punkt nach Zeile 13 signalisiert, dass das Gedicht unvorbereitet und plötzlich endet. 2 Oxymora („sanftem Feuer“, Z.6; „schöner Überrest“, Z.10) unterstreichen das Widersprüchliche und Unmögliche dieser Beziehung.
Zu Beginn der 1.Strophe erfahren wir aus der typisch weiblichen Perspektive und Rückschau des lyrischen Ichs (eine Frau) von ihrer früheren Beziehung zu einem wohl älteren und sich vielleicht am Tiefpunkt befindenden Du („Senke deiner Jahre“, Z.1), die wohl anfangs von ihr bestimmt wird („Ich zog dich...“, Z.1), wobei sie ihm das Glück ihrer Liebe („meinen Sommer“, Z.2) und ihrer Lebensenergie schenkt. Ihr emanzipatorisches Handeln schlägt jedoch sehr schnell in Unterwürfigkeit um (Hundemetapher: „leckte dir die Hand und Haut und Haare“, Z.3), eine geradezu animalische Zärtlichkeit, wobei ihre Hingabe total ist (Titel: „Mit Haut und Haar“). Dennoch will sie Gleichrangigkeit zwischen ihnen beiden, indem sie sich treu zu bleiben verspricht („schwor dir ewig mein und dein zu sein“, Z.4). Dieses naiv überschwängliche Treueversprechen zeigt ihren unlösbaren Zwiespalt von Selbsthingabe und Selbstbewahrung.
Der fehlende Punkt in Z.2 unterstreicht die Atemlosigkeit des scheinbar endlosen Glücks. Auch suggeriert die zweifache Konjunktion „und" die anfangs geglückte Balance zw. Eigenständigkeit u. Hingabe („mein und dein zu sein“, Z.4), wobei hier bereits ihre Hingabe an ihn an 1. Stelle steht. Diese vertrauensselige Hingabe birgt das mit dem am Anfang der Beziehung nicht bedachte Risiko des Selbstverlustes, der Selbsttäuschung und der Enttäuschung.
In der 2.Strophe wird die männliche Figur aktiv u, manipulativ („wendetest mich um“, Z.5), handelt besitzergreifend und gewaltsam („branntest mir dein Zeichen mit sanftem Feuer in das dünne Fell“, Z.5f.: Brandzeichen als Eigentumsmerkmal bei Tieren), wozu auch psychischer Druck gehört. Er scheint sie jetzt wie ein Tier zu behandeln und als sein persönliches Eigentum zu betrachten.
Zwar wendet er keine physische Gewalt an („sanftem Feuer“), jedoch nimmt er keine Rücksicht auf ihr „dünne(s) Fell“ (Z.7), d.h. ihre Empfindsamkeit und Verletzlichkeit. Er aber gibt nicht, er nimmt nur, und zwar die Partnerin nicht so, wie sie ist, sondern wie er sie haben will. Folge: Die Frau verliert ihr Selbstverständnis und entfremdet sich von ihren Wünschen („und schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen“, Z.7f.). Die Verben ‘ablassen’ und ‘zurückweichen’ signalisieren die Distanzierung der Frau vom eigenen Ich.
Übergangslos (strophenübergreifendes Enjambement) berichtet sie in der 3.Strophe, dass sie sich damit selbst verrät, indem sie ihren Schwur bricht (rechtliches u. moralisches Vergehen). Dies wird durch den abrupten Rhythmuswechsel in Z.9 unterstrichen.
Wehmütig erinnert sie sich noch bruchstückhaft („schöner Überrest“, Z.10) an ihr früheres Selbstwertgefühl und ihre Eigenständigkeit und ihre aufgegebene Identität. Allerdings ist sie schon total von ihm vereinnahmt und sich selbst entfremdet („Da aber war ich schon deinem Innern vor mir verborgen. Du verbargst mich tief.“, Z.11f.). Durch die Wortwiederholung (verbergen, tief verbergen) wird die Unentrinnbarkeit aus der Vereinnahmung betont, da dem eigenen Zurückweichen (Z.8) das gleichzeitige Verbergen durch den Partner entspricht.
In der 4.Strophe zieht das dominante und überlegene Du, das sich eigentlich beglückt und dankbar fühlen sollte, daraus die brutale und herzlose Konsequenz, dass es die durch ihr Verhalten wehrlos Gewordene und völlig von ihm Abhängige („Bis ich ganz in dir aufgegangen war“, Z.13) am Schluss fortwirft, wobei das pointierte Zusammentreffen von Höhepunkt (völlige Hin-
Das vollständige ‘Ausspucken‘ des lyrischen Ichs („mit Haut und Haar“, Z.14) kennzeichnet das Verächtliche des Vorgangs und die Radikalität der Trennung, wobei die Beendigung der Beziehung durch den Partner von der Frau als Verstoßensein empfunden wird. ‘Liebe` kann in einem solchen Rollenverhalten nicht zustande kommen. Zugleich ist mit diesem Verb (ausspucken, Z.14) die Assoziation des Überflüssigen, Überdrüssigen, Widerlichen für den Partner bzw. der Demütigung für das lyrische Ich verbunden.
Figurenperspektive
Zur Rollenverteilung der Gedicht-
Deutlich wird hier der Gegensatz weiblichen und männlichen Rollenverhaltens herausgestellt: Weibliches lyrisches Ich: sensibles Registrieren der sich ändernden Befindlichkeit und Selbstwahrnehmung; – Männlicher Partner: selbstverständliche, unwiderrufliche Inbesitznahme sowie wenig rücksichtsvoller und einfühlsamer Umgang mit der Partnerin, gefühllose Beendigung der Beziehung.
Der Titel „Mit Haut und Haar“ spiegelt also sowohl die Radikalität der unbedingten Hingabe der Frau als auch die völlige Verachtung und Trennung durch den Mann wider.
Das Liebes-
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
5 Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
10 Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
15 Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Mit 21 Jahren verliebte Erich Kästner (1899-
Für eine Freundin – zumal in einer anderen Stadt – blieb so wenig Raum, an eine feste Bindung oder gar Heirat mochte Kästner nicht denken. Ilse Julius mag sich eine solche eher vorgestellt und auch dafür gekämpft haben, obwohl sie, für die damalige Zeit, eine ungeheuer emanzipierte Frau war.
Trotz starker Bindungen beider aneinander, waren die Umstände gegen eine dauerhafte Beziehung der beiden. Dazu mag die Entfernung beigetragen haben, die Zeit und die unterschiedlichen Interessen: Kästner promovierte 1925 an der Universität Leipzig. Im gleichen Jahr legte Ilse Julius in Dresden ihr Chemie-
Im Gedicht „Sachliche Romanze“ (1929) von Erich Kästner (1899-
Das 4-
Die indirekte Rede (Z.10f.) unterstreicht, dass beide nie offen und direkt miteinander sprechen. Der „sachliche“ (Titel) Stil des Gedichts wird durch Verzicht auf fast alle typischen Stilmittel wie auffällige Metaphern, Personifikationen oder besondere Symbole betont. Viele Aufzählungen (u.a. 8-
Es gibt einen Vergleich (Z.4), der durch eine Art elliptischen Enjambements und Punkt besonders betont wird.
Nur sehr indirekt lässt sich der Sinn einiger bildhafter oder symbolischer Wörter („betrugen“, Z.5, „Schiffen winken“, Z.9, „Klavier“, Z.12 usw.) erschließen, was die Kompliziertheit und fehlende Transparenz in der Beziehung dieses Paares zeigt.
Jedoch gibt es eine sarkastisch-
Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1. + 2. S.: fehlende Liebe und Trauer, 3. S.: Verdrängung, Blick in die Ferne, 4. S.: (scheinbarer) Ortswechsel (Café) und fassungslose Resignation). Auch die sich reimenden Wörter sind hier aussagekräftig: „Gut – Hut“ (Z.2,4) bedeutet, dass nur äußere Dinge gut und wichtig sind. „Heiter – weiter“ (Z.5,7) zeigt, dass beide heiter weiter so machen, obwohl sie für Fröhlichkeit gar keinen Grund haben. „Winken – trinken“ (Z.9,11) zeigt eher passives Verhalten. „Ort – Wort“ (Z.13,16) signalisiert, dass Sprache hier weniger mit Personen verbunden wird. „Tassen – fassen“ (Z.14,17): Das Begreifen und das „(An-
Diese Sachlichkeit (d.h. das mangelnde subjektive Empfinden) zeigt sich auch beim fehlenden lyrischen Ich. Es gibt nur einen Gedichtsprecher, der außerhalb steht, nicht selbst betroffen ist und als neutraler Beobachter meist ‘sachlich’ berichtet.
In der 1.Strophe wird berichtet, dass einem Paar, obwohl es sich 8 Jahre (verflixtes 7. Jahr!) gut kennt (Z.1f.) und miteinander vertraut ist, „plötzlich ihre Liebe abhanden“ kommt wie „ein Stock oder Hut“ (Z.3f.). Der ironische Einschub (Z.2, wobei „darf“ nur scheinbare Zurückhaltung ist, um die Wirkung der sarkastische Einmischung zu verstärken) stellt nicht nur die Intensität der Beziehung des Paares infrage (nicht gut oder untertreibend: zu gut), sondern verdeutlicht durch das ironische „plötzlich“ (Sie haben es erst jetzt bemerkt!) und den Vergleich von Liebe mit Alltagsgegenständen („Stock oder Hut“, Z.3 u. Adjektiv „sachlich(e)“ im Titel !), die man achtlos verliert, auch ihr wenig emotionales Liebesverständnis bzw. ihre schon längst erkaltete Liebe.
Das Paar erträgt in der 2. S. diese Verlusterfahrung zuerst mit Fassung und versucht, seine Trauer zu überspielen (Gegensatz: traurig -
Dennoch versuchen sie, ihr eintöniges Leben weiterzuleben, „als ob nichts (passiert) sei“(Z.6). Hilf-
In der 3. S. blickt wohl der Mann („man“, Z.9) zur Ablenkung durch das Fenster in die Ferne, wo das wirkliche Leben stattfindet.
Das Paar kann nur passiv-
Die Schiffe bewegen sich fort zu neuen Ufern, wo Ungewöhnliches, Interessantes wartet. Die beiden bleiben jedoch statisch und unbeweglich am selben Fleck. Sie können höchstens dem an ihnen vorbei ziehenden Leben zuwinken, wobei dieses Winken zugleich einen Anklang an den Abschied von ihrer Beziehung symbolisiert.
Der Mann sagt – wenn auch nur indirekt, also ohne direkten Blickkontakt oder direkte Ansprache! –, etwas Banales („Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken“, Z.11), wobei er verdrängt, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist. Vielleicht weist dies auch auf einen festen, starren Lebensrhythmus hin, der auf reinen Äußerlichkeiten beruht. „Irgendwo“ signalisiert das Bedürfnis des Mannes, irgendwohin (nur ja weg von dieser depressiven Situation!) zu gehen. Er überspielt nur Monotonie (8-
Auch der Rückzug in eine intimere, vertraute Umgebung („kleinste Café“, Z.13) in der 4.Strophe kann die Liebe nicht zurückholen. „Am Ort“ (Z.13) heißt nur ein scheinbarer Ortswechsel, da sie unfähig zu wirklicher Veränderung sind. Vergeblich suchen sie Intimität und Romantik, die längst verloren gegangen ist. Sie „rührten (stundenlang sprachlos) in ihren Tassen“ (Z.13-
Die Frau könnte hier diese Rolle übernehmen, aber in der damaligen Zeit wäre dies sehr ungewöhnlich gewesen. Daher bleibt der Frau angesichts der emotionalen Defizite des Mannes nur die hilflose Resignation -
Der Titel „Sachliche Romanze“ verdeutlicht die Unvereinbarkeit von wirklicher Liebe mit sachlich-
Kästner zeigt mit diesem Gedicht, wie sehr sich ein Paar durch den banalen Alltag einer längeren intensiven (verflixtes 7.Jahr!), aber letztlich mit der Zeit nur noch oberflächlichen Beziehung entfremden kann – bis hin zur totalen Sprachlosigkeit und Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und sein eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Bei einem Ehepaar käme damals natürlich hinzu, dass eine Scheidung damals nur schwer möglich war, so dass der gesellschaftliche Druck oft ein zwangsweises Zusammenleben ohne wirkliche Liebe erzwang. Allerdings gab es immer auch die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen ohne Scheidung, was allerdings viel Selbstbewusstsein und Selbstreflexion sowie finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit erforderte.
Kästners eigene (unverheiratete) Beziehung zu Ilse Julius legt allerdings den Schluss nahe, dass es sich auch im Gedicht um ein unverheiratetes Paar handelt, dass sich nicht täglich trifft, eigentlich sehr aneinander hängt, aber deren Liebe erloschen ist, weil sie sich vielleicht zu sehr auf äußerliche Gemeinsamkeiten konzentriert haben und zu wenig Spannung und Leidenschaft in ihrer Beziehung zugelassen haben.
Diese Thematik ist auch heute noch aktuell, da es immer noch Paare (Hauptzielgruppe) gibt, die sich längst auseinander gelebt haben, ohne sich das einzugestehen, und die nicht die Kraft und Energie aufbringen, durch eine Trennung bzw. Scheidung die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, aus Angst vor Einsamkeit. Dies betrifft gerade ältere Paare.
Die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen und mit Emotionen (z.B. weinen) des Partners angemessen umzugehen, ist auch heute bei vielen Beziehungen noch unterentwickelt. Allerdings weichen allzu viele heute diesen Konflikten durch Scheidung aus (fast jede 2. Ehe wird geschieden), anstatt sich konstruktiv mit ihren Beziehungsproblemen auseinanderzusetzen, was meist zu Lasten ihrer Kinder geht.
Das Gedicht weist auch biografische Bezüge auf, denn Kästners eigene Beziehung mit Ilse Julius scheiterte nach 8 Jahren, da sie sich offensichtlich auseinandergelebt hatten. Jedoch spielten bei Kästner die längere räumliche Trennung und die unterschiedlichen Interessen eine zentrale Rolle.
Im Gedicht dominieren dagegen die Unfähigkeit des Mannes, Gefühle zu zeigen und besonders die Sprachlosigkeit des Paares, was bei einem sprachgewaltigen und einfühlsamen Dichter wie Kästner und einer emanzipierten, gebildeten Frau wie Ilse Julius sehr ungewöhnlich wäre.
Sie war gerade sechzehn geworden,
Man sah es ihr noch an.
In ihrem Busen schlummerten Torten
Und Schweinchen aus Marzipan.
5 Sie hatte so große Puppenaugen
In ihrem kleinen Gesicht
Und blickte dich an mit diesen Augen
Und fand doch die Liebe nicht.
In ihrem Seelchen wuchsen Mimosen,
10 Die hatte der Pastor gepflanzt
Und in ihr Herzchen einen zu großen
Paulusbrief zur Firmung gestanzt.
Sie kam in der Nacht in mein Zimmer geschlichen
Und fand mich und brauchte kein Licht.
15 Wir haben die Sache dann durchgestrichen.
Doch die Liebe fand sie nicht.
Sie hat sich mit mir noch ein bisschen gestritten:
Das könne die Liebe nicht sein.
Dann ging sie und hat sich den Puls durchgeschnitten,
20 Und ich war wieder allein.
Sie war gerade sechzehn geworden,
Man sah‘s ihr auch jetzt noch an.
In ihrem Busen schluchzten die Torten
Und Schweinchen aus Marzipan.
P.S.
25 Der Jugend heute fehle die Haltung,
Sagte der Pastor am Grab.
Er empfahl ihr Seelchen der Himmelsverwaltung,
28 Und dann warf er Dreck hinab.
Ernst S. Steffen (1936-
Nach seiner Entlassung 1967 kommt er mit dem Leben draußen nicht mehr zurecht. Er verschuldet er sich hoffnungslos und muss immer vor seinen Gläubigern fliehen. Schließlich resigniert er und macht seinem Leben durch einen Autounfall mit einem roten Sportwagen ein Ende. Kurz vor seinem Tod wird das Gedicht „Elsa“ veröffentlicht.
Im Gedicht „Elsa“ (1970) von Ernst S. Steffen geht es um ein 16-
Der Pastor, der bei der streng moralischen Erziehung des Mädchens wohl starken psychischen Druck ausgeübt hat, beklagt am Grab nur die fehlende Moral der Jugend und ist um Elsas Seelenheil besorgt.
Das Gedicht besteht aus 7 Strophen zu je 4 Versen mit Kreuzreimen (abab), wobei viele Reime Zeilen mit gleicher Bedeutung verbinden (s.u.). Die 7. Strophe wird mit P.S. überschrieben, um das Beiläufige des Begräbnisses und die fehlende innere Anteilnahme des Pastors zu unterstreichen.
Das Gedicht ist in 5 Teile gegliedert. In den ersten 2 Strophen (kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.1+5) wird Elsas kindliches Aussehen und Gemüt beschrieben. In der 3.Strophe übt das lyrische Ich deutliche Kritik an dem psychisch-
Die 6.Strophe hält fest, dass Elsa nicht zur Frau geworden, sondern ein Kind geblieben ist. Durch P.S. abgesetzt wird in der 7.Strophe nebenbei und ohne innere Anteilnahme des Pastors von Elsas Begräbnis berichtet.
Der parataktische Satzbau (nur HS) bewirkt einen eher eintönigen Gleichklang. Durch die häufige Verwendung des Bindewortes „und“ wirken die einzelnen Teile des Gedichts wie eine unabhängige Kette von Ereignissen, die nur durch 2 überraschende Enjambements (Z.5f. und 11f.) unterbrochen wird. Die Interpunktion ist ebenfalls wenig überraschend und entspricht dem Satzbau.
Das gleichförmige Reimschema verstärkt den monotonen Charakter des Gedichts und verharmlost dessen bestürzenden Inhalt. Nur einmal wird die indirekte Rede (Z.18) verwendet, um den zentralen Aspekt des Streits zu verdeutlichen und Elsa auch einmal – wenn auch nur indirekt – zu Wort kommen zu lassen.
Die Alliterationen (Z.15,16,17,20) erzeugen einen Wohlklang, der jedoch nur fehlende Harmonie übertünchen soll. Neben vielen Anaphern (Z.1+5,12+14f.), die ebenso Harmonie vorspiegeln sollen, und der fast wortgleichen 1.+6.Strophe, die die fehlende Veränderung Elsas durch die Liebensnacht andeuten, gibt es außer nichtssagenden (Z.5,8,18,25) auch ausdrucksstarke, z.T. sehr ungewöhnliche Metaphern („In ihrem Busen schlummerten Torten und Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f,23f. und Z15,27,28) In der 4.+5.Strophe wird jeweils die 1.+3.Zeile, in der 7. Strophe nur die 3.Zeile durch Überlänge hervorgehoben.
Das lyrische Ich ist hier männlich und wohl deutlich älter, da es in der 1.Strophe Elsas Alter („gerade erst 16 geworden“, Z.1) u. ihre Jugendlichkeit (Z.2) betont. Auch seine kritische Bewertung der Einstellung und der Grabrede des Pastors zeigt, dass er klüger und „aufgeklärter“ ist als sie.
Mit einer ungewöhnlichen Metapher wird dann Elsas Jugend verdeutlicht. Süßigkeiten, wie Kinder sie lieben („Torten u. Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f.) sind noch in Elsa. Wenn diese „schlummern“ (Z.3), -
In der 2.Strophe wird dies mit den „große(n) „Puppenaugen“ bekräftigt. Große Augen „in ihrem kleinen Gesicht“ (Z.6) -
„Puppen“ (Z.5) als Spielzeuge kleiner Mädchen zeigen, dass Elsa noch ein Kind ist. Sie „blickte dich an“ (vielleicht auch andere?) anstatt „mich“, was die Distanz des lyrischen Ichs zu Elsa ausdrückt und erklärt, dass dieses Kind die Liebe im Sex nicht finden kann.
Dies wird auch in der 3.Strophe wieder durch die Verkleinerungsformen („Seelchen“ und „Herzchen“, Z.9,11) verdeutlicht. „Mimosen“ (Z.9) steht für Elsas extreme jungmädchenhafte Empfindsamkeit. Der „zu große Paulusbrief“(Z.11f.) – wieder durch Enjambement besonders hervorgehoben -
In der 4.Strophe berichtet er, dass Elsa in sein „Zimmer geschlichen“(Z.13) kommt – vielleicht auf einer Jugendgruppenfahrt, bei der er als Gruppenleiter teilnimmt?! Sie findet ihn auch ohne Licht (Z.14). Die Liebesbegegnung wird dann sehr distanziert erzählt: „Wir haben die Sache dann durchgestrichen“ (Z.15). Der Liebesakt ist für das ihn (der mit „Wir“ in Wahrheit nur sich meint) nur eine Sache, die er abgehakt hat (wie bei einer Einkaufsliste oder erledigten Programmpunkten), so dass Elsa dabei die (wahre) Liebe natürlich nicht finden kann (Z.16), was bei den rein sexuellen Erwartungen des lyrischen Ichs wohl auch gar nicht möglich ist. Es fragt sich natürlich auch, ob Elsas Vorstellungen von Liebe nicht völlig unrealistisch sind.
Die 5.Strophe zeigt, dass sie dies wohl schnell erkannt und sich mit ihm nur „noch ein bisschen gestritten“ (Z.17) hat. Der Doppelpunkt kündigt die im Konjunktiv („könne“, Z.17) formulierten enttäuschten Wünsche und Erwartungen Elsas an das lyrische Ich an. Dieser Streit ist wohl der direkte Anlass für ihren Selbstmord (Z.19) – hier zeigt sich, dass das Reimpaar in Z.17/19 zusammengehört. Das lyrische Ich beklagt jedoch nicht diesen tragischen Tod, sondern egoistisch nur sein erneutes Alleinsein (Z.20).
In der 6.Strophe wiederholt das lyrische Ich die Beschreibung der 1.Strophe und fügt nur „auch jetzt“ (Z 22) und „-
Scheinbar absichtslos erzählt er in einem Nachtrag, als ob er es beinahe vergessen hätte (P.S.), in der 7.Strophe von Elsas Begräbnis. Sowohl in diesem „P.S.“ wie in der Art, in der er vom Pastor und dessen Einstellung spricht, zeigt sich, dass es Abstand vom kirchlichen Begräbnis hält. Schon Elsas Tod hat es nicht berührt (Z.20) Es zeigt kein Mitgefühl mit Elsas Tod, äußert kein Wort des Bedauerns, obwohl es mit dem Mädchen geschlafen hat.
Im „P.S.“ wird der Pastor in seinem amtlichen Verhalten bewertet. Statt Trauer über Elsas aus Verzweiflung verübten Selbstmord zu zeigen, beklagt dieser nur floskelhaft, „der Jugend heute fehle die Haltung“ (Z.25). Dies offenbart seine Heuchelei bzw. mangelnde Selbstwahrnehmung, da gerade sein Firmunterricht dazu beigetragen hat, dass Elsas Seele verkorkst und sie unfähig zu einer erwachsenen Liebe ist. Auch wertet er sie mit einer Verniedlichung („Seelchen“) als Kind ab, obwohl er ihre Unmündigkeit verstärkt hat.
Mit der Metapher „Himmelsverwaltung“(Z.27) wertet das lyrische Ich die vom Pastor wohl beschworene Fürsorge Gottes zur Verwaltung eines Betriebs ab. Damit kann gemeint sein, dass der Pastor seine Verantwortung auf dem Dienstweg an den Himmel abgibt, vielleicht aber auch, dass es „im Himmel“ genauso lieblos wie in einem Büro zugeht – die Seelen werden verwaltet. Das lyrische Ich sieht den Pastor nicht „Erde“ hinabwerfen, sondern „Dreck“ (V. 29) und bewertet damit des Pastors Handeln als ehrfurchtslos bzw. hält ihm vor, dass dieser mit Dreck (= Verleumdung, Abwertung) nach dem tragischen Opfer streng-
Auch der Titel „Elsa“ ist nichtssagend und zeigt, dass das lyrische Ich sie nicht als individuelle Person wahrnimmt. Bezeichnend ist, dass er Elsa im Gedicht nie mit ihrem Namen, sondern meist mit verniedlichend-
Die Analyse bestätigt die o.a. These von der 16-
Sehr auffällig ist die Mitleidslosigkeit des lyrischen Ichs bezüglich dieses tragischen Schicksals, das typisch für die streng religiös-
Der Autor ist sehr früh (mit 34 Jahren) bei einem Autounfall ums Leben gekommen, hat seine Jugend in Heimen, 13 Jahre wegen vieler Einbrüche im Gefängnis verbracht und ist erst dort zum Dichter geworden. Da er sehr authentisch schreibt, hat er wohl selbst so etwas Ähnliches erlebt. Typisch für ihn ist, dass er seine Erlebnisse meist als Anklagen gegen die Gesellschaft formuliert und eigene Schuldanteile gerne verdrängt.
Das Gedicht richtete sich damals sicher an eine männlich orientierte Zielgruppe, die Schuldabwehr, Sexismus und Kritik an kirchlicher Moral teilte.
Seine Kritik an überstrenger moralischer Erziehung und pastoralem Fehlverhalten ist dennoch berechtigt und zeitlos gültig, wobei es heute z.B. um Zeugen Jehovas u.a. Sekten, aber auch streng muslimische Familien in der BRD geht, in denen Mädchen Opfer von „Ehrenmorden“ werden können.
Eine gewisse Sehnsucht nach Palmen. Hier
ist es kalt, aber nicht nur. Deine Küsse
am Morgen sind wenig, später sitze ich
acht Stunden hier im Büro. Auch du
5 bist eingesperrt und wir dürfen nicht
miteinander telefonieren. Den Hörer abnehmen
und lauschen? Telefon, warum schlägt
dein Puls nur für andere? Jemand fragt:
„Wie geht’s?“, wartet die Antwort nicht ab
10 und ist aus dem Zimmer.
Was kann Liebe bewegen? Ich berechne
Preise und werde berechnet. All die Ersatzteile,
die Kesselglieder, Ölbrenner, sie gehen
durch meinen Kopf als Zahlen, weiter nichts.
15 Und ich gehe durch jemand hindurch
als Zahl. Aber am Abend komme ich zu dir
mit allem, was ich bin. Lese von
Wissenschaftlern: auch die Liebe ist
ein Produktionsverhältnis. Und wo sind
20 die Palmen? Die Palmen zeigen sich am Strand
einer Ansichtskarte, wir liegen auf dem Rücken
und betrachten sie. Am Morgen kehren wir
ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.
24 Er hat eine Nummer, wie das Telefon.
Geboren 1944 in Straßburg, aufgewachsen in Mannheim. Zunächst Lehre im kaufmännischen Bereich, dann Gelegenheitsarbeiter, schließlich ab 1966 Studium an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg und Heidelberg. 1970 Lehrerexamen, anschließend Studium der Politologie und Germanistik. Seit Mitte der 70er Jahre freier Schriftsteller, lebt heute in Berlin. Theobaldy verbindet in seiner Lyrik Leben und Literatur, Ideologie und Wirklichkeit miteinander. Er lebt, wie er schreibt, und er schreibt, wie er lebt.
Das typische Alltagslyrik-
Die von nüchternen Zahlen bestimmte Tätigkeit beeinflusst massiv das eintönige Privatleben dieser Person und seine wenig erfüllte sowie emotionsarme Beziehung zum anderen Partner.
Mit dieser restlos durchkalkulierten Welt haben sich -
Das Gedicht besteht aus 2 Strophen, wobei die 1. Strophe aus 10 und die 2. Strophe aus 14 Zeilen besteht. In beiden Strophen befasst sich das lyrische Ich mit der Beeinträchtigung des Privatlebens durch den Büroalltag.
Während die 1.Strophe die zu kurze Zeit der Zärtlichkeit zu Hause und die Isolation im Büro zeigt, beschreiben die Gedanken des lyrischen Ichs in der längeren 2. Strophe den sein tristes Leben dominierenden Kreislauf vom Büro zum eintönigen Privatleben am Abend und wieder zurück zum Büroalltag am nächsten Morgen.
Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen sehr unharmonischen, konturlosen, zerfahrenen, unpoetischen Eindruck hinterlässt. Die Ellipsen (Z.1,2,6f.,12f.,14,23f.) zeigen die nur angedeuteten Wünsche und Gefühle des lyrischen Ichs. Viele Metaphern („Schnee im Büro“,Titel; „Palmen“,Z.1; „Es ist kalt“, „Deine Küsse am Morgen sind wenig“, Z.2f.; “Auch du bist eingesperrt“, 4f.; „Telefon, warum schlägt dein Puls nur für andere?“, Z.7f.; „Was kann Liebe bewegen?“ und „Ich berechne und werde berechnet“, Z.11f.; „sie gehen durch meinen Kopf als Zahlen“, Z.13f.; „“Ich gehe durch jemand hindurch als Zahl“, Z.15f.; „Die Palmen zeigen sich am Strand“, Z.20) verdeutlichen Sehnsüchte, aber auch Beziehungslosigkeit und Isolation der Person. Es gibt einen Vergleich (Z.24), 2 Alliterationen (Z.2,16) und eine Verdopplung (Z.20).
Auffällig sind 5 Fragen in beiden Strophen. Die ersten 3 Fragen stellen seinen Büroalltag, die 4. Und 5. sein Privatleben in Frage. Sehr bedeutsam sind die fast durchgängigen Enjambements in beiden Strophen, die den Gedanken meist eine überraschende Wendung geben.
Der Satzbau ist fast nur parataktisch (HS). Es gibt nur einen NS (Z.17). Dies zeigt das einförmige Leben des lyrischen Ichs, das kaum Abwechslung kennt und in den immer gleichen Strukturen gefangen (Z.5) ist.
Das lyrische Ich ist wohl ein Mann, da nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“(Z.1), wenig „Küsse am Morgen“(Z.2f.), der „nicht nur“ als „kalt“ (Z.2) empfundene beziehungslose Büroalltag, die wissenschaftliche Lektüre über Liebe als „Produktionsverhältnis“(Z.19) eher männliche Denk-
Er befindet sich im Büro und lässt seine Gedanken zu der geliebten Partnerin und ihrem Privatleben abschweifen. Zugleich wird sein durchgeplanter, von Zahlen bestimmter Büroalltag geschildert. Nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“ (Z.1) hat das lyrische Ich zu Beginn der 1. Strophe, was zeigt, dass sich sein Verlangen nach Urlaub, Wärme und einer anderen, erfüllteren Welt in Grenzen hält.
Die Situation „hier im Büro“ (Z.1,4) ist kalt. Das Enjambement in Z.1f. verstärkt noch den Kontrast zwischen Arbeits-
Deren „Küsse“(Z.2) lassen auf eine innige Beziehung schließen, jedoch wird diese durch das Enjambement „am Morgen sind wenig“ (Z.3) als unzureichend bezeichnet. Die Gedanken an den Beginn des Büroalltags lassen kaum Raum für intensivere Zärtlichkeiten. Dieser ist durch Ge-
Die 1. Frage („Den Hörer abnehmen u. lauschen?“, Z.6f.) drückt die Einsamkeit des lyrischen Ichs aus angesichts des Verbots privater Telefonate am Arbeitsplatz. Selbst dieser verständliche Wunsch wird noch durch ein Fragezeichen relativiert, was die Verunsicherung des lyrischen Ichs zeigt.
Es scheint ihm selbst nicht klar zu sein, worauf es lauschen möchte. Der Puls des Lebens („Telefon“ als Symbol für menschliche Kommunikation und Beziehungen) schlägt nicht für das lyrische Ich, sondern „nur für andere“. Dies wird in die direkt anschließende 2. Frage (Z.7f.) gekleidet, die für die Person nicht beantwortbar und ein hilfloser, verzweifelter Aufschrei ist, aus dieser Isolation auszubrechen. Die 3. floskelhafte Frage („Wie geht’s?“, Z.9) verdeutlicht die Oberflächlichkeit der kollegialen Beziehungen, die von Gleichgültigkeit bestimmt ist. Eine mögliche Antwort wird am Ende der 1. Strophe gar nicht erst abgewartet, da keiner echtes Interesse am wirklichen Befinden des lyrischen Ichs hat.
Die 2. Strophe beginnt mit der rhetorischen und resignativen 4. Frage: „Was kann Liebe bewegen?“ (Z.11), wobei statt einer möglichen Antwort (‘fast nichts’ oder vielleicht sogar ‘nichts’) ein reines, aus der Arbeit abgeleitetes Zahlenwerk folgt, das schließlich eben auch auf das Beziehungsverhältnis übergreift. So wie er Preise berechnet, wird er auch berechnet (Z.1f.), d.h. er wird auch unter Kosten-
Das „aber am Abend komme ich zu dir“ (Z.16) lässt nur scheinbar hoffen, dass das lyrische Ich zu Hause diese eintönige, von nüchternen Zahlen bestimmte Bürowelt hinter sich lassen kann, da mit dem erneuten Enjambement („mit allem, was ich bin“, Z.17) deutlich wird, dass die Person die frustrierende Last des Arbeitsalltags mit nach Hause nimmt. Er kann auch im Privatleben nicht abschalten, das durch den Büroalltag weitgehend dominiert wird.
Selbst beim Lesen greift er statt zu entspannender Lektüre zu wissenschaftlichen Büchern, laut denen auch „die Liebe“ den Gesetzen des Marktes gehorcht bzw. von Kosten-
Hier zeigt sich die Genügsamkeit im abendlichen Miteinander, wenn der Blick auf die Ansichtskarte die vielleicht nicht erfüllende, aber doch hinreichende Abendbeschäftigung ist. Insgesamt leben das lyrische Ich und dessen Geliebte ein leidenschaftsloses, indifferentes, unterkühltes Leben ohne Höhepunkte, auf einem ewig gleichbleibenden mittleren Niveau. Am Morgen „kehren“ beide wieder wie immer „ins Büro zurück, jeder an seinen Platz“ (Z.22f.). Dies bedeutet, dass der/die PartnerIn einen ähnlichen Beruf hat wie das lyrische Ich und wohl ebenso darunter leidet. Mit dieser nüchtern kalkulierten Welt hat sich das lyrische Ich zuletzt, bei aller Kritik, doch abgefunden. Zwar ist diese Welt kalt, „aber nicht nur“ (Z.2).
Die Erwartungen an das Leben sind insgesamt durch die Bedingungen und Anforderungen des Arbeitsalltags geprägt. Dieser ist als das eigentliche Lebensfeld anerkannt, wenn das lyrische Ich die zentrale Standortbestimmung vornimmt: Nicht zu Hause ist man an seinem Platz. Im Gegenteil. Entlarvend und uneingeschränkt wird festgestellt: „Am Morgen kehren wir jeder ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.“ (Z.22f.) Dort ist man zugeordnet seinem nummerierten Platz, seiner Telefonnummer sowie dem eigenen Leben als Zahl, was somit als gegeben und Ausdruck eines scheinbar unabänderlichen Kreislaufes hingenommen wird.
Der Titel „Schnee im Büro“ weist auf die (gefrorene) Beziehungskälte im Büroalltag hin, die aktive Lebensfreude, Spontaneität und tiefere emotionale Beziehungen auch im Privatleben verhindert.
Die Analyse bestätigt die These in der Einleitung von dem lyrischen Ich als Person, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet, was erhebliche Auswirkungen auf ihr Privatleben hat. Jedoch scheint der Mittelpunkt seines Lebens das Büro und nicht das ebenso unterkühlte Privatleben zu sein. Die Hauptzielgruppe sind daher berufstätige kinderlose Paare, die unter der Beziehungskälte am Arbeitsplatz leiden, so dass auch ihre private Beiziehung dadurch beeinträchtigt wird. Theobaldy, der schreibt, wie er lebt, hat hier laut Selbstaussage eigene frühe Erlebnisse im kaufmännischen Bereich verarbeitet und für sich daraus durch Lehrerexamen und z.B. Politologie-
Sehr anschaulich schildert er als Politologe die Verdinglichung des Menschen durch seine Arbeit und möchte meines Erachtens vor der Gefahr warnen, dass infolge die Deregulierung der Gefühle am Arbeitsplatz dieser als sicherer und verlässlicher Zufluchtsort erscheint. Die Entmenschlichung von Arbeit ist auch heute noch angesichts des überall wachsenden negativen Arbeitsstresses aktueller denn je.
Mich hat diese Alltagslyrik sehr berührt, da sie die Auswirkungen des durchkalkulierten Büroalltags auf das Privatleben sehr lebensnah zeigt.
Ich beneide die mit der großen Sprache
die reden von den Leuten
als ob es die Leute gäbe
sie reden vom Vaterland
5 als ob es ein Vaterland gäbe
und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit
als gäbe es alle drei
Tapferkeit Feigheit Liebe
und sie reden vom Schicksal
10 als ob es ein Schicksal gäbe
Und ich bestaune die mit der scharfen Sprache
die reden von den Leuten
als ob es sie gar nicht gäbe
und vom Vaterland
15 als ob es kein Vaterland gäbe
und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit
als wäre es klar
daß es das alles nicht gibt
und sie reden vom Schicksal
20 als ob es kein Schicksal gäbe
Und manchmal weiß ich nicht
wen ich beneide und wen ich bestaune
als gäbe es nur Staunen und keinen Neid
oder als gäbe es nur Neid und kein Staunen
25 als gäbe es nur Größe aber nicht Schärfe
oder als gäbe es nur Schärfe und keine Größe
und ich weiß dann nicht ob es
etwas gibt wie Reden und Wissen
oder wie Geben und mich
30 nur daß es so nicht geht
Analysieren Sie das Gedicht „Die mit der Sprache“ (1972) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.
Der Schüler, die Schülerin
1.1. benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit etc.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für zeitlose gesellschaftskritische Gegenwartslyrik der 70er Jahre dar.
1.2. gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:
oberflächlicher, rein rhetorischer Gebrauch von Sprache besonders bei wertkonservativen + links intellektuellen Politikern am Beispiel des Begriffs „Vaterland“ und dessen emotionale Eigenschaften / Tugenden (Liebe, Tapferkeit, Feigheit)
1.3. beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts,
mit Verweis auf 3 Strophen (je 10 Z.), fehlende Interpunktion, lyrisches Ich, weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime), Zeilensprung (Z.27 f.), These – Gegenthese – Schlussfolgerung (Ablehnung beider Positionen), gleichförmiger Satzbau etc.
1.4. erläutert deren Funktion, z.B. 3-
Unsicherheit der Positionen wird unterstrichen durch fehlende Interpunktion, Vorbereitung der Schlussfolgerung (Z.30), Hervorhebung der Z.28 durch Enjambement, Gleichförmigkeit der scheinbar konträren Positionen, Unterstreichung der inhaltlichen Ungereimtheiten durch fehlende Endreime etc.
1.5. untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.
Vordergründiger Neid des lyrischen Ichs auf die
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Vordergründige Bewunderung des lyrischen Ichs für die
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Ablehnung des Ausschließlichkeitsanspruchs der beiden konträren Positionen in Strophe 1 und 2
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1.6. beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.
Emphasen, Parallelismen, Aufzählungen,, Ironie, Anaphern, Klimax, Konjunktiv, indirekte Frage, Als-
1.7. erläutert deren Funktionen (z.B.)
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1.8. arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.
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1.9. ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.
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1.10. wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung.
Dabei verweist er/sie z.B. auf zeitlose Aktualität, Verwendung von Floskeln, ästhetische Gestaltung, vergleichbare Texte des Autors / anderer Autoren, die durch Sprache hervorgerufene Autoritätsgläubigkeit etc. Komplizierter Satzbau und Unentschlossenheit (Z.30) entsprechen Komplexität des Problems. Appell an ausgewogene politische / gesellschaftskritische Argumentation.
1.11. setzt sich mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.
Dabei verweist er/sie z.B. auf den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs-
Appell an sprachliche Sensibilität kann nur langfristig Wirkung entfalten; abhängig von öffentlichem Diskurs
„Weil das alles nicht hilft
Sie tun ja doch was sie wollen
Weil ich mir nicht nochmals
die Finger verbrennen will
5 Weil man nur lachen wird:
Auf dich haben sie gewartet
Und warum immer ich?
Keiner wird es mir danken
Weil da niemand mehr durchsieht
10 sondern höchstens noch mehr kaputtgeht
Weil jedes Schlechte
vielleicht auch sein Gutes hat
Weil es Sache des Standpunktes ist
und überhaupt wem soll man glauben?
15 Weil auch bei den andern nur
mit Wasser gekocht wird
Weil ich das lieber
Berufeneren überlasse
Weil man nie weiß
20 wie einem das schaden kann
Weil sich die Mühe nicht lohnt
weil sie alle das gar nicht wert sind“
Das sind Todesursachen
zu schreiben auf unsere Gräber
25 die nicht mehr gegraben werden
wenn das die Ursachen sind
Analysieren Sie das Gedicht „Gründe“ (1966) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.
Der Schüler, die Schülerin
(1.1.) benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit usw.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für gesellschaftskritische Lyrik der Gegenwart dar.
(1.2.) gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:
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(1.3.) beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts, indem er z.B. verweist auf
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(1.4.) erläutert deren Funktion, z.B.
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(1.5.) untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.
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(1.6.) beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.
die Aneinanderreihung von Einzeläußerungen (direkte Rede), die Dominanz und Wiederholung der Kausalkonjunktion „weil“, Konditionalsatz in der letzten Zeile, die indefiniten Pronomen „man“, „niemand“, „sie“, „sie alle“, Redensarten, Floskeln, Formulierungen mit negativer Konnotation, Metaphern, Ellipsen, Anaphern, rhetorische Fragen, Alliterationen (Z.3,4,7,26,), Ironie (Titel!)
(1.7.) erläutert deren Funktionen. z.B.
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(1.8.) arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.
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(1.9.) ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.
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(1.10.) wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung;
dabei verweist er/sie z.B. auf
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(1.11.) setzt sich mit Möglichkeiten u. Grenzen der Wirkung pol. Lyrik auseinander; dabei verweist er/sie auf
den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs-
Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief –
Doch jener erwachte und bohrte tief
In Cäsars Brust das kalte Messer!
Die Römer waren Tyrannenfresser.
5 Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.
Ein jedes Volk hat seinen Geschmack,
Ein jedes Volk hat seine Größe;
In Schwaben kocht man die besten Klöße.
Wir sind Germanen, gemütlich und brav,
10 Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,
Und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,
Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.
Wir sind so treu wie Eichenholz,
Auch Lindenholz, drauf sind wir stolz;
15 Im Land der Eichen und der Linden
Wird niemals sich ein Brutus finden.
Und wenn auch ein Brutus unter uns wär,
Den Cäsar fänd er nimmermehr,
Vergeblich würd’ er den Cäsar suchen;
20 Wir haben gute Pfefferkuchen.
Wir haben sechsunddreißig Herrn
(Ist nicht zuviel!), und einen Stern
Trägt jeder schützend auf seinem Herzen,
Und er braucht nicht zu fürchten die Iden des Märzen.
25 Wir nennen sie Väter, und Vaterland
Benennen wir dasjenige Land,
das erbeigentümlich gehört den Fürsten;
Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.
Wenn unser Vater spazieren geht,
30 Ziehn wir den Hut mit Pietät;
Deutschland, die fromme Kinderstube,
Ist keine römische Mördergrube.
Das von Heinrich Heine im Jahr 1844 veröffentlichte Gedicht „Zur Beruhigung” beschäftigt sich mit den politischen Problemen in Deutschland zu der Zeit, vor allem mit der Einstellung zum Deutschen Bund und richtete sich an das deutsche Volk während dieser vorrevolutionären Phase. Liest man das Gedicht zum ersten Mal, so könnte man denken, dass es einfach nur dazu dient, den Fürsten die Angst vor einem Umsturz zu nehmen. Jedoch erkennt man beim genaueren Lesen die Ironie, die hier vom Schriftsteller verwendet wurde, was typisch für viele Werke dieses Lyrikers ist. In dieser Dichtung verdeutlicht der Autor die Situation in Deutschland im Jahre 1844, also kurze Zeit vor der Märzrevolution. Heine strebt einen Vergleich des deutschen Volkes mit den Römern an, die er als Tyrannenmörder bezeichnet. Davon ausgehend macht er, unter vollem Gebrauch von seinem bekannten Sarkasmus und Ironie, deutlich, dass sich die Deutschen im Vormärz genauso verhalten haben.
„Zur Beruhigung” besteht aus 8 Strophen zu je 4 Zeilen, welche dem Reimschema aabb folgen (Paarreim). In der ersten Strophe leitet Heine das Gedicht ein, indem ein Vergleich der beiden Völker gezogen wird („Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief -
In der zweiten Strophe wird der zuvor angedeutete Unterschied direkt angesprochen: „Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.” (Z. 5). Damit verdeutlicht Heine, dass „Wir” keine Römer seien und daher auch keine Tyrannenfresser, sondern ein kultiviertes und zivilisiertes Volk, das Tabak raucht und sich den sinnlichen Begierden hingibt. In den nächsten beiden Zeilen spricht das lyrische Ich nicht von den Deutschen oder den Römern, sondern von Völkern allgemein. Dass „jedes Volk (…) seinen Geschmack” (Z. 6) und „seine Größe” (Z. 7) hat. Von der „Größe” kann man auch auf den Mut oder die Angst bezüglich eines Widerstandes gegen die Staatsmacht schließen. Die letzte Zeile der 2. Strophe (Z. 8 „In Schwaben kocht man die besten Klöße.”) ist wie ein plötzlicher Einwurf, und zwar ohne Zusammenhang zu den vorherigen Zeilen und hier nicht nur fehl am Platz, sondern auch noch vollkommen belanglos. Es wirkt daher eher als ein Mittel, die zuvor erläuterten Auffassungen ins Lächerliche zu ziehen. Somit wird der Sarkasmus aufgezeigt, der in fast jeder Zeile vorhanden ist. Aus diesem Grund müssen die ersten Strophen unter ein anderes Licht gestellt werden, und so kann man nun darauf schließen, dass Heine dem deutschen Volk zumindest das Potenzial zu einer Revolution einräumt.
Eine weitere Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen wird in der 3. Strophe durch die Äußerung „Wir sind Germanen, gemütlich und brav, / Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,” (Z.9-
Die 4. Strophe führt den Gedanken der Treue fort durch „Wir sind so treu wie Eichenholz” (Z. 13). Eichenholz ist sehr beständig und hart. Dies könnte eine der ganz seltenen Stellen sein, in der Heine keinen Sarkasmus zu verstecken versucht. Jedoch wird eine Zeile weiter die deutsche Treue mit „Lindenholz” (Z. 14) verglichen. Lindenholz ist leicht verformbar und leicht zu bearbeiten. Es scheint also, als ob die deutschen Seelen und Geister Wachs in den Händen der Herrscher seien und deswegen kein „Tyrannenfresser” (Z. 4) unter diesen zu finden sei.
Die folgende Strophe ist auf zwei Arten zu deuten. Denn „Und wenn auch ein Brutus unter uns wär, / Den Cäsar fänd er nimmermehr, / Vergeblich würd er den Cäsar suchen;” kann sich entweder auf das politische Problem beziehen, dass die Fürsten zu viel Macht haben und ein „Brutus” niemals an diese herankommen könnte. Oder es soll auf die territoriale Situation der Partikularstaaten hinweisen, die zu viele „Cäsaren” (Fürsten) haben, und somit einem „Brutus” das Auffinden des Cäsaren unmöglich macht. Ein Anschlag auf einen höchsten Herrscher könnte es so nicht geben, da es einen solchen Führer ebenfalls nicht gibt und sich viele Fürsten die Gewalt über das eigentliche deutsche Herrschaftsgebiet teilen. Dies erweckt den Eindruck, dass Heine gegen die Vielstaaterei klagt und für einen einheitlichen Machthaber ist. Weiterhin kritisiert er, dass die Fürsten nicht mehr sind wie Cäsar. Cäsar festigte die römische Weltmachtstellung, gründete zahlreiche neue Kolonien, stellte die Wirtschaft auf eine gesunde Grundlage, begann zahlreiche bedeutende Bauwerke, ließ Rechte erfassen und führte den Julianischen Kalender ein. Die Fürsten waren im Deutschen Bund jedoch mehr an der Sicherung ihrer fürstlichen Rechte, als am Aufbau eines einheitlichen Nationalstaates interessiert. Mit „Wir haben gute Pfefferkuchen” (Z. 20) wirft der Autor wieder eine zusammenhangslose Zeile ein und zieht somit wieder alles zuvor Genannte ins Lächerliche.
In der 6. Strophe geht der Schriftsteller weiter auf das Thema der Kleinstaaterei ein, indem er mit den „sechsunddreißig Herrn” (Z. 21) beginnt, womit alle Fürsten der deutschen Staaten gemeint sind. Im darauf folgenden Vers zeigt Heine durch die äußerliche Gestaltung einer Zeile seinen Sarkasmus sehr deutlich auf, wie in keinem der restlichen Teile des Gedichts. Indem er „(Ist nicht zu viel!“, Z. 22) durch die Setzung der Klammern und des Ausrufezeichens versieht, hebt er somit noch einmal seine Meinung zur damaligen territorialen Lage hervor. Danach setzt er mit den Worten fort „und einen Stern/trägt jeder schützend auf seinem Herzen”, (Z. 22f.). Dieser „Stern” bezieht sich auf die Fürsten und stellt deren Adels-
Fortfahrend beschäftigt sich die vorletzte Strophe wieder mit der Thematik der Rolle der Fürsten und bezeichnet sie als „Väter” (Z. 25). Weiterhin benennt der Autor das Land, welches den Fürsten „erbeigentümlich” (Z. 27) gehört, als „Vaterland” (Z. 26). Dies ist wieder sarkastisch gemeint und soll einen falschen Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, darlegen. Denn wie kann EIN Volk, das deutsche Volk, zu mehreren Vaterländern zugehörig sein!? Zudem wird auch kritisiert, dass ein großes Land in mehrere Eigentümer unterteilt ist, denn es sollte eine Einheit sein, die auch dementsprechend regiert wird. Dies lässt auf eine demokratische Lösung der politischen Probleme in Deutschland schließen. Danach folgt in Zeile 28 zum dritten Mal eine Verspottung („Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.”), die wieder vollkommen zusammenhangslos eingefügt wurde und ein Fingerzeig Heines auf seinen Sarkasmus darstellt.
Die 8. und letzte Strophe von „Zur Beruhigung” steht nicht im direkten Zusammenhang zur vorherigen und bildet somit einen deutlich abgegrenzten Abschluss. Sie beginnt mit der Zeile 29-
Heinrich Heine schuf meiner Meinung nach ein Leitbild für alle politischen Gedichte. Er schrieb nicht nur einen plumpen Aufruf an das deutsche Volk, dass sie endlich „ihren Hintern hoch bekommen und Widerstand leisten sollen”, sondern er verpackt es viel überlegter und anspruchsvoller durch seinen Sarkasmus. Somit übt er mittels seiner wunderbar unterschwelligen Botschaften schwerste Kritik an der politischen Situation seines Vaterlandes in der Zeit des Vormärz. Mit seiner scharfzüngigen und brillanten Dichtung über den Zustand seiner Heimat, zeigt er dem Volk seine Fehler durch ironisch, verpönende Weise auf und gab ihm Anlass sich zu erheben. Schlussfolgernd ist zu sagen, dass der Titel des Gedichts „Zur Beruhigung” schon allein Ironie ist, denn für die damaligen Herrscher wird es alles andere als beruhigend gewesen sein.
soll der geier vergißmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom schakal,
daß er sich häute; vom wolf? soll
er sich selber ziehen die zähne?
5 was gefällt euch nicht
an politruks und an päpsten,
was guckt ihr blöd aus der wäsche
auf den verlogenen bildschirm?
wer näht denn dem general
10 den blutstreif an seine hosen? wer
zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
wer hängt sich stolz das blechkreuz
vor den knurrenden nabel? wer
nimmt das trinkgeld, den silberling,
15 den schweigepfennig? es gibt
viel bestohlene, wenig diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
lechzt denn nach lüge?
seht in den spiegel: feig,
20 scheuend die mühsal der wahrheit,
dem lernen abgeneigt, das denken
überantwortend den wölfen,
der nasenring euer teuerster schmuck,
keine täuschung zu dumm, kein trost
25 zu billig, jede erpressung
ist für euch noch zu milde.
ihr lämmer, schwestern sind,
mit euch verglichen, die krähen:
ihr blendet einer den andern.
30 brüderlichkeit herrscht
unter den wölfen:
sie gehen in rudeln.
gelobt sei´n die räuber; ihr,
einladend zur vergewaltigung,
35 werft euch aufs faule bett
des gehorsams, winselnd noch
lügt ihr, zerrissen
wollt ihr werden, ihr
39 ändert die welt nicht mehr.
In seinem 1962 verfassten Gedicht "verteidigung der wölfe gegen die lämmer" klagt Hans Magnus Enzensberger den durchschnittlichen, politisch nicht engagierten, aber wirtschaftlich benachteiligten Arbeitnehmer an, indem er ihn unter Rückgriff auf Metaphern bewusst macht, dass er seine Opferrolle gegenüber den politisch wie wirtschaftlich Mächtigen selbst verschuldet, weil er durch sein Handeln ihre Machtausübung erst ermöglicht.
Zur formalen Seite lässt sich sagen, dass das Gedicht ohne Reim auskommt und in freien Metren verfasst ist, so dass die Einteilung der 40 Zeilen in fünf tendenziell kürzer werdende Abschnitte nur dazu dient, Absätze von der Qualität gedanklicher Einschnitte zu schaffen. Auffällig ist die Kleinschreibung aller Wörter, in Hinblick auf Interpunktion und Syntax genügt Enzensberger weitgehend den gängigen Regeln der Prosasprache.
Enzensberger beginnt seinen Gedankengang – man könnte mit Blick auf die Überschrift von einem Plädoyer sprechen – mit einer geballten hintereinander Reihung rhetorischer Fragen, die sich an den vielzitierten „kleinen Mann“ in unserer Gesellschaft richten, der sich beim Ansehen der Fernsehnachrichten über die großen Einflussträger in Politik, Wirtschaft und auch Gesellschaft („politruks und päpste“) empört. Durch seine Eingangsfragen, in denen Enzensberger die Mächtigen bildlich als Geier, Schakal und Wolf darstellt, will er dem entrüsteten Kleinbürgertum verdeutlichen, dass man von "denen da oben" einfach nicht erwarten kann, dass sie sich aus eigenem Antrieb ändern, also „sich selber ... die Zähne [ziehen]“. Schließlich liegt es ja in der Natur eines Geiers und Schakals, Aas zu fressen und die Gefährlichkeit des Wolfes ist ebenfalls in seinem Wesen als Raubtier begründet.
Im zweiten Abschnitt erfolgt die grobe Übertragung dieser Tiersymbolik auf gesellschaftliche Verhältnisse: Nachdem sich die Kritik am „blöden“ Betrachter des „verlogenen bildschirms“ schon am Ende des ersten Abschnitts gesteigert hat, prangert der Autor nun – wiederum mit vielen rhetorischen Fragen – das Verhalten der Kleinbürger als systemtragend und damit für die Unrechtsausübung der Machthaber förderlich an. Die Begriffe „general“, „wucherer“, „blechkreuz“ etc. sind hier jeweils als pars pro toto zu verstehen. Sie repräsentieren moralisch negativ behaftete gesellschaftliche Kräfte (Militär, Großkapital), die jedoch erst in Interaktion mit den breiten Gesellschaftsschichten unter ihnen wirksam werden können. So können beispielsweise die militärischen Werte Hierarchie, Ehre und Tapferkeit (symbolisiert durch "blutstreif" und „blechkreuz“) nur auf der Grundlage breiter gesellschaftlicher Anerkennung bestehen („...wer applaudiert ihnen denn, wer steckt die abzeichen an, ...“). Die Frage „wer hängt sich stolz das blechkreuz vor den knurrenden nabel?" kann als historische Bezugnahme auf den teilweise fanatischen Einsatz deutscher Wehrmachtssoldaten gedeutet werden, die sich über ihren körperlichen Mangel aufgrund Unterversorgung mit Nahrungsmitteln durch militärische Ehrenabzeichen hinwegtrösten ließen. Mit dem bewusst abwertend-
Aber auch im wirtschaftlichen Bereich machen diejenigen, die sich unterprivilegiert fühlen, sich in Wahrheit zu Sekundanten und Wasserträgern der Privilegierten. Sie ordnen sich den ökonomischen Strukturen unter womit sie sich selbst schaden, indem sie es den Reichen ermöglichen, den Reichtum auf ihre Kosten noch weiter auszubauen. Dabei lassen sie sich mit einem „trinkgeld“ abspeisen und mit einem „schweigepfennig“ ruhigstellen. Aus der Feststellung „es gibt viele bestohlene, wenig diebe“ spricht wohl die vom Linksradikalen Enzensberger aus der marxistischen Ideologie entnommene Vorstellung von der zwangsläufigen Akkumulation von Kapital in den Händen weniger auf der einen Seite und vom Elend der Massen auf der anderen. Dies kann nach Marx nur so lange „gutgehen“ wie ein ideologischer Überbau die Gesellschaft zusammenhält und somit eine Revolution des Proletariats verhindert. Was Enzensberger nun den Benachteiligten dieser Entwicklung vorwirft – wie es auch Bertolt Brecht in seinen Werken zu tun pflegt – ist das bereitwillige Festhalten an dieser falschen Ideologie ("..., wer lechzt nach der lüge?").
Im dritten Abschnitt wird dieser systemerhaltende Mechanismus und vor allem der Beitrag, den die Kleinbürger dazu leisten, schonungslos konkretisiert: Aus Feigheit und Bequemlichkeit verzichten sie auf eine eigene aufrichtige Wahrheitssuche und überlassen das Denken ihren Ausbeutern, den „wölfen“. Sie sind leicht zu führen („der nasenring euer teuerster schmuck, ...“) und zufriedenzustellen („keine täuschung zu dumm, kein trost zu billig, ...“).
Eine sprachliche Auffälligkeit in diesem Abschnitt ist der gehäufte Gebrauch von Partizipien („scheuend“, „abgeneigt“, „überantwortend“) und die hintereinander Reihung von durch Kommata abgetrennten Ellipsen („der nasenring...billig,...“). Das verstärkt die Eindringlichkeit des negativen Bildes, das hier vom einfachen, politisch passiven Arbeiter gezeichnet wird, weil viele Eigenschaften auf engem Raum gebündelt präsentiert werden und man – aufgrund des sperrigen Satzbaus – nicht so leicht über diese Stelle hinwegliest.
Aus diesem letzten Grund nimmt Enzensberger vermutlich auch im ersten Satz des dritten Abschnitts eine Inversion vor: „..., schwestern, mit euch verglichen, die krähen: ...“.
Nachdem schon zuvor die Erwähnung der Wölfe in der Rolle der wirtschaftlichen Ausbeuter und politisch Mächtigen den Bezug zum Titel hergestellt hat, werden jetzt entsprechend die Leser, an die der Autor das Gedicht adressiert, als „lämmer“ direkt angesprochen. Diesen wirft der Autor vor, sich im Grunde weniger sozial als Krähen und Wölfe („sie gehen [immerhin] in rudeln“) zu verhalten, da sie sich gegenseitig eine gesellschaftliche Moral vorgaukeln („ihr blendet einer den andern“).
Den letzten Abschnitt leitet Enzensberger mit dem provokativen Satz „gelobt sein die räuber“ ein. Dies meint er nicht wörtlich, sondern nur im Vergleich zur völlig passiven, bereitwilligen und im größten Leiden noch verlogenen Handlungsweise der Opfer.
Der deutliche Übertreibungscharakter dieser Schlusssätze („einladend zur vergewaltigung“, „zerrissen wollt ihr werden“) ermöglicht eine eindringliche, komprimierte Zusammenfassung des Kernproblems, das den Gegenstand des Gedichts bildet: Das Proletariat trägt die Schuld an seiner benachteiligten Situation, weil ihm der Wille zur Veränderung der Welt fehlt, nicht aber die Macht.
Vor diesem Hintergrund ist das Gedicht als eine sozialrevolutionäres Werk einzuschätzen, das die Unterprivilegierten zum Erkennen ihrer eigenen Situation und zum gemeinsamen Ändern der Umstände auffordert (im Sinne des alten Arbeiterliedes „Mann der Arbeit, aufgewacht \ und erkenne Deine Macht! \ Alle Räder stehen still \ wenn Dein starker Arm es will...“).
Das Gedicht ist handwerklich geschickt gestaltet und könnte – rein von der Versprachlichung her – eine große Überzeugungswirkung haben, wenn auch die inhaltliche Argumentation viele Ansatzpunkte zur Kritik bietet, da sie sehr undifferenziert von der marxistischen Grundhaltung ausgeht.
1 Ich bin der Sieg
2 mein Vater war der Krieg
3 der Friede ist mein lieber Sohn
4 der gleicht meinem Vater schon
Erich Fried, geboren 1921 in Wien war ein österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist jüdischer Herkunft. Nach dem Tod seines Vaters Hugo 1938, verursacht durch Folterungen während eines Verhörs durch die Gestapo, wanderte Fried mit seiner Mutter aus dem mittlerweile an Deutschland angegliederten Österreich nach London aus. Dort schlug er sich während des Krieges mit Gelegenheitsarbeit durch und arbeitete anschließend für verschiedenste neue Zeitschriften. Fried war politisch sehr engagiert. So trat er dem „Freien Deutschen Kulturbund“, „Young Austria“, sowie später auch dem „Kommunistischen Jugendverband“ bei, den er allerdings 1943 aufgrund stalinistischer Tendenzen wieder verließ. Von 1952 bis 1963 arbeitete Fried als politischer Kommentator für den German Service der BBC. Seinen ersten Gedichtband, die antifaschistische Lyrik-
1. In dem Gedicht „Spruch“ von Erich Fried (1921-
verschickte, behandelt der Autor die Beziehung von Krieg und Frieden. Das Gedicht gehört zur Nachkriegsliteratur, was sich auch in der behandelten Thematik Krieg/Frieden zeigt.
In seinem Gedicht „Spruch“ stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden konträren Punkten „Krieg“ und „Frieden“ her. In diesem Vergleich stellt der „Krieg“ den Vater und der Friede dessen Enkel dar. Das lyrische Ich, der „Sieg", versteht sich als Übergang, der beide verbindet. Bedenklich scheint dem Sprecher die politische Situation: Der Friede nehme bereits erneut die Gestalt des Krieges an.
Das kurze Spruch-
Fried verwendet in seinem Gedicht eine Reihe von Personifikationen. So stellt er „Sieg" (Z.1) als lyrische Ich, den „Krieg“ (Z. 2) als dessen Vater und den „Frieden“ (Z. 3) als den Sohn des lyrischen Ichs dar. Indem er Krieg und Frieden gegenüberstellt bedient sich der Dichter einer Antithese, die er in Form eines Vergleiches formuliert. Damit stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden gegensätzlichen Dingen „Krieg“ und „Frieden“ her. Diese Verbindung kommt über die Komponente „Sieg“ zustande. Das bedeutet, dass am Anfang der Krieg in Form desVaters stand. Dieser brachte das lyrische Ich, somit den Sieg, hervor. Dieser wiederum zeugte einen Sohn und zwar den Frieden.
Abschließend schreibt Fried: „Der [Sohn] gleicht meinem Vater schon“ (Z. 4). Das bedeutet, dass der Sohn dem Großvater, also der Friede dem Krieg, immer ähnlicher werde. Damit stellt der Autor die These auf, Krieg und Frieden seien keine Gegensätze, sondern sich ähnelnde Dinge. Aus Krieg werde durch den Sieg einer Partei Frieden, der nach einiger Zeit wieder zu einem neue Krieg führe.
Diese gesellschaftskritische These ist ein Resultat der Erlebnisse und Erfahrungen Frieds während des Zweiten Weltkriegs, als er vor den Nationalsozialisten, die bereits seinen Vater umgebracht haben, nach London flüchtet, wo er den Krieg erlebt. Es zeigt sich, dass der Autor dem Frieden nicht traut. Diese lässt sich an der Phase zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg veranschaulichen. Dort ist aus dem Frieden, der dem Deutschen Reich diktiert wurde, ein neuer Krieg entstanden.
Das Gedicht „Spruch“ ist ein typisches Beispiel für ein Gedicht des politisch sehr engagierten Erich Fried, in dem er in der literarischen „Stunde Null“ den eigenen politischen Standpunkt und seine Befürchtungen verarbeitet.
2. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ ist uns von Heraklit von Ephesus (ca. 500 v. Chr.) überliefert. Und auch Erich Fried bezeichnet in seinem „Spruch“ aus dem Jahre 1945 den Krieg als den Vater des Sieges, verkörpert durch das lyrische Ich, und als den Großvater des Friedens.
Während Heraklits Sentenz auf den ersten Blick und ohne Kenntnis seiner Philosophie schwierig zu erschließen ist, schafft Fried in seinem Vierzeiler ein sofortiges Verständnis beim Leser, indem er Heraklits Familien-
Zum Neujahrswechsel 1945/46 versandte Fried den Spruch auf einer Postkarte an seine Freunde. Ein pessimistischer Neujahrgruß, ein halbes Jahr nach Ende des blutigsten aller jemals gefochtenen Kriege. Der geborene Jude Fried verfolgte das Kriegsende von London aus, nachdem er 1938, auf den Anschluss Österreichs an Hitler-
Großbritannien gehörte zu den Siegermächten des zweiten Weltkrieges, doch die Menschen litten Not. Vor allem für überlebende Juden war der Untergang der Nazis kaum als Sieg über jene zu bezeichnen, in Anbetracht der grausamen Vergehen an Familienmitgliedern und Freunden. Schon die erste Zeile entpuppt sich demnach im historischen Kontext als ambivalent. Ein Sieg ist nicht immer glücklich, ein Sieg macht nicht immer glücklich.
Ein Sieg folgt immer auf einen Krieg bzw. Konflikt – auch Heraklits „Krieg“ ist in diesem allgemeinen Sinne zu verstehen: Das altgriechische Wort „polemos“ kann auch Kampf, Konflikt bedeuten; und auf einen Sieg folgt immer eine kurze oder lange Periode des Friedens. Krieg und Frieden wechseln sich also immer ab, denn nach dem Frieden steht irgendwann wieder der Krieg vor der Tür, der dem Frieden nach Fried sogar „gleicht“.
Diese Periodizität zweier Zustände finden wir nicht nur in Krieg und Frieden, Vater und Sohn, sondern in vielfältiger Weise im natürlichen Lauf der Dinge. Tag und Nacht wechseln sich ab, Sommer und Winter, Warmzeit und Eiszeit. Abstrakt lässt sich von einem Dualismus der Prinzipien Konstruktion und Destruktion sprechen, und vor allem am zweiten Weltkrieg ist dies sehr anschaulich. Fried prophezeite also eine Periode des Friedens, und diese war eine Phase des Wiederaufbaus, der Konstruktion. Nachdem die Kriegsmächte ihre Städte im zweiten Weltkrieg gegenseitig zerbombt, also destruiert hatten, bauten sie sie nach 1945 wieder auf.
Die verheerende Zerstörung Deutschlands war überhaupt die Voraussetzung für einen Neuanfang zur Stunde Null und somit für das Wirtschaftswunder der 50er-
Frieds Spruch ist also sehr realistisch; gleichzeitig aber auch pessimistisch, weil er pünktlich zum ersten Friedensjahr einen neuen Krieg prophezeit, indem er die Ereignisse in einen unentrinnbaren, weil natürlichen Kreislauf stellt. Das lapidare Auslassen von Satzzeichen verstärkt den fatalistischen Charakter des Gedichts. Denn was nützt (deutsche) Korrektheit schon, wenn es um Leben und Tod geht. Frieds Erkenntnis scheint banal, was unterstützt wird durch den pauschalen Titel und den einfachen Paarreim, doch sie ist eminent zum Verständnis der Welt.
Dazu lohnt es, das Gedicht aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ein Sohn erfordert Vater und Großvater, ohne Großvater kein Enkel. Stellen wir uns eine Welt vor ohne Krieg, ohne Streit, ohne Konflikt. Wer wüsste in einer solchen Welt den Wert von Frieden und Harmonie zu schätzen?
Sobald etwas selbstverständlich ist, schätzen wir es nicht mehr. Gäbe es keine Krankheiten auf der Welt, so gäbe es auch keine Gesundheit, weil Gesundheit nur aus ihrem Kontrastpartner ihre Existenzberechtigung schöpft. Darf ich meinen (Groß)Vater überhaupt verurteilen? Verdanke ich ihm doch meine Existenz!
Diese dialektische Weltsicht lohnt es sich, gerade in Friedenszeiten wie unserer, immer wieder vor Augen zu führen. Das Gute ist nicht selbstverständlich, und es ist nur gut, weil es auch Schlechtes gibt.
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
5 Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
10 sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
15 Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
20 sagt die Liebe
Es ist eines der absoluten Liebesgedichte, u. es handelt sich um eine absolute Definition von Liebe! Der Titel kommt schon – sich selbst – behauptend daher: „Was es ist“! Es heißt nicht: Was ist es? Es ist eben keine Frage, keine Befragung, keine Unsicherheit, sondern nur mehr Antwort, Erklärung, Tatsache, Existenz. Und es ist das „es“, das Faktum per se! Und es existiert, unabhängig von den großen gedanklichen und emotionalen Versuchen, die die Liebe in ihrem existentiellen und essentiellen Da-
Es treten auf in der Reihenfolge ihrer vergeblichen Bemühungen: die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie alle behaupten Dinge über unsere Liebe, die die Liebe vollkommen aufzuheben und zu zerstören trachten!
Die Vernunft! (Pah, was ist schon die Vernunft? Sie bemüht sich vernünftig zu sein, „sei doch vernünftig“ etc.) sagt gleich, fällt mit der Tür ins Haus, darf als erste sprechen, angreifen: das ist Unsinn, Quatsch, Einbildung, gibt es gar nicht, ohne irgendwelchen Sinn, Unsinn, Verkehrung allen Lebens, das darf es nicht geben. Und bei Unsinn kann auch die Bedeutungsebene von Sinnen, Sinnenhaftigkeit gemeint sein, also Unsinn: du täuschst dich, in dem was deine Sinne da wahrnehmen an Augenblicken, Gerüchen, Tasten, Streicheln, Wärme... alles Unsinn, sagt die Vernunft.
Die Liebe antwortet ruhig, gleichmütig, stets in der Gewissheit in immer gleicher Formulierung, gibt Antwort, stellt sich geduldig den Angriffen, unverletzbar, unerschütterlich, und sie wird das letzte Wort behalten mit eben dem gleichen, alle Not wendenden Wort.
Die Berechnung tritt auf, oh ja jene Instanz in uns, die die teils unfassbaren Dinge des Lebens in ein berechenbares Maß zwingen will – vergeblich. Sie ist kalt, berechnend, sie rechnet mit dem Schlimmsten, sie droht mit dem Unglück, das alles zerstört. (siehe auch das Gedicht von Fried: Fast Glück)
Von Unsinn zu Unglück handelt es sich durch die Wiederholung um eine poetische Steigerung, um eine Verstärkung des Angriffs auf die Liebe.
Immer drohen die „Angreifer“ mit dem, was kommen könnte, zuerst: mit dem Schmerz droht die Angst, unsere Angst, es könnte schief gehen, vergeblich sein, wehtun, wenn es scheitert; die Einsicht (welche Einsicht? Wessen Einsicht?) droht sogar mit der Aussichtslosigkeit, fast Blindheit: du gewinnst nichts mit der Liebe. „es ist aussichtslos“ hat in dieser Formulierung sogar noch einen stärkeren Klang. Und Berechnung, Angst und Einsicht fallen gemeinsam über die Liebe her, und behaupten eben auch: „So ist es!“, nicht so sei es , oder es könnte so sein. Sie befragen die Liebe nicht, sondern „hauen ihr ihre Behauptungen um die Ohren“. Wieder antwortet die Liebe stark und fest.
Und es droht der Liebe sogar noch mehr an Gefährdung: es ist lächerlich, man wird dich auslachen, du wirst isoliert und man wird dich für verrückt halten, so kommt der Stolz scheinbar stolz daher. Wie oft sind wir in unseren liebevollen Verrückungen uns selbst nicht sicher und machen die tollsten Sachen, um unserer Liebe zu dienen, sie zu erfüllen auch gegen alle Anfeindungen, als könnten wir den Verlust der Liebe unbeschadet überstehen, aus ihrem Nichterfüllen auch noch Stolz ziehen: das hab ich hinter mir. Bitterer Stolz, eine Einsamkeit (der „Hagestolz“), die die Liebe verraten hat.
Da meldet sich die Vorsicht: es ist leichtsinnig, du gefährdest deine Existenz, pass auf, was du tust, wenn du der Liebe folgst, begehst du einen großen Fehler und hinterher tut es dir leid.
Und da tritt auch noch die Erfahrung auf den Plan: sie behauptet, dass doch das ganze Leben bisher eben ohne die Liebe funktioniert habe, dass es sie gar nicht gibt, sie sei unmöglich.
Das ist nun der Gipfel der Unverfrorenheit, die totale Infragestellung der Existenz von Liebe, man hatte sich eingerichtet und mit Mario Simmel: „Liebe ist nur ein Wort“ nachgeplappert, nach all den schwierigen Erfahrungen und Verlusten haben wir einfach behauptet: gibt`s nicht, kommt bei uns nicht vor. Um die ersten Verluste zu schützen, um unser Weiterleben im mittelmäßigen Dahin-
Aber: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“
Punkt. Aus! So ist es. Es ist da. Und es ist unvernichtbar. Und es erfüllt uns, unverwundbar gegen die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie bildet die Grundlage allen Lebens, kein noch so großes Bemühen, sie zu verleugnen, kann sie überhaupt in Frage stellen.
Und sie ist jeder noch so schlüssigen Erklärung der Vernunft, der Berechnung, der Angst, der Einsicht, des Stolzes und der Vorsicht unerreichbar.
Dieses Gedicht tut allen Liebenden gut, die da zweifeln und fragen, die angegriffen werden und manchmal vor überbordender Liebe kaum mehr wissen, wie ihnen geschieht, und dass sie auserwählt sind, die Welt zusammenzuhalten, ohne dafür eine Erklärung zu haben, nur die innere Kraft.
„Wenn dir die Liebe winkt, folge ihr, möge das unterm Gefieder versteckte Schwert dich auch töten“ (aus: Ghalil Gibran, Der Prophet“)
Erich Fried hat mit diesem Gedicht in dieser sprachlichen Pointierung eines der grundlegendsten Gedichte und Verdichtungen über die Liebe geschaffen.
Das Gedicht teilt sich mit, gibt sich aber nicht preis. Es gibt die Liebe, die hier spricht, nicht preis, sondern lässt sie auf deren Anfeindungen mit einer in sich ruhenden Kraft reagieren.
„Es ist was es, sagt die Liebe“ so die interpunktionslose handschriftliche Anordnung durch Erich Fried selbst, die sich einer Interpretation nicht gleich erschließt. Wollte er die Einheit der Aussage betonen?
Die „Vernunft“ steht in der 1. Strophe herausgehoben einleitend und schafft der „Liebe“ Raum sich zu exponieren; dann folgen zwei Strophen, in denen jeweils drei „Gegner“ auftreten, die sich in den Strophen noch steigern und in der Behauptung der Unmöglichkeit von Liebe gipfeln. Jeder Liebende spürt mit jeder Zeile seine Kraft zur Liebe wachsen, weil er sich dieser poetischen Provokation mit Liebe entgegenstellen will. Insofern hat Fried ein Gedicht geschaffen, das uns stärken soll und tut.
ZUR FORTSETZUNG ALLTAGS-
Goethe will also mit seinem Gedicht zum Ausdruck bringen, dass sich alles um uns herum ändert, vergänglich ist, auch unser Körper, dass aber unsere Seele und unser Verstand, was also unseren Charakter ausmacht, unvergänglich sind. Er sieht die Welt in ständigem Wandel, das Individuum aber als etwas, das in seiner Einzigartigkeit trotz kleiner Veränderungen im Grunde gleich bleibt.
Gottfried Benn jedoch, ein Dichter des 20. Jahrhunderts, der in einer gänzlich unterschiedlichen Zeit lebt, sieht alles gegensätzlich. Er sieht im Äußeren das Andauernde und im Individuum den Wechsel. Er gesteht dem Äußeren zwar Veränderung zu, „alles setzt sich fort“ (Z.13), aber er glaubt, dass „alles [ ] in seinem Grundverhalten [bleibt]“. Außer eben das Individuum, was in seinem Zusatz „aber du -
Der Schöpfungsglaube aber fehlt bei Gottfried Benn. Dies liegt sicher auch an der Zeit, in der er lebt. Denn der Glaube ist zu einem unwichtigen Lebensbestandteil für viele Menschen geworden. Sie sind nicht mehr so dankbar für alles, was sie sind und was sie umgibt. Aber gerade deshalb beginnen sie Antworten zu suchen, versuchen sie die Welt zu erklären und ihre Sicht zur Welt und zu sich selbst zu finden. Goethes Gedicht weist keinen genauen Schauplatz auf, handelt aber von der Natur, die zu seiner Zeit noch ein sehr wichtiger und kaum zerstörter Bestandteil des Lebens war.
Im 20. Jahrhundert dagegen gehen viele Menschen nicht mehr in die Natur, sie haben vergessen, wie schön es dort ist. Man sucht sein Glück in dem, was der Mensch geschaffen hat. Deshalb spielt Benns Gedicht wohl auch in einer Kneipe, in einem Lokal. Doch auch hier ist nichts Schönes („selbst an diesem Ort zerfällst du bloß“, Z.4).
Das einzig Schöne ist die Blume, die aber auch nichts Besonderes mehr ist. Für Gottfried Benn ist das, „was eindringt“ (Z.2), etwas Schlechtes, nichts Großes wie für Goethe. Der schilderte die Natur, die Freude, die ihr Anblick bereitet. Benn hingegen hält es nicht für ratsam sich zu eilen und die Früchte zu genießen, bevor sie weg sind, sondern er rät seinen Mitmenschen, „die Augen [zu] schließen“ (Z.1) vor dem, was draußen ist. Er bedauert nicht, dass die Natur so schnell vergeht, er bedauert das immer Gleiche des Alltags („schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden“ Z.11).
Auch bezeichnet er den Menschen als „Flüchtigen“ (V.1), flüchtig vor der Welt, vor sich selbst, vor der Trostlosigkeit des Alltags. Er beschreibt einen Rechtsanwalt (Sinnbild für Regeln, immer Gleiches, Starres), der schon wie tot wirkt, aber plötzlich beginnt lebhaft zu trinken -
Zwar ist für Benn das Individuum schon etwas Besonderes, aber er hält es nicht unbedingt für besonders gut.
Für Goethe und viele seiner Zeitgenossen war klar, dass der Sinn des Lebens in Bildung von Seele und Geist lag, die Sinnsuche war quasi abgeschlossen, in Benns Zeit jedoch begann eine neue Phase der Sinnsuche. Im Gegensatz zum Gedicht „Dauer im Wechsel“ wird hier nur einmal, gleich zu Anfang, eine Aufforderung an den Leser gerichtet. Goethe ist da viel euphorischer, hat noch Hoffnung und möchte seine Gedanken mitteilen, andere mitreißen. In Benns Gedicht herrschen Abgestumpftheit, Trostlosigkeit und Verzweiflung vor. Die Hoffnung ist verschwunden.
Benn stellt dem Leser abschließend eine Frage: „aber du -
Die Grundstimmung ist ebenso gegensätzlich. Goethes Gedicht ist euphorisch u. wirkt trotz einiger Klagen optimistisch u. froh. Benns Gedicht ist voll von Hoffnungslosigkeit, sehr melancholisch u. eher traurig. Die beiden Ansichten, die sicher die der beiden Verfasser sind, da ein lyrisches Ich nicht näher bestimmt ist, bei Gottfried Benn gleich gar nicht vorhanden, sind sicher in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu sehen. Im 20. Jhd. fehlen weitgehend die Natur-
So ist es nicht verwunderlich, dass beide Dichter so unterschiedliche Auffassungen von der Welt und dem Individuum haben.
Vergleich zweier Gedichte:
18. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)
19. Rainer Maria Rilke: Herbsttag (1902)
18. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)
Fetter grüne du Laub
Am Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf
Gedrängter quillet
5 Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
10 Fruchtende Fülle.
Euch kühlet des Monds
Freundlicher Zauberhauch
Und euch betauen, Ach!
Aus diesen Augen
15 Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Tränen.
19. Rainer Maria Rilke: Herbsttag (1902)
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
5 gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
10 wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Vergleichende Gedichtinterpretation -
Bevor ich mit der detaillierten Analyse und Deutung der einzelnen Abschnitte der Werke beginne, soll eine Zusammenfassung unter formalen Gesichtspunkten erfolgen. Johann Wolfgang von Goethe verwendet weder Endreim noch festes Metrum (hingegen nur schwere, unregelmäßig auftauchende Metren wie Daktylos und Trochäus), verzichtet gar auf eine sichtbare Gliederung in Strophen. Dies steht im völligen Kontrast zu Rilkes dreistrophigem Gedicht, welches in je drei, vier und abschließend fünf Zeilen gegliedert sowie durch die Verwendung umarmender Reime und unregelmäßiger fünfhebiger Jamben charakterisiert ist, was dem „Herbsttag“ viel deutlichere Konturen gibt, wohingegen Goethe seinen Worten den leichten Fluss nicht durch die Zusammenfügung innerhalb fester formaler Mittel nehmen zu wollen scheint. Dennoch lässt sich „Im Herbst 1775“ inhaltlich in Teile strukturieren, wobei der erste die Verse eins bis sechs umfasst. Das lyrische ich lässt sich anhand dieser Zeilen bereits eindeutig positionieren: es blickt aus dem Fenster („ […] Hier mein Fenster herauf.“, Z. 3) auf die das Haus umgebende Natur, vielleicht einen Garten, Pflanzen, die das Gemäuer beranken oder ähnliches. Von dieser Position aus wendet sich das lyrische ich imperativisch an gegenständliche, fassbare Erscheinungen der belebten Natur, „(…)Laub (…)“, Z. 1; „(…) Das Rebengeländer (…)“, Z. 2; „(…) Zwillingsbeeren (…)“, Z. 5, fordert jene auf die typisch herbstlichen „Wachstumsprozesse“, das Grünen, Quillen und Reifen (vgl. Z. 1, 4, 5), zu beschleunigen. In diesem Moment steht also noch das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund: Früchte reifen beispielsweise im Herbst, doch ist die Zeit des Grünens und Blühens längst vorbei, eher noch kündigt sich der Winter und damit die Zeit einer grau-
Die starken Worte sind Ausdruck der Üppigkeit der Natur, ihrer Unbezähmbarkeit, ihres Überflusses. Zudem verknüpft der Dichter die Zeilen zwei bis vier durch Zeilensprünge, was zusätzlich sprachliche Dichte, Dynamik und Sprachfluss verbessert, kann dies nicht durch ein einheitliches Metrum erfolgen. Zur Zeit der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang herrschte eine besonders starke Hinwendung zu belebter wie unbelebter Natur. Goethe war des weiteren Pantheist, weshalb es ihm anders als seinem Prometheus oder Rilke, worauf ich sogleich kommen werde, ausreichte, der Natur zu befehlen, da sie nach pantheistischem Glauben Teil sowie Verkörperung Gottes ist.
Dem gegenüber steht die erste Strophe des Gedichtes „Herbsttag“, welche drei Zeilen umfasst. Auch hier wendet sich das lyrische ich, das sich aber anders als bei Goethe nicht ähnlich einer Bildkomposition positionieren lässt, an Gott, spricht hier jedoch den Schöpfer höchstpersönlich an, um von ihm dann die fühlbare Beendung des Sommers und Einläutung des Herbstes zu fordern. Während wir im ersten Gedicht also folgende ersten Zeilen finden: „Fetter grüne, du Laub, (…)“, lautet die direkte Ansprache im zweiten wie folgt: „ Herr: es ist Zeit.“. Klar muss hierbei sein, dass es sich kaum um einen Gebetsgestus handelt. Goethe und Rilke vertraten sehr unterschiedliche Glaubensrichtungen, insofern man bei letzterem, einem Anhänger Nietzsches („Gott ist tot.“) davon sprechen kann. Er erhöhte Religion ausschließlich zur Kunstform, was auch den befehlenden Ton des lyrischen Ichs, der sich an die vorausgegangene Feststellung anschließt, erklärt. „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren laß die Winde los.“; Z. 2 bis 3 – die Imperative sind unschwer zu erkennen, doch scheinen sich hinter jenen Forderungen gleich zwei Ebenen zu verstecken. Zunächst fällt dabei die bildhafte ins Auge: Sonnenuhren beschatten meint schließlich die Welt verdunkeln, Winde loslassen herbstliches Wetter einzuläuten. Allerdings entsprächen jene Vorstellungen einem eher altertümlichen Gottesbild, das Gott in seiner Position als Schattenwerfer und Windeigner Wächter der Naturgewalten darstellt. Obgleich das lyrische ich einige Vermessenheit an den Tag legt, Gott zu befehlen, drückt es im zweiten Satz des ersten Verses doch Anerkennung für vollbrachte Taten, für Vergangenes im Präteritum aus („ Der Sommer war groß.“), um dann gleich neue Kraft zu fordern. All dies sind Vorstellungen und Weltbilder die Rilke persönlich völlig fremd waren, weshalb er sie sicher vor allem aus künstlerisch wertvoller Sicht derartig gebraucht, gemäß l’art pour l’art, Kunst (in diesem Falle Religion) um der Kunst willen.
Der Wendung an die Natur schließt sich im Verlaufe des „Herbstes 1775“ die Rede über selbige an. Dieser zweite Teil des Gedichtes umfasst die Zeilen sieben bis zwölf und thematisiert den kosmischen Teil der Natur, die Naturgewalten, welche bei Rilke bereits Inhalt der ersten Strophe sind, und zeigt auf, inwiefern sie die im ersten Teil beschriebene Flora beeinflussen. Das lyrische ich wagt den Blick in die Ferne, gen Himmel, was auch auf Goethes biografisches Fernweh, den Umzug nach Weimar, übertragen werden könnte. Zunächst fallen die Personifizierungen der Sonne, des Mondes und des Himmels auf („[…] Mutter Sonne […]“, Z. 7). Die Anrede der Sonne als Mutter verfügt zudem über einen pantheistisch – religiösen Beigeschmack. Starke Bildlichkeit, verbesserte Anschaulichkeit und gesteigerten Wohlklang erzeugen die den kosmischen Gewalten zugewiesenen Attribute, welche zudem verdeutlichen, welchen Anteil die Himmelskörper und der Himmel selbst am Prozess der Fruchtwerdung haben: der Sonne brütender Scheideblick ist Ausdruck von Licht und Wärme (vgl. Z. 7 und 8), des Himmels fruchtende Fülle steht für ermöglichte Fruchtbarkeit (vgl. Z. 9 und 10), des Mondes freundlicher Zauberhauch für die nötige Kühlung der Nacht (vgl. Z. 11 und 12). Wie bereits erkennbar beinhalten jene sechs Zeilen aufzählungsartig aneinandergereihte Metaphern für das Wirken von Sonne, Mond und Himmel. Beschriebene Zusammengehörigkeit der Zeilen wird auch durch anaphorische Satzanfänge („ Euch brütet […]“, Z. 7; „ […] euch umsäuselt […]“, Z. 8; „Euch kühlet […]“, Z. 11) und den jeweils genetivischen Gebrauch der Artikel zur besonderen Herausstellung der „Besitzverhältnisse“, so dass die unmissverständlich genaue Zuweisung der Attribute betont wird, verdeutlicht. Genannte Pronomina heben die Relation belebte – unbelebte Natur, letztere beeinflusst „euch“, erstere, hervor. Somit spricht das lyrische Ich trotz seiner Sprache von kosmischen Erscheinungen weiterhin mit Laub, Rebengeländer sowie Zwillingsbeeren. Eigenschaften der Naturgewalten werden durch wohlklingende Verben illustriert und zeigen einmal mehr der Sprache Bildlichkeit. So verspricht umsäuseln sanfte, zarte, kaum merkliche Berührungen, brüten bedeutet nahezu unerträgliche Hitze, Kühlen vermag dies in der Nacht zu mildern. Es ergibt sich des Weiteren der Kontrast Sonne – Mond, Tag – Nacht, Wärme – Kälte, was durch die Klimax artige Steigerung, nicht der Temperatur sondern der Kälte, von „brüten“ über „umsäuseln“ nach „kühlen“ verstärkt wird. Der Himmel selbst nimmt dabei nur eine neutrale oder vermittelnde Position ein, da Sonne und Mond schließlich beide Himmelskörper, zwei Seiten einer Medaille und dadurch geeint sind. Zudem handelt es sich natürlich sowohl seitens der Sonne als auch des Mondes um Teilprozesse, welche die Natur leben lassen, was das lyrische ich zur Nutzung euphemistischen Vokabulars, das einer Preisung der Gewalten ähnlich anmutet, zu bewegen scheint. Beispiele wären die Alliterationen „(…) des holden Himmels fruchtende Fülle (…), Z. 9 und 10 oder das Kompositum (freundlicher) Zauberhauch, Vers 12, deren Verwendung natürlich auch Sprachfluss und -
Anders als Goethes lyrisches Ich unterbricht selbiges bei Rilke seine imperativische Wendung an Gott im Verlaufe der zweiten Strophe, welche die Zeilen vier bis sieben, also vier Zeilen umfasst, nicht. Da bereits die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe indirekt die Naturgewalten thematisieren, indem das lyrische ich Gott auffordert, sie herbstlich wirken zu lassen, kommen hier nun Erscheinungen der belebten Natur, die Bestandteil Goethes ersten Teils sind, zur Sprache. Früchte sollen reifen, vollendet, der Wein in Aroma und Vollmundigkeit perfektioniert werden. Das lyrische ich drängt geradezu auf die Vervollkommnung des Ertrages aus der Natur, was vor allem menschliches Interesse am Herbst mit all seinen Annehmlichkeiten verrät. Auch hier steht also das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund. Z. 4 beinhaltet sogleich einen doppelten Imperativ: „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein.“ -
Von den hier gebrauchten Verben geht eine ganz andere Dynamik als von denen in Goethes zweitem Teil aus. Sind es dort die Naturgewalten, welche Laub und Beeren denkbar sanft formvollenden, so ist es hier Gott, der drängend und jagend wesentlich gewaltiger, aktiver und fordernder seine Arbeit verrichtet. Erneut ist es die „letzte“, diesmal Süße, welche klare Assoziationen mit Perfektionismus weckt, kein naturgegebenes Geschenk wird ausgespart, alles bis zur Vollendung erledigt. Eine schwache Synästhesie stellt der schwere Wein dar. Ein Wort, das in unseren Sprachgebrauch übergegangen ist, aber dennoch leichte Widersprüchlichkeit aufweist. Schließlich vereinen sich hier die ursprünglichen Bedeutungen des Fühlens eines Gewichtes und Schmecken eines Aromas.
Nach den Erscheinungen der unbelebten Natur folgt bei Goethe nun die Übertragung auf die persönliche Situation des lyrischen Ichs. Der dritte Teil, Z. 13 bis 16 umfassend, wird wie vorangegangenen Zeilen anaphorisch durch „euch“ eingeleitet, wobei die vorangestellte Konjunktion „und“ den Charakter des nachträglichen Hinzufügens verdeutlicht. Vielleicht versucht das lyrische Ich sich mithilfe der Wortwiederholung, wie es sie auch bezüglich der kosmischen Natur gebrauchte, ihr nahezubringen. Doch werden die Tränen anders als Wärme oder Kälte vermutlich wirkungslos bleiben, die belebte Natur wenig beeinflussen. Obgleich Goethe hier ein Verb wortwörtlich natürlichen Ursprungs gebraucht, tauen (vgl. Z. 13), wird es in diesem Zusammenhang den menschlichen Tränen zugesprochen. Jenes wohlklingende, bildliche Verb erzeugt zudem den Eindruck von einer besonderen Beziehung des lyrischen Ichs oder des Menschen im Allgemeinen zur Natur – die eigene Person, das menschliche Wesen ist gemäß pantheistischem Glauben ganz in die Prozesse der Natur einbezogen, hat Anteil daran und ist nicht ausgeschlossen. Die Interjektion „ach“ (vgl. Vers 13) ist ein typischer Kunstgriff der Epoche des Sturm und Drang / der Empfindsamkeit, ferner Ausdruck tiefer Bewegtheit, persönlicher Betroffenheit und natürlich um der sprachlichen Authentizität willen gebraucht. Den direkten Hinweis auf das lyrische ich als weinendes Individuum erhalten wir durch das Reflexivpronomen „diesen“ (vgl. Z. 14), welches die Augen unmissverständlich zuweist. Dabei handelt es sich um eben jene Augen, die sich zuvor an der natürlichen Schönheit der Umgebung erfreuten, in die Ferne blickten. Z. 15 charakterisiert die Liebe als ewige, stetige, unaufhaltsame Lebenskraft, die auch nach Enttäuschungen noch bestehen, das Leben im weiteren Sinne erhalten kann. Diese äußerst optimistische Auffassung passt zu Goethes biografischem Hintergrund -
Auch die dritte Strophe des „Herbsttages“ verweist auf den Menschen, entfernt sich von bloßer belebter und unbelebter Natur, wobei das lyrische ich hier nicht den unmittelbaren Selbstbezug deutlich werden lässt. Doch ist der Ausblick dieser Tage kein guter – die Zukunft hält ein Leben in Einsamkeit, Unruhe und Tristesse bereit. Was sich uns hier bietet ist ein negatives Ende, der Zerfall des Herbstes, nicht der werdende, wachsende Aspekt. Die Haupterkenntnis des lyrischen Ichs lässt sich für die Verse acht bis zwölf wie folgt formulieren: der Mensch ist von der Vervollkommnung der Natur ausgeschlossen, nur Flora und Fauna erfahren die Vollendung in Perfektion. Der erste Satz (Z. 8) kommt einer bloßen Feststellung gleich, die im Präsens formuliert wurde. Durch die Struktur des Satzes, die einen Relativsatz erkennen lässt, werden Anonymität und Allgemeingültigkeit bewahrt, was sich deutlich von den sehr persönlichen letzten Zeilen des lyrischen Ichs bei Goethe unterscheidet. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ -
Zur Gedankenbewegung bei Goethe bliebe zusammenfassend noch Folgendes zu sagen: Der imperativischen Wendung an die belebte Natur um die Vollendung jener zu bewirken schließt sich die weitere Rede mit den Erscheinungen der Pflanzenwelt, aber zudem die Sprache von kosmischer Natur, welche die Flora beeinflusst, an, abschließend wird das „Werden“ eines Herbstes auf die persönliche Trauerstimmung des lyrischen Ichs übertragen, welches der Jahreszeit angepasst in eine optimistische Aufbruchsstimmung versetzt wird. Rilkes Reflektionen unterscheiden sich davon recht deutlich: die imperativische Wendung an Gott, zunächst als Wächter der Naturgewalten, dann als omnipotenter Weltverbesserer zugunsten der belebten Natur, umfasst die ersten beiden Strophen, der dritte Teil lässt bei Übertragung der Herbststimmung auf den Menschen, dessen unmöglich überwindbare Unvollkommenheit deutlich werden, was eher Endzeit-
Empfindsamkeit / Sturm und Drang versus vielschichtigste Literatur der Jahrhundertwende – was bleibt, ist zuweilen der Balsam der Enttäuschungen, manchmal auch die ganz persönliche apokalyptische Endzeitstimmung. Angesichts Goethes biographischen Hintergrundes muss ich meine tiefste Bewunderung für die optimistische Vision von der ewig lebenden Liebe aussprechen. So schön gewählt Amadeus de Prados Worte auch sind, in einem hoffnungslos unglücklichen Gefühlszustand wären sie mir nur ein geringer Trost. Der (Selbst) -
Ob man(n)/ Frau in dieser Form tatsächlich zur wahren Selbsterkenntnis gelangt, liegt im Auge des Betrachters, erscheint mir jedoch eher fragwürdig. Aber -
Vergleich zweier Gedichte:
7. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)
20. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)
7. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
5 Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
10 Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
15 Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
20. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)
Ich säh dich gern noch einmal, wie vor Jahren
Zum erstenmal. -
Ich säh dich gern noch einmal wie vorher,
Als wir uns herrlich fremd und sonst nichts waren.
5 Ich hört dich gern noch einmal wieder fragen,
Wie jung ich sei ... was ich des Abends tu -
Und später dann im kaumgebornen «Du»
Mir jene tausend Worte Liebe sagen.
Ich würde mich so gerne wieder sehnen,
10 Dich lange ansehn stumm und so verliebt -
Und wieder weinen, wenn du mich betrübt,
Die vielzuoft geweinten dummen Tränen.
-
Bist du ein andrer oder liegts an mir?
15 Vielleicht kann keiner von uns zwein dafür.
Man glaubt oft nicht, was ein paar Jahre machen.
Ich möchte wieder deine Briefe lesen,
Die Worte, die man liebend nur versteht.
Jedoch mir scheint, heut ist es schon zu spät.
20 Wie unbarmherzig ist das Wort: «Gewesen!»
1. In dem 1933 erstmals publizierten Gedicht »Das Ende vom Lied« von Mascha Kaléko reflektiert das lyrische Ich den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung: Zunächst äußert es den Wunsch nach Wiederholung der einstigen Kontaktaufnahme, die es ermöglicht hatte, den/die noch unbekannte/n zukünftige/n PartnerIn völlig unvoreingenommen zu betrachten. Gerne würde sich das lyrische Ich erneut nach Alter und bevorzugter Freizeitgestaltung befragen lassen, um bereits nach kurzem Kennenlernen Liebesbekundungen zu hören. Wieder wünscht das lyrische Ich, vergangene Gemeinsamkeit zu durchleben, den/die PartnerIn anzuschauen und nach Kummer Tränen zu vergießen.
Stattdessen folgt eine Bestandsaufnahme, der Gedanke, dass derlei Erfahrungen vergänglich seien, die Vermutung, dass sowohl die Interaktion beider PartnerInnen als auch die Zeit das Schwinden von Emotionalität begünstigten. Noch einmal verdeutlicht das lyrische Ich den Wunsch Vergangenes zu erneuern, sich wieder mit einst geschriebenen, von Liebe kündenden Worten zu befassen, bevor sich die Erkenntnis der Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens durchsetzt.
Das lyrische Ich reflektiert, indem es gedanklich Kontakt zum/zur Partner/-
Sehnsucht nach der Suche nach Gemeinsamkeiten und nach aufrichtigem Interesse, auf das die Frage nach der Abendgestaltung schließen ließ. Sehnsucht nach Vertrautheit, mit der man sich mit einem »kaum gebornen Du« (Z. 7) gegenseitig schon früh zu beglücken begann. Schmerzhaft steht den damaligen Liebesschwüren die Gegenwart und mit dieser der Verlust einer idealerweise mit Verliebtsein einhergehenden und in überschwängliche Emotionalität mündenden Naivität gegenüber.
Gegenwärtig ist man sich nicht mehr »herrlich fremd« (V. 4); was bleibt, ist Gewohnheit. Eine als »unbarmherzig« (Z. 20) erlebte Routine. Zunächst scheint das lyrische Ich die Gegenwart negieren zu wollen. Der Verlust des Ideals ist schwer zu akzeptieren. Selbst die aus Kummer »oft geweinten dummen Tränen« (Z. 12) werden sehnsüchtig vermisst. Die unübersehbare Tendenz die eigenen Gefühlsäußerungen negativ zu attribuieren verrät Distanzierung vom damals schmerzenden, heute retrospektiv betrachtet weniger schmerzenden Kummer. Dieser scheint heute annehmbarer zu sein als von Gewohnheit abgelöstes Verliebtsein sowie das beklagte Fehlen von Emotionen. Doch verrät das lyrische Ich auch Ambivalenz, wenn es einerseits die Notwendigkeit der Gefühlsäußerungen erkennt, da deren Verurteilung und die daraus resultierende Unterdrückung einen eigenen Beitrag zum Absterben der vermissten Emotionalität leisten, andererseits jedoch an der Verurteilung des Weinens als übertrieben anmutend festhält. Obendrein fällt auf, wie das lyrische Ich die als schmerzhaft empfundene Gegenwart als »zum Lachen!« (Z. 13) beschönigt, wodurch die Sehnsucht leichter zu ertragen sein mag. Letztlich findet sich das lyrische Ich mit der Überzeugung ab, »es [sei] schon zu spät« (Z. 19). Das lyrische Ich bestärkt die eigene Passivität. Zur Kompensation des Unvermögens Verantwortung zu übernehmen, den Widerspruch zwischen Erkenntnis einer Ursache und Überwindung jener Ursache zu lösen, bemüht es sich um die Erklärung des Verlustes der Emotionalität durch weitere Einflussfaktoren: Der/Die PartnerIn könne sich verändert haben. Jedoch hieße dies, den/die einst idealisierte/n PartnerIn abwerten zu müssen. Um diese Option zu vermeiden, wird Verantwortung auf die Zeit abgewälzt. Übrig bleibt Resignation und als Fazit der Glaube an die Unaufhaltbarkeit der Vergänglichkeit.
Das Gedicht umfasst fünf aus je vier Versen gestaltete Strophen. Durchgängig setzen sich diese aus umarmten Paarreimen zusammen, wobei jene jeweils männliche Kadenzen aufweisen, während die Zeilenabschlüsse der Umarmungen weiblich sind. Jeder Vers formt darüber hinaus einen Jambus mit fünf Hebungen, wodurch eine regelmäßige, leichte Intonation ermöglicht wird.
Sprachlich fällt die sparsame Verwendung von Bildern auf. Viel mehr ist das lyrische Ich um eine möglichst rationale Schilderung der eigenen Befindlichkeit bemüht. Durch die häufige Nutzung der Personalpronomina »Ich« (Z. 17) und »du« (Z. 14) entsteht eine Identifikationsmöglichkeit des Lesers mit dem lyrischen Ich; zugleich erfährt der Leser von der Existenz des Partners bzw. der Partnerin. Ausschließlich durch die Schilderungen des lyrischen Ichs wird der Leser informiert; ein Dialog findet
nicht statt. Die wiederholte Verwendung des Konjunktivs in den ersten drei Strophen kreiert den Wunsch des lyrischen Ichs nach Flucht aus der Gegenwart sowie die Unmöglichkeit deren Realisierung. Hyperbolisch zeugen »tausend Worte Liebe« (Z. 8) von Idealisierung des Vergangenen. Viele Adjektive und Partizipien dienen dem Facettenreichtum sowie der Emotionalisierung einer »stumm und so verliebt [...] [und auch] betrübt« (Z. 10 f.) genossenen Vergangenheit als Kontrast zur Gegenwart, in der der Sinn einst verfasster Briefe, die »liebend nur« (Z. 18) verstanden worden waren, verblasst.
Zusätzlich durch die inversive Form wird die Priorität der Liebe als Grundvoraussetzung für jegliches Wortverständnis hervorgehoben. Die alliterierende Rhetorik, mit der das lyrische Ich Bereitschaft signalisiert, »wieder [zu] weinen, wenn« (Z. 11) sich die Vergangenheit erneuern ließe, unterstreicht wortspielerisch den Wunsch nach Wiederherstellung vergangener Harmonie, der Symbiose, die rückblickend auch dann als wertvoll erkannt werden kann, wenn Kummer sie auf die Probe stellte. Die Personifikation der »dummen Tränen« (Z. 12) verstärkt das Gefühl hilflos ausgeliefert zu sein, letztlich nichts ändern zu können. Beim Lesen des letzten Verses sieht sich der Adressat mit einem
ähnlichen Bild konfrontiert: Personifizierend wälzt das lyrische Ich Verantwortung auf das als »unbarmherzig« (V. 20) empfundene, als »Wort: gewesen!« (Z. 20) Gestalt annehmende Abstraktum abgeschlossener Vergangenheit ab.
Durch die rhetorische Frage nach Gründen für die gegenwärtige Lieblosigkeit nebst der Beantwortung durch die Mutmaßung, dass »vielleicht [.] keiner« (Z. 15) außer »ein paar Jahre« (Z. 16) als endgültiger Verursacher identifiziert werden könne, zeigt das lyrische Ich zwar die Fähigkeit zur differenzierten Reflexion, jedoch mangelt es an Möglichkeiten durch Überwindung eigener Defizite die Gefühle der Vergangenheit neu zu beleben. Die Zuhilfenahme der Indefinitpronomina »keiner« (Z. 15)
und »Man« (Z. 16) unterstützt das Verdrängen eigener Verantwortung.
Als Redewendung konzipiert nimmt die Überschrift verdichtet die aus dem Fazit resultierende Enttäuschung vorweg. Das lyrische Ich möchte den Leser mit dem Schmerz konfrontieren, mit der Sehnsucht, die entsteht, wenn innerhalb einer Beziehung Gewohnheit an die Stelle von Verliebtsein, von liebevollen Bekundungen, von Blicken, von Komplimenten, von gelebten Emotionen tritt -
Literaturhistorisch ist »Das Ende vom Lied« der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Mascha Kaléko veröffentlicht es erstmals 1933 in »Das lyrische Stenogrammheft«, ihrem ersten im Rowohlt Verlag publizierten Buch. 1933 beginnen die Nationalsozialisten nach der zur »Machtergreifung« verklärten Machtübertragung im Eiltempo die Reste des verhassten Liberalismus der jüngst beseitigten Weimarer Demokratie zu vernichten:
Auf die Abschaffung sämtlicher Grundrechte im Rahmen der Reichstagsbrandverordnung folgen Deportationen politischer Gegner in die ersten Konzentrationslager, und mit dem so genannten Ermächtigungsgesetz folgt die Verfassungsgrundlage des fortan herrschenden, streng um einen
rechtsstaatlichen Anstrich bemühten Terrorregiments. Zur allerorten vollführten Gleichschaltung gehören die von der Deutschen Studentenschaft inszenierten Bücherverbrennungen in den größten deutschen Universitätsstädten; vorwiegend fliegen die Werke kritischer expressionistischer Dichter sowie der Literaten der Neuen Sachlichkeit und vor allem von Juden verfasste Schriften in die Glut.
Auf politische Zuspitzungen verweist »Das Ende vom Lied« in gar keiner Weise. Stattdessen ist das lyrische Ich um rationale Erklärungen bemüht ‒ um Sachlichkeit bei der Schilderung von Erfahrungen mit der Liebe, die so oder so ähnlich von vielen Repräsentanten der modernen Massengesellschaft erlebt werden.
2. Auch Erich Kästners »Sachliche Romanze« ist ein Werk der Neuen Sachlichkeit. Auch dieses behandelt thematisch den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung. Bereits die Überschrift bereitet den Leser auf eine scheinbar emotionsarme Haltung des lyrischen Ichs gegenüber der Wirklichkeit vor.
In Kästners Gedicht wird von einem seit acht Jahren miteinander vertrauten Liebespaar erzählt. Eines Tages beginnt diesem der Verlust jener Liebe gewahr zu werden, und beide reagieren mit Versuchen ihr gemeinsames Leben unbeeinträchtigt fortzusetzen. Zwar verspüren beide auch Trauer, doch spenden sie sich gegenseitig Zärtlichkeiten; sie küssen sich. Die Partnerin vergießt Tränen, während der Mann lediglich anwesend ist. Durch die Fensterscheiben betrachten sie Schiffe, das Spiel eines benachbarten Pianisten nehmen sie zur Kenntnis, am Nachmittag entscheidet der Mann gemeinsam außer Haus einen Kaffee zu sich zu nehmen. Im gewählten Café angekommen schweigen sie einander bis zum Abend an.
Anders als in Kalékos »Das Ende vom Lied« gibt Kästners lyrisches Ich nicht eigene Regungen preis. Es präferiert die Distanz eines Beobachters. Geschildert wird die Interaktion eines Liebespaares, dessen Verlust von Liebe mit etwas derart banal Anmutendem wie dem Verlust eines »Stock[s] oder [eines] Hut[es]« (Z. 4) verglichen wird. Der Kommentar des lyrischen Ichs birgt Nuancen von Distanz verstärkendem Sarkasmus in sich. Versuche des Paares sich zu verhalten, »als ob nichts sei« (Z. 6),
schildert das lyrische Ich, ganz gleich, ob es von der Wahrnehmung des Klavierspiels erzählt oder vom Entschluss ein Café aufzusuchen oder vom dortigen wortkargen Aufenthalt, mit emotionsloser Schlichtheit. Über die Empfindungen des Mannes sowie die der Frau wird der Leser lediglich oberflächlich informiert. Er erfährt von Traurigkeit, von Versuchen sich in Heiterkeit zu üben. Weil keiner der Beteiligten den »nicht [zu] fassen[den]« (Z. 17) Verlust der Liebe in angemessenen Worten auszudrücken vermag, dominiert Sprachlosigkeit. Eine Sprachlosigkeit, von der dem Leser wiederum vom lyrischen Ich mit größtmöglicher Schlichtheit, ebenfalls wortarm, berichtet wird. Kalékos lyrisches Ich hingegen ist als betroffene Person emotionaler involviert. Dem entsprechend gewährt es
eine umfassende Teilhabe an Emotionen, die dem Leser die Ursachen der Tragik nachvollziehbar erscheinen lassen. Dem gegenüber wirkt das Paar in »Sachliche Romanze« auf Grund völlig fehlender Reflexion noch deutlich hilfloser. Auffallend ist im Vergleich mit »Das Ende vom Lied« zudem, dass Fragen nach Schuld in Kästners Gedicht nicht die geringste Bedeutung beigemessen wird.
Kästners Lyrik setzt sich aus vier Strophen zusammen. Vier Verse gestalten je die ersten drei Strophen. Lediglich die letzte Strophe besteht aus fünf Versen. Die Versabschlüsse wechseln in den ersten drei Strophen regelmäßig zwischen weiblich und männlich. Die letzte Strophe beginnt mit einer männlichen Kadenz, es folgt eine weibliche, anschließend zwei männliche und abschließend erneut eine weibliche. Der regelmäßige Kreuzreim weicht ebenfalls ausschließlich in der letzten Strophe dem Schema abaab. So tragen die Formelemente gleichfalls zur das Gedicht dominierenden Schlichtheit bei. Da das Metrum teilweise Unregelmäßigkeiten aufweist, verlangt die Intonation etwas Übung: Zunächst wechseln innerhalb der ersten Strophe passend zum Kreuzreim alternierend Trochäen mit je vier Hebungen und Jamben mit je vier Hebungen einander ab. Die zweite Strophe setzt sich durchgängig durch Jamben mit vier Hebungen zusammen; diese gestalten sowohl die dritte als auch die vierte Strophe; den vierten Vers der dritten Strophe jedoch bildet wiederum ein Trochäus.
Die Verwendung von überwiegend bildlosen Bildern kennzeichnet die extrem verdichtete Sprache. Eine nur wenige Attribute nutzende, einen nur oberflächlichen Blick auf die seelischen Verfassungen erlaubende Sprache. Eine Sprache, die dennoch ein Maximum an Bedeutung entfalten kann. Kontrastierend werden antithetisch innerpersönliche Konflikte angedeutet: Konflikte zwischen dem Bestreben, sich »heiter« (Z. 5) zu gebärden, auch wenn die Realität »traurig« (Z. 5) zu sein scheint.
Die Überschrift deutet das Scheitern an: Liebe, insbesondere über »acht Jahre« (Z. 1) gewachsene Liebe, wird zur Romanze degradiert. Liebe lebt in erster Linie von Sinnlichkeit. Löst Sachlichkeit jene Sinnlichkeit ab, bedeutet das auf Dauer das Ende der Liebe. Auch Kästners lyrisches Ich richtet sich mit der zeitlosen Thematik potenziell an jeden Adressaten.
Gedichte zur selbständigen Analyse
21. Ingeborg Bachmann: Reklame (1956)
Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
5 aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
10 heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
15 unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille
20 eintritt
22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)
Der Mensch lebt durch den Kopf.
Sein Kopf reicht ihm nicht aus.
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt höchstens eine Laus.
5 Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlau genug.
Niemals merkt er eben
Diesen Lug und Trug.
Ja, mach nur einen Plan!
10 Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
15 Doch sein höhres Streben
Ist ein schöner Zug.
Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr
Denn alle rennen nach dem Glück
20 Das Glück rennt hinterher.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht anspruchslos genug.
Drum ist all sein Streben
Nur ein Selbstbetrug.
25 Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihn auf den Hut.
Hast du ihm auf dem Hut gehaun
Dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
30 Ist der Mensch nicht gut genug
Darum haut ihm eben
Ruhig auf den Hut!
23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)
Immerzu höre ich von ihr reden,
als wär' sie an allem schuld.
Seht nur, wie sanft und bescheiden
sie unter uns Platz nimmt!
5 Warum besudeln wir denn
ihren guten Namen
und leihen ihn
dem Präsidenten der USA,
den Bullen. dem Krieg
10 und dem Kapitalismus?
Wie vergänglich sie ist,
und was wir nach ihr nennen,
wie dauerhaft!
Sie, die Nachgiebige,
15 führen wir auf der Zunge
und meinen die Ausbeuter.
Sie, die wir ausgedrückt haben,
soll nun auch noch ausdrücken
unsere Wut?
20 Hat sie uns nicht erleichtert?
Von weicher Beschaffenheit
und eigentümlich gewaltlos
ist sie von allen Werken des Menschen
vermutlich das friedlichste.
25 Was hat sie uns nur getan?
24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)
Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.
5 Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
10 einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren -
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
15 aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
20 und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er missachtet wird;
das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
25 die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-
30 geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
35 sage ich, was gesagt werden muss.
Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
40 dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.
Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
45 den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muss,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
50 das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
55 überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
60 dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
65 Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
69 und letztlich auch uns zu helfen.
25. Ulla Hahn: Allein (1983)
Ich hab die Schnauze voll ich
bin auch müde und fürcht mich,
jetzt schon vor dem ersten warmen Tag
den kleinen Kindern und den
5 schwangeren Frauen und was das
Frühjahr noch erzeugen mag.
Ich bin allein ich hab nichts
zu verlieren als ein paar
Träume vom vergangnen Jahr
10 und Angst mit mir was Neues
zu probieren nicht zu krepiern
an dem was niemals war.
26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)
Komm beiß dich fest ich halte nichts
vom Nippen. Dreimal am Anfang küss
mich wo's gut tut. Miss
mich von Mund zu Mund. Mal angesichts
5 der Augen mir Ringe um
und lass mich springen unter
der Hand in deine. Zeig mir wie's drunter
geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm.
Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder
10 zu mir zu dir dann auch
„ganz wie ein Kehrreim schöner alter Lieder“
Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch
mir ein und allemal. Die Lider
14 halt mir offen. Die Lippen auch.
27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)
Die Fehler sind bekannt: Ich hab sie längst begangen
Schuld oder Unschuld trifft mich ganz allein
Ich bin auf meinen eigenen Leim gegangen
ich fiel auf keinen als mich selber rein
5 Was ich auch tue macht die Fehler schwerer
die Fehler machen bald mein Leben aus
Ich bin in diesem Leben eingefangen
ich komme nicht aus meiner Haut heraus
die narbenstrotzend an mir klebt und knittert
10 und mit den Jahren deutlicher verwest
Ich bin die einzige die vor mir zittert
ich weiß daß niemand mich von mir erlöst.
28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)
Hättest Du hätte ich wären wir
im Sog des Vakuums immer weiter
in die Jahre gekommen
Glaube versetzt vielleicht Berge
5 aber niemals einen Konjunktiv
Nicht einmal ein Foto
von all der Hoffnung
all der Geduld.
29. Ulla Hahn: Danklied (2003)
Ich danke dir dass du mich nicht beschützt
dass du nicht bei mir bist, wenn ich dich brauche
kein Firmament bist für den kleinen Bärn
und nicht mein Stab und Stecken der mich stützt.
5 Ich danke dir für jeden Fusstritt der
mich vorwärts bringt zu mir
auf meinem Weg. Ich muss alleine gehn.
Ich danke dir. Du machst es mir nicht schwer.
Ich dank dir für dein schönes Angesicht
10 das für mich alles ist und weiter nichts.
Und auch dass ich dir nichts zu danken hab
als dies und manches andere Gedicht.
30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)
All das Eis wir schwelgen
im Winter unter der Sonne
Laufen auf Kufen im Kreis
und gradaus mit und gegen
5 und durch Licht und Wind.
Alte Ehepaare ziehn sich
noch enger zusammen
Vater und Mutter kreisen
in hohem Bogen ums Kind.
10 Wippende Mädchen im heiratsfähigen Alter
lächeln aus der Hüfte heraus gutaus
staffierte Lilien in kühnen Kurven
kreuzen ihre Herzensmänner das Feld.
Sogar silbrige Herren und Damen geraten
15 ins Schleudern der Hut fliegt vom Kopf
der Hund rutscht hinterdrein
wittert Glühwein auf Eis.
Übermütig lächeln wir alle verschworene
Kinder die vom selben Süßen genascht
20 Werfen Lächeln wie Bälle uns zu
durch die lächelnde Luft. Lächeln
als gäbe es nichts zu bestehn
als den nächsten Schritt als geschähe
nur was wir im voraus schon sehn
25 bis an den Horizont von
Brücken Kirchen und Banken.
Lächelnd vergibt ein jeder von uns
seinem Nächsten und sich
diesen Nachmittag lang
30 all das Eis
unter der Sonne.
31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)
Wenn wir tiefer atmeten langsamer
gingen ruhiger führten unsere Augen
von einem zum anderen nur noch leise
sprächen und selten: ewig lebten wir
5 nicht aber ein bisschen ewiger doch
wie das Meer vielleicht oder sogar
wie Worte und Sätze vom Meer
oder dieser eine Nachmittag heute
an dem wir einander vergessen machen
10 was anderswo auch geschieht
dauerte sagen wir drei bis vier Wochen
die wiederum ein paar
doppelte dreifache Jahre oder
14 wenigstens: Jetzt.
32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)
Und mit der Liebe sprach er ists
wie mit dem Schnee: fällt weich
mitunter und auf alle
aber er bleibt nicht liegen.
5 Und sie darauf die Liebe ist
ein Feuer das wärmt im Herd.
Verzehrt wenn’s dich ergreift
muß’ ausgetreten werden.
So sprachen sie,
10 schmiegten sich eng aneinander
und küssten sich innig
als gäb’s nichts Schöneres für sie.
33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)
Meine Wörter hab ich
mir ausgezogen
bis sie dalagen
atmend und nackt
5 mir unter der Zunge.
Ich dreh sie um
spuck sie aus
saug sie ein
blas sie auf
10 spann sie an
von Kopf bis Fuß
spann sie auf
Mach sie groß
wie ein Raumschiff zum Mond
15 und klein wie ein Kind.
Überall suche ich die Zeile
die mir sagt
18 wo ich mich find
34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)
Das hab ich nie mehr gewollt
um das Telefon streichen am Fenster stehn
keinen Schritt aus dem Haus gehn Gespenster sehn
das hab ich nie mehr gewollt
5 Das hab ich nie mehr gewollt
Briefe die triefen schreiben zerreißen
mich linksseitig quälen bis zu den Nägeln
das hab ich nie mehr gewollt
Das hab ich nie mehr gewollt
10 Soll der Teufel dich holen.
Herbringen. Schnell.
Mehr hab ich das nie gewollt.
35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)
Diese Sehnsucht
dich beim Namen zu nennen
Diese Angst
dich beim Namen zu nennen
5 Diese Sehnsucht
Wort zu halten
Diese Angst
nur Wort zu halten
Diese Sehnsucht nach einem Leben
10 das kein Gedicht wird
Diese Angst vor einem Gedicht
das ein Leben vorwegnimmt.
36. Ulla Hahn: Wartende (1983)
Sie sitzt an einem Tisch für zwei Personen
allein mit diesem wachen starren Blick
schaut sie umher als hätt’ sie was verloren
und hält sich fest an einem Buch: Ihr Strick
5 der sie herauszieht aus den Augenpaaren
die nach ihr züngeln mitleidlos und spitz
wie Wellen über ihr zusammenschlagen
sie niederdrücken auf den Plastiksitz
der unter ihren Schenkeln klebt. Sie schwenkt
10 ihr Glas das Eis schmilzt klirrend schneller
sie selbst wird immer kleiner und versänk
gern als Erfindung in ihr Buch
das sie nun zuschlägt. Eh sie auftaucht
14 zahlt und geht. Es ist genug.
37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)
Als ich heute von dir ging
fiel der erste Schnee
und es machte sich mein Kopf
einen Reim auf Weh.
5 Denn es war die Kälte nicht
die die Tränen mir
in die Augen trieb
es war vielmehr Ungereimtes.
Ach da warst du schon zu weit
10 als ich nach dir rief
und dich fragte wer die Nacht
in deinen Reimen schlief.
38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)
Ich herze dich
ich lunge dich
ich haute haare
pore dich
5 Du baust auf mich
du dachst mich spitz
palastest mich
oasest mich
Du meersternst mich
10 du landest mich
Ich berg dich
tal dich gipfel dich
Du freudest mich
Ich freude dich
15 Du sehnsuchst mich
Ich sternschnupp dich
Du brüstest hüftest
schenkelst mich
20 Ich zunge zaum
ich kehlkopf dich
Ich hauch brauch fauch
du füllhornst mich
24 Wir atmen amseln amen.
39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)
Bleib bei mir als wärst Du
lang für mich da
laß wachsen dein weißes
in meinem Haar
5 Lieb mich als ob
das gut für dich wär'
als gäben wir
Leben um Leben her
Ertrag mich als trügest
10 du nicht zu schwer
behüt mich als ob
ich verloren wär'.
40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
5 Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
10 Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt,
Und uns wie Hunde erschießen läßt -
15 Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
20 Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
25 Wir weben, wir weben!
41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
5 Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
Mein Sehnen und Verlangen wächst.
10 Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!
Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
15 Seh ich wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf lange Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
20 Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.
25 Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wir;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.
Seit ich das Land verlassen hab,
30 So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt -
So will verbluten meine Seele.
Und zählen muß ich -
Schwillt immer höher meine Qual,
35 Mir ist als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust -
Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
40 Und lächelt fort die deutschem Sorgen.
42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)
Mein Lehrer liegt und schweigt schon manche Tage.
Oft weiß ich nicht, ob er mit Schmerzen ringe,
Ob mit Gedanken. Wenn ich etwas sage,
So hört er nicht. Doch wenn ich sitz und singe,
5 Lauscht er geschlossenen Auges wie entrückt,
Vielleicht ein Wissender des höchsten Grades,
Vielleicht ein Kind, von etwas Klang beglückt,
Doch stets der Regel treu des Mittlern Pfades.
Zuweilen regt er die erstarrte Hand,
10 Als hielte sie den Schreibestift und schriebe.
Dann wieder ist der Türe zugewandt
Sein Blick mit einer unsagbaren Liebe,
Als hör er Boten nahn auf Engelsflügeln
Und sähe Himmelspforten offen stehn
15 Oder auf seiner fernen Heimat Hügeln
Wie einst im Morgenhauch die Palmen wehn.
Oft ist mir bang, als sei ich krank statt seiner,
Als war ich selber grau, erloschen, alt
Und jener dünnen Blätterschatten einer,
20 Wie sie der Morgen an die Mauer malt.
Doch er, der Meister, scheint von Wirklichkeit,
Von Sein, von Wesen ganz getränkt und trächtig.
Indes ich schwinde, wird er weltenweit
24 Und füllt die Himmel strahlend und allmächtig
43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)
Wind im Gesträuch und Vogelpfiff
Und hoch im höchsten süßen Blau
Ein stilles, stolzes Wolkenschiff. . .
Ich träume von einer blonden Frau,
5 Ich träume von meiner Jugendzeit,
Der hohe Himmel blau und weit
Ist meiner Sehnsucht Wiege,
Darin ich stillgesinnt
Und selig warm
10 Mit leisem Summen liege,
So wie in seiner Mutter Arm
Ein Kind.
44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.
5 Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
10 Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
15 Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
45. Hermann Hesse: Stufen (1941)
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
5 Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
10 Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
15 Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
20 Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!
46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)
Dass das Schöne und Berückende
nur ein Hauch und Schauer sei,
dass das Köstliche, Entzückende,
Holde ohne Dauer sei:
5 Wolke, Blume, Seifenblase,
Feuerwerk und Kinderlachen,
Frauenblick im Spiegelglase
und viel andre wunderbare Sachen,
dass sie, kaum entdeckt, vergehen,
10 nur von Augenblickes Dauer,
nur ein Duft und Windeswehen,
ach, wir wissen es mit Trauer.
Und das Dauerhafte, Starre
ist uns nicht so innig teuer:
15 Edelstein mit kühlem Feuer,
glänzendschwere Goldesbarre;
selbst die Sterne, nicht zu zählen,
bleiben fern und fremd, sie gleichen
uns Vergänglichen nicht, erreichen
20 nicht das Innerste der Seelen.
Nein, es scheint das innigst Schöne,
Liebenswerte dem Verderben
zugeneigt, stets nah am Sterben,
und das Köstlichste: die Töne
25 der Musik, die im Entstehen
schon enteilen, schon vergehen,
sind nur Wehen, Strömen, Jagen
und umweht von leiser Trauer,
denn auch nicht auf Herzschlags Dauer
30 lassen sie sich halten, bannen;
Ton um Ton, kaum angeschlagen,
schwindet schon und rinnt von dannen.
So ist unser Herz dem Flüchtigen,
ist dem Fließenden, dem Leben
35 treu und brüderlich ergeben,
nicht dem Festen, Dauertüchtigen.
Bald ermüdet uns das Bleibende,
Fels und Sternwelt und Juwelen,
uns in ewigem Wandel treibende
40 Wind-
Zeitvermählte, Dauerlose,
denen Tau am Blatt der Rose,
denen eines Vogels Werben,
eines Wolkenspieles Sterben,
45 Schneegeflimmer, Regenbogen,
Falter, schon hinweg geflogen,
denen eines Lachens Läuten,
das uns im Vorübergehen
kaum gestreift, ein Fest bedeuten
50 oder wehtun kann. Wir lieben,
was uns gleich ist, und verstehen,
was der Wind in den Sand geschrieben.
47. Ernst Jandl; Beschreibung eines Gedichts (1977)
bei geschlossenen lippen
ohne bewegung in mund und kehle
jedes einatmen und ausatmen
mit dem satz begleiten
5 langsam und ohne stimme gedacht
ich liebe dich
so daß jedes einziehen der luft durch die nase
sich deckt mit diesem satz
jedes ausstoßen der luft durch die nase
10 das ruhige sich heben
und senken der brust
48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)
Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Kramst du manchmal noch in meinen Briefen?
Ist das kleine Landhaus mit dem schiefen
Bretterdach auch jetzt noch malerisch?
5 Geht die Haustürklingel noch so schrill
Und verklingt erschrocken immer leiser ...
Bellt dein Dackel Julius noch so heiser?
Ists am Abend so wie damals still ?
Hast du immer noch kein Telephon?
10 Gibts auf dem Balkon noch Hängematten?
Spielt ihr manchmal noch die Schubertplatten
Auf dem altersschwachen Grammophon?
Gibts zum Tee noch immer Zuckerschnecken?
Sagt Johanna immer noch «der» Gas ... ?
15 Darf man in das teure Gartengras
Immer noch nicht seine Beine strecken?
Weht der Seewind morgens noch so frisch?
Grinst der Mond des Nachts noch so verlegen?
Gehst du manchmal mir zur Bahn entgegen?
20 ... Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Steht mein Bild ...? -
Glaub nur nicht, ich hätte deins vermißt.
Aber manchmal möcht man manches wissen,
24 Wenn man so mit sich alleine ist ...
49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)
Du gingest fort. -
Klingt noch leis dein letztes Wort.
Schöner Stunden matter Schimmer
Blieb zurück. Doch du bist fort.
5 Lang noch seh ich steile Stufen
Zögernd dich hinuntergehn,
Lang noch spür ich ungerufen
Dich nach meinem Fenster sehn,
Oft noch hör ich ungesprochen
10 Stumm versinken manches Wort,
Oft noch das gewohnte Pochen
An der Tür. -
50. Anja Kampmann: steilküste (2012)
schon bald ist sonntag
in den klippen verfangen sich
die wölfe so klingt das meer das uns trifft
das rollen der steine von vorn ein paar stiefel
5 im fels wie sich die wogen waschen an der luft
im laufe bläht der wind das cape den raum
für dein kleines gedächtnis gelb
als sie rannten kinder die ihre zungen
in den regen strecken meer salz das heulen
10 des winds zu erlernen von vorn
mit der gischt kommt die liebe rau
in all ihren alten sprachen.
51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)
Von heut an stell ich meine alten Schuhe
nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten
häng den Kopf beim Denken
nicht mehr an den Haken
5 freß keine Kreide. Hier die Fußstapfen
im Schnee von gestern, vergeßt sie
ich hust nicht mehr mit Schalldämpfer
hab keinen Bock
meine Tinte mit Magermich zu verwässern
10 ich hock nicht mehr im Nest, versteck
die Flatterflügel, damit ihr glauben könnt
ihr habt sie mir gestutzt. Den leeren Käfig
stellt mal ins historische Museum
14 Abteilung Mensch weiblich.
52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)
Dein Blick weg vom Körper zum Horizont
entfernt dich von mir und den Dingen
den Blutkörperchen Handhaltungen
schließlich dem Glanztrio Auge Zahn Lippe
5 führt hinter das Tageslicht in andere Räume
weit weg zu den Grabgräbern Grabrednern
den Putschisten und Kämpfern in Grosny
zu dem Regenbogen rot gelb rot
weil jede Wolke nur Eiter und Blut spuckt
10 schon meine Mutter sagte mir
schlaf nie mit einem Fotografen
sie haben schon zu viel gesehen
Du bist bei Hügeln aus Tulpen oder wo
Dies ist die Stadt Fußgängerzone
15 hier sind wir hier spaziert dein
inneres Feuer umher mit dem Wissen
daß zwei Personen die sich lieben
sich addieren oder subtrahieren können
Plus machen können oder wie in
20 diesem Fall ganz unverschuldet Minus
53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)
vorne das haus und dahinter
die von der wippe
wandernden täler. zurück
ein stück film, die farbe
5 der augen und die beschreibung
jener farbe
in noch anderen farben. ich lieb dich
ja auch, kann es nur nicht
so zeigen, wie du, mit dem
10 korallenvornamen, korall li, korall
la, als ich ging, von rom
nach venedig und weiter
bis china, die gleise
zu siezen und mit der brücke, es mag
15 auch nur ein brett
gewesen sein, per du.