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GREGOR SCHRÖDER

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Literatur & Interpretation

Alltags- & Liebeslyrik 1

Lyrik · Analyse  und Interpretationen

Hier folgen nun nach Hinweisen zur Analyse von lyrischen Texten mit Fachbegriffen zunächst 11 Gedichte, meist aus dem Bereich Alltags- und Liebeslyrik, nebst ausführlichen Interpretationen. Bei den Gedichten Nr. 1-9 entsprechen die Aufgabenstellungen nicht denen des Zentralabiturs. Diese lassen sich jedoch mit Hilfe dieser Interpretationen problemlos beantworten. Die Analyse des 10. Und 11. Gedichts (politische Lyrik von Erich Fried) erfolgt weitgehend stichwortartig, entspricht aber den Abiturvorgaben.

Danach folgen Schülerklausuren bzw. -referate (Klasse 13) über den Vergleich zweier Gedichte sowie 2 Kurzinterpretationen von 2 Gedichten von Erich Fried (ohne Überarbeitung durch mich).

Am Schluss stehen Gedichte (Nr. 21-53), die zu Übungszwecken selbständig interpretiert werden können.

Selbstverständlich enthalten auch meine eigenen Texte neben subjektiven Wertungen hoffentlich nur ganz unwesentliche Fehler und könnten an manchen Stellen sicher noch ergänzt werden. Ich habe mich bemüht, meine Aussagen stets an Textstellen zu belegen sowie einigermaßen klar und verständlich zu formulieren, unter Verwendung der notwenigen Fachbegriffe. Für Anregungen jeder Art bin ich natürlich dankbar.

Ich hoffe, dass Lehrer- und Schüler/-innen vornehmlich der Oberstufe von diesem Angebot profitieren können. Es ist jedoch weder redlich noch sinnvoll, die folgenden, notwendigerweise subjektiven Interpretationen einfach zu übernehmen. Diese sollen eher dazu dienen, zu differenzierter selbständiger Lyrikanalyse anzuregen.

Wichtig: Schreibweise, Rechtschreibung und Interpunktion sind bei den Gedichten unverändert beibehalten worden.

Meine Interpretationen zu folgenden Gedichten

1. Ingeborg Bachmann Reklame (1956)

2. Bertold Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau (1925)

3. Ulla Hahn: Angeschaut (1981)

4. Ulla Hahn: Bildlich gesprochen (1981)

5. Ulla Hahn: Ich bin die Frau  (1983)

6. Ulla Hahn: Keine Tochter (1983)

7. Ulla Hahn: Mit Haut und Haar (1981)

8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

9. Ernst S. Steffen: Elsa (1970)

10. Jürgen Theobaldy: Schnee im Büro (1976)  

11. Erich Fried: Die mit der Sprache (1972)

12. Erich Fried: Gründe (1966)


Interpretationen und Gedichtvergleiche von Schüler/-innen zu folgenden Gedichten

13. Heinrich Heine: Zur Beruhigung (1844)

14. Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1962)

15. Erich Fried: Spruch (31.12. 1945)

16. Erich Fried: Was es ist (1979)

3 Gedichtvergleiche (Alltags & Liebeslyrik 2)

17. Johann Wolfgang von Goethe: Dauer im Wechsel (1815)

18. Gottfried Benn: Aber du - ? (1954)

19. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)

20. Rainer Maria Rilke: Herbsttag  (1902)

8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

21. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)

Ausgewählte Gedichte zur eigenständigen Interpretation

(Alltags & Liebeslyrik 2)

22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)

23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)

24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)

25. Ulla Hahn: Allein (1983)

26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)

27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)

28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)

29. Ulla Hahn: Danklied (2003)

30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)

31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)

32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)

33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)

34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)

35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)

36. Ulla Hahn: Wartende (1983)

37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)

38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)

39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)

40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)

41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)

42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)

43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)

44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)

45. Hermann Hesse: Stufen (1941)

46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)

47. Ernst Jandl: Beschreibung eines Gedichts (1977)

48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)

49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)

50. Anja Kampmann: steilküste (2012)

51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)

52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)

53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)



Hinweise zur Analyse von lyrischen Texten mit Fachbegriffen

1. Überblicksinformation (Einleitung)

1.1. Textsorte, Autor, Titel, Erscheinungsjahr in Klammern, Zeit, Epoche u.a. Infos, Thema (These)

1.2. Kurzinhalt einschließlich Ende des Gedichts (ca. 3 Sätze)

2. Formale Analyse (alles mit möglichen Wirkungen)

2.1. Aufbau: Anzahl und Länge sowie Zeilen (besser als: Verse) der einzelnen Strophen

Sonderform Sonett: 2 Quartette (2 vierzeilige Strophen) und 2 Terzette (2 dreizeilige Strophen)

(meist: abba – abba – cdc – dcd  oder  abba – cddc – eef – ggf)            

2.2. Metrum, Versmaß, Versfüße  (Senkungen, Hebungen, Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst etc.), soweit vorhanden

2.3. Reimarten

2.3.1. Endreim (Jeweils die letzte betonte Silbe zweier Zeilen reimen sich.)

2.3.2. Anfangsreim  (Jeweils das 1. Wort zweier Zeilen reimt sich.)

2.3.3. Binnenreim (Jeweils 2 Wörter innerhalb zweier Zeilen reimen sich.)

2.3.4. Reiner Reim (Übereinstimmung der hörbaren Reihenfolge der Reimsilben: gehen - flehen)

2.3.5. Unreiner Reim (ungefähre Übereinstimmung der hörbaren Reihenfolge der Reimsilben: hören – wehren)

2.3.6. Assonanz (Nur Vokale stimmen überein: wagen – laben)

2.3.7. Schlagreim (Jeweils 2 aufeinanderfolgende Wörter innerhalb einer Zeile reimen sich.)

2.3.8. Vexierreim (frivoler Reim: Adam kommt mit großen Schritten und fasst Eva an die Schulter)

2.3.9. Schüttelreim (Doppelreim mit 2 Anfangslauten oder -lautgruppen, die den Platz tauschen:

Wer andern in die Möse beißt, ist böse meist.)

2.4.    Reimschema

2.4.1. Paarreim (aabb - ccdd etc.)

2.4.2. Kreuzreim (abab - cdcd etc.)

2.4.3. Umarmender Reim (abba - cddc etc.)  

2.4.4. Gliederung in mehrere Teile (Welche Strophen gehören zusammen?) mit kurzen Erläuterungen

2.5. Art und Häufigkeit der Interpunktion (Satzzeichen)  

2.6. Satzbau (hypotaktisch: HS, NS, EI etc., parataktisch: HS, HS etc.)

2.7. Zeilensprung (Enjambement) bzw. Strophensprung (Satz geht in nächste Zeile bzw. Strophe über.)

2.8. Inversion (ungewöhnliche Satzstellung)

2.9. Rhetorische Figuren:

Metaphern (gewöhnliche/Alltagsmetaphern oder ungewöhnliche Metaphern), Vergleich, Alliterationen, Anapher, Ellipse, Emphase, rhetorische oder echte Fragen, Hyperbel, Gegensatz, Euphemismus, Neologismus, Personifikation, Symbol, Steigerung, Klimax, Ironie, Vergleich, pars pro toto, Paradoxon, Oxymoron etc.

2.10.  Direkte oder indirekte Rede

Bitte immer mit möglichen bzw. beabsichtigten Wirkungen !!!


3. Interpretation (genau, konkret, jede Strophe, Zeile, geeignete Zitate, über 50% der Klausur)

3.1. Wer ist das lyrische Ich? Was wissen wir / vermuten wir über es?

3.2. Bei fehlendem lyrischem Ich spricht man vom Gedichtsprecher, der das Geschehen von außen als scheinbar neutraler Beobachter berichtet und eventuell auch kommentiert. (Lyrisches Ich und Autor sind nicht identisch!)

3.3. Bei der Interpretation z.B. von (ungewöhnlichen) Metaphern ruhig auch mehrere begründete Vermutungen anstellen.

3.4. Bei manchen Formulierungen möchte Dichter/-in bei/m Leser/-in bestimmte Assoziationen (bewusste oder unbewusste Gedankenverbindungen) hervorrufen, die bei der Interpretation auf jeden Fall angesprochen werden sollen (vielleicht, möglicherweise etc.).

3.5. Am Schluss: Bezug des Titels zum Inhalt des Gedichts

3.6. Zitierweise: z.B. „Puppenaugen“ (Z.5)


4. Fazit (Schluss)

4.1. Kurze Zusammenfassung der Hauptergebnisse bzw. der möglichen Aussageabsicht des Gedichts mit Bezug zum Titel und weiterführenden Aspekten

4.2. Wenn vorhanden: Bezug der Biografie von Dichter/-in zum Inhalt bzw. zur Aussageabsicht

4.3. Gegenwartsbedeutung (Relevanz des Themas)

4.4. Persönliche Stellungnahme (positiv/negativ und bezüglich der Wirkung auf mögliche

Zielgruppe)



1. Ingeborg Bachmann: Reklame (1956)

     Wohin aber gehen wir

     ohne sorge sei ohne sorge

     wenn es dunkel und wenn es kalt wird

     sei ohne sorge

 5  aber

     mit musik

     was sollen wir tun

     heiter und mit musik

     und denken

10 heiter

     angesichts eines Endes

     mit musik

     und wohin tragen wir

     am besten

15 unsre Fragen und den Schauer aller Jahre

     in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge

     was aber geschieht

     am besten

     wenn Totenstille

          

20 eintritt


1. Überblicksinformation:

Das Gedicht „Reklame“ (1956) von Ingeborg Bachmann ist der Nachkriegslyrik der 50er Jahre zuzuordnen und spiegelt die Verlockungen sowie die Scheinwelt der Werbung wider, die die drängenden, sorgenvollen Fragen des lyrischen Wir mit ständig sich wiederholenden Sinn entleerten, heiteren Reklamesprüchen beantwortet. Bei der Frage nach Bewältigung der jüngsten Vergangenheit rät die Werbung ebenso zu Sorglosigkeit und Verdrängung. Auf die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Tod weiß sie jedoch keine Antwort mehr.

2.1. Formale Analyse

Das Gedicht weist weder ein klar erkennbares Versmaß noch Reime auf und besteht aus nur einer Strophe mit 20 Zeilen, wobei die letzte Zeile durch eine Leerzeile getrennt ist. Jede zweite Zeile ist kursiv gedruckt, was darauf hindeutet, dass eine weitere Person spricht.

Daher wirkt das Gedicht zunächst wie ein Dialog. Die ‚Gesprächspartner’ scheinen jedoch aneinander vorbei zu ‚reden’, da die Antworten völlig unvereinbar mit den Fragen sind. Das ‚Missverständnis’ entpuppt sich nämlich als bewusste Ablehnung dieser Antworten. Das lyrische Wir scheint sie zu ignorieren, da sie ihm offensichtlich nicht helfen. Es fehlt jede Interpunktion, selbst der Punkt am Schluss, was auf das Unabgeschlossene des dort Thematisierten hinweist.

Es gibt Parallelismen (Z.2,4,16), Wortwiederholungen (5-mal „ohne sorge“, 3-mal „mit musik“, 2-mal „heiter“, Z.2ff.) und 4 echte Fragen des lyrischen Wir, bei denen es eine Unterscheidung zwischen Groß und Kleinschreibung gibt. Beim kursiv Gedruckten (meist in Ellipsenform) sind auch alle Nomen kleingeschrieben, das heißt, es ist alles gleich wichtig bzw. unwichtig und bedeutungslos.

Der Satzbau ist weitgehend parataktisch, da neben den 4 Fragesätzen nur 2 Nebensätze (Z.3, 19f.) sowie die kursiv gedruckten elliptischen Aufforderungssätze vorhanden sind.

Neben der zentralen Metapher bzw. dem Neologismus („Traumwäscherei“, Z.16) z.B. ) gibt es noch weitere Metaphern („ … tragen wir unsere Fragen und den Schauder aller Jahre“, Z.15), wobei auch „dunkel“ und „kalt“ metaphorische Bedeutung haben.

Die Epiphern (Z.2 und 4) und eine Anapher (Z.3, 19) unterstreichen die ständigen Wiederholungen der Reklame bzw. die immer weiter gehenden Fragen des lyrischen Wir. Alliterationen (Z.2, 6, 12, 16) und der auffällige Singsang der Werbesprache (Z.2,4,8) mit den weichen Konsonanten sollen deren einlullende und wohlklingende Wirkung verstärken. Typisch für die Werbesprache sind auch der Superlativ („am besten“, Z.14) und ständig wiederholte Werbeslogans („sei ohne sorge“, Z.2ff.).

Auffällig ist bei den Fragen des Lyrischen Wir, dass es durch Aktivität zeigende Verben wie „gehen“ (Z.1), „tun“ (Z.7), „denken“ (Z.9), „tragen“ (Z.13) und „eintreten“ (Z.20) deutlich macht, dass es Antworten benötigt, nach denen es handeln kann. Bei den kursiv gedruckten Texten des Reklamesprechers kommt jedoch nur das statische Hilfsverb „sein“ vor, da die Reklame nur solche zu passivem Konsum animierende Antworten liefert.

2.2. Interpretation

Zu Beginn des Gedichtes stellt das lyrische Wir – ein kollektives Subjekt, dem sich auch der Leser zugehörig fühlen soll – die 1. W-Frage: „Wohin aber gehen wir“ … „wenn es dunkel und wenn es kalt wird“ (Z.1 und 3).

Das „aber“ deutet an, dass die sorgenvollen Fragen und die „Reklame“ Aufforderungen wohl Bruchstücke eines längeren ‚Dialogs‘ zwischen zwei Sprechern sind, wobei der Reklamesprecher z.B. die heile Welt des Wirtschaftswunders und des Konsumrausches gepriesen haben könnte.

Der Einwand des lyrischen Wir nach dem „Wohin“ wird mitten im Satz mit der beschwichtigenden, ja beschwörenden 2-fachen Aufforderung, ohne Sorge zu sein, unterbrochen, um die dunklen und kalten Aspekte des künftigen Lebens, also dessen Schattenseiten, gar nicht erst zur Sprache zu bringen, da dies den ungebremsten Fortschritt und Wirtschaftsaufschwung stören oder gar in Frage stellen könnte. Diese Konkretisierungen der Ängste des lyrischen Wir in Z. 4 wird sofort mit der nochmaligen „sei ohne sorge“ überspielt.

Auch die 2. W-Frage wird mit „aber“ (Z.5) eingeleitet, was sofort durch „mit musik“ (Z.6) unterbrochen wird, gemäß dem bekannten Schlager „Mit Musik geht alles besser“. Das lyrischer wir fährt unbeirrt fort und fragt, „was“ wir tun sollen (Z.7). Wieder wird eine aktive und grundsätzliche Veränderung des momentanen Zustands angesprochen, die wiederum vom Reklamesprecher mit der oberflächlichen und stereotypen Aufforderung „heiter und mit musik“ (Z.8) ‚beantwortet‘ wird.

Die Fortführung der 2. Frage durch eine Thematisierung der Veränderung unseres Denkens (im Sinne von Veränderung unseres unkritischen Konsumverhaltens) wird wiederum durch den Reklamesprecher mit „heiter“ (Z.10) geradezu unterlaufen. Nicht das „Was“ (also der Inhalt) ist wichtig, sondern nur das „Wie“, also die heiter-fröhliche Verdrängung jeden kritischen Denkens.

Der Schluss der 2. Frage thematisiert, dass alles ein Ende hat (Z.11), auch das Wirtschaftswunder der 50er Jahre, und dass man alles Handeln auch vom Ende her beurteilen sollte. Der Reklamesprecher ignoriert dies erneut völlig und wiederholt stereotyp und unbeirrbar „mit musik“ (Z.12). Das heißt, dass er sich diese Fragen nicht stellt, sondern alles mit Musik ‚bewältigt‘, ja geradezu zu dröhnt bzw. erfolgreich verdrängt und Zweifel oder Angstgefühle nicht zulässt.

Die 3. W-Frage wird wie die 1. Frage mit „wohin“ eingeleitet. Jedoch wird jetzt noch drängender und sorgenvoller nach der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit und deren Verarbeitung bzw. Bewältigung („Schauder aller Jahre“, Z.15) gefragt, die das lyrische Wir nicht mehr loslässt.

Mit „aller Jahre“ wird angedeutet, dass es sich hierbei das schlimmste Verbrechen „aller Zeiten“ handelt, nämlich den Holokaust und den 2. Weltkrieg mit ca. 56 Millionen Toten.

Gerade diese Frage wurde in den 50er Jahren ‚erfolgreich‘ verdrängt und erst in den 60er Jahren mit dem Ausschwitzprozess und der 68er Revolution wieder thematisiert.

Die auf den ersten Blick befremdlich anmutende Antwort des Reklamesprechers lautet: „am besten“ … „in die traumwäscherei“ mit dem beschwörend beschwichtigenden, stereotyp wiederholten Zusatz „ohne sorge sei ohne sorge“ (Z.15f.).

Der Neologismus „Traumwäscherei“ ist zusammengesetzt aus „Traum“ und „Wäscherei“ und meint das Waschen von (Alb-)Träumen, das heißt z.B. auch der traumatischen Erlebnisse von NS-Zeit und 2. Weltkrieg, die die Deutschen in der Nachkriegszeit verdrängten und sich stattdessen wie besessen mit dem Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder befassten und sich dabei in einen wahren Konsumrausch stürzten, um nicht an die schlimme NS-Vergangenheit denken zu müssen. Aus der Sicht des Reklamesprechers ist der Begriff „Traumwäscherei“ ernst gemeint. Sie bezeichnet so etwas wie ein gesamtgesellschaftlich organisiertes Glückgefühl, das eine „schöne neue Welt“ (Huxley) propagiert.

Diese Albträume werden so lange gewaschen und weich gespült, bis sie schöne Träume sind und keine Ängste mehr auslösen. Zugleich weckt diese Wortneuschöpfung die Assoziationen „Traum-fabrik“, „Gehirnwäsche“ oder auch „Geldwäsche“. Traumfabrik erinnert an die heile Scheinwelt Hollywoods, wobei Gehirnwäsche ein Bild sein könnte für die ständigen ‚Berieselungen‘ durch die Werbung, die letztlich wie eine Gehirnwäsche wirken, jedes kritische Denken ausschalten und alle Hemmungen gegenüber dem ungebremsten Konsumverhalten beseitigen. Geldwäsche schließlich erinnert daran, dass dieses Geld, ohne das Reklame und Konsum undenkbar ist, aus oft dubiosen Quellen stammt und erst weiß gewaschen werden muss.

Die Lebenseinstellung des Reklamesprechers wird hierbei in 3 Motiven deutlich: das „Ohne-Sorge“-Motiv, das „Heiter-und-mit-Musik“-Motiv und das „Am-besten-in-die-Traumwäscherei“-Motiv (Z. 2-18). Die Motive werden jeweils so vorgetragen, als ob sie aus einem Lautsprecher „am laufenden Band“ ertönen würden, nur unterbrochen durch die sich immer drängender stellenden Fragen. Weshalb man den Hörer/-innen dauernd das Sich-Sorgen ausreden muss, wird nicht erwähnt.

Die 4. und letzte W-Frage stellt offensichtlich nicht das lyrische Wir, da diese ganz existenzielle Frage nach dem „was aber geschieht“ … „wenn Totenstille“ … „eintritt“ (Z.17, 19, 20) nur von jeder/m Einzelnen individuell gestellt werden kann.

Der Reklamesprecher versucht noch den Superlativ „am besten“(Z.18) anzubringen, wobei unklar bleibt, was am besten zu tun ist. Bei der „Totenstille“ fallen ihm dann noch nicht einmal mehr nichts sagende Floskeln bzw. Werbesprüche ein. Die Reklame hat keine Antworten auf Fragen, die den Tod betreffen. Deshalb entsteht eine Lücke, die nicht mehr gefüllt werden kann.  

Das wirkungsvolle „eintritt“ in der Schlusszeile signalisiert, dass danach nichts mehr kommen kann – weder befriedigende Antworten noch irritierende Banalitäten der Werbung –, wobei der fehlende Punkt die Allgegenwärtigkeit des finalen Ereignisses signalisiert, das jeden unter-schiedslos trifft.  

3. Stellungnahme zu Hauptintentionen der Autorin

Ingeborg Bachmann beschreibt eindringlich, wie penetrant, aufdringlich und mit immer den gleichen oberflächlichen Werbesprüchen wir täglich berieselt werden, so dass uns kaum Zeit bleibt, unsere Fragen nach unserem Dasein, der Zukunft und auch der Vergangenheit in Ruhe zu stellen. Sie entlarvt die Hohlheit und Stereotypie der Werbesprüche, die die KonsumentInnen überhaupt nicht ernst nehmen, ihnen lediglich eine Scheinwelt vorgaukeln und sie nur zu sinnlosem Konsum verleiten wollen. Die Werbung blendet konsequent alle wirklichen Probleme aus, so dass niemand sich sorgen muss. Musik wird gezielt als Droge und Berieselung bzw. Betäubung der Sinne eingesetzt. Der Zwang zur Heiterkeit, verdrängt jede Ernsthaftigkeit.

Natürlich ist das vorliegende Gedicht vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders der 50er Jahre zu sehen, als Werbung noch völlig unkritisch aufgenommen wurde und der ungebremste Konsumrausch die breite Masse erfasste. Damals wurden nur ganz vereinzelt Fragen nach der jüngsten Vergangenheit gestellt, da es viel bequemer war, diese zu verdrängen.

Der Titel „Reklame“ bedeutet einerseits „Werbung“, weckt aber auch die Assoziation des ‚Reklamierens‘, des hilflosen Klagens, da eine Anlaufstelle oder Instanz (früher: Gott), die auch Sinn und Werte vermittelt, sicher auch infolge der Katastrophe des 2. Weltkrieges im Gedicht nicht mehr angesprochen wird.

Zwar appelliert Ingeborg Bachmann an die Leser/-innen, diese drängenden Fragen nach aktiver Veränderung und Einmischung selbst zu stellen und auch danach zu handeln. Die fehlenden Antworten und der Hinweis auf die eintretende Totenstille lassen jedoch befürchten, dass die notwendigen Veränderungen eher zögerlich in Angriff genommen werden.

Sicherlich hat sich heute in dieser Hinsicht – besonders bezüglich der Einstellung der Verbraucher/-innen – vieles verändert, der Einfluss der Werbung und der Manipulation durch die Medien ist aber ungebrochen und erreicht über das Internet immer größere Bereiche des Privatlebens.

Die Fragen nach einer selbstbestimmten, konsumkritischen und umweltbewussten Lebensweise muss jedoch jede/r immer wieder neu für sich beantworten.  



2. Bertold Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau (1925)

       Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau

       Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn.

       Da sah ich: eine Strähne in ihrem Haar war grau

       Ich konnte mich nicht entschließen mehr zu gehen.


   5  Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte

       Warum ich Nachtgast nach Verlauf der Nacht

       Nicht gehen wollte, denn so war’s gedacht

       Sah ich sie unumwunden an und sagte:


       Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben

 10  Doch nutze deine Zeit; das ist das Schlimme

       Dass du so zwischen Tür und Angel stehst.


       Und lass uns die Gespräche rascher treiben

       Denn wir vergaßen ganz, dass du vergehst.

 14  Und es verschlug Begierde mir die Stimme.


1. Überblicksinformation

Das Gedicht „Entdeckung an einer jungen Frau“(1925) von Bertold Brecht (1898-1956) aus der Literaturepoche der Neuen Sachlichkeit handelt vom Abschied zweier Liebenden am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht. Das lyrische Ich kann sich jedoch infolge seiner unerfüllten Begierde bzw. Liebe noch nicht entschließen zu gehen.

Als die Frau ihn fragt, warum er nicht gehen wolle, fordert er sie auf, angesichts ihres  vorgerückten Alters die ihr verbliebene Zeit dazu zu nutzen, mehr Leidenschaft zu zeigen, und will noch eine weitere Nacht bleiben.


2. Formale Analyse

Brecht wählt die traditionelle Gedichtform des Sonetts mit der streng gegliederten Anordnung von 2 Quartetten und 2 Terzetten. Dieses Formschema erlaubt eine klare Strukturierung der lyrischen Handlung, der Reden und Gedankengänge der Gedicht-Figuren.

In der 1. Strophe wird der Kreuzreim (abab) verwendet, erst das 2. Quartett endet in Form des umarmenden Reims (abba). Die Terzette weisen ein strophenübergreifendes Reimschema (abc, acb) auf, was deren Abruptheit und Direktheit unterstreicht.

Der Satzbau ist unregelmäßig, d.h. in der 1.Strophe parataktisch (Ellipsen + HS) und ab der 2.Strophe hypotaktisch (HS + NS). Auch eine Inversion (Z.4) u. 2 überraschende Enjambements (Z.1f.,6f.) verdeutlichen den unharmonischen Eindruck des Gedichts, der durch Alliterationen (Z.6f.,9,13) u. eine Anapher (Z.2) nur etwas abgemildert wird.   

Wörtliche sowie indirekte Rede (in der 3. u. 4. sowie 2. Strophe) unterstreichen die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der geschilderten Situation, die durch häufige sprachliche Bilder („nüchterner Abschied“, Z.1; „Kühl zwischen Tür und Angel“, Z.2+11; „eine Strähne in ihrem Haar war grau“, Z.3; „Gespräche rascher treiben“, Z.12; „du vergehst“, Z.13; „verschlug Begierde mir die Stimme“, Z.14) anschaulicher wirkt. Die zentrale Metapher „Nachtgast“ (Z.6) ist zugleich ein Neologismus. Satzzeichen (Punkte, Kommas, Doppelpunkte) strukturieren die einzelnen Verse, wobei die z.T. fehlenden Satzzeichen am Zeilenende den inhaltlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Zeilen hervorheben. Der Punkt nach Zeile 13 signalisiert, dass das Gedicht unvorbereitet und plötzlich endet.


3. Interpretation

Der Beginn der 1.Strophe zeigt eine Abschiedsszene zweier Liebender an der Tür am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht. Der Abschied wird als ,,nüchtern“ u. ,,kühl (Z.1f.) dargestellt, wobei diese Kühle von der Frau ausgeht, den das lyrische Ich, also ein Mann, mit kühlem Blick (Z.2) erwidert. Bei der Frau handelt es sich möglicherweise um eine Prostituierte („eine Frau“, Z.1), deren ,,Nachtgast“ (Z.6) das lyrische Ich ist.   

Die disharmonische, qualvolle Situation des Eingangsbildes spiegelt sich zusätzlich im rhythmischen ,Missklang’ der ersten 2 Zeilen. Leicht u. getragen, mit 2-silbiger Senkung klingt zunächst „Des Morgens nüchterner Abschied“. Die Begegnung scheint sich problemlos zu erledigen. Dann stockt der Verlauf, und mit 3 Pausierungen („eine Frau kühl zwischen Tür u. Angel kühl besehe“, Z.1f.) erreichen die Zeilen nur mühsam ihr Ziel.     

Der unbeholfene Rhythmus verrät innere Widerstände des lyrischen Ichs. Er kündigt das Zögern, das Umwenden des Mannes an, das in der folgenden Zeile mit einer belanglos scheinenden Wahrnehmung einsetzt.

Als er ,,eine (graue) Strähne in ihrem Haar“ (Z.3) sieht, kann er sich jedoch ,,nicht entschließen mehr zu gehen“ (Z.4). Diese Zeile sticht durch seine parataktische Form hervor, da die vorhergehenden Zeilen 1 und 2 durch Enjambement verbunden sind und die Aufzählung durch ihn abgebrochen wird. An der grauen Strähne scheint das lyrische Ich zu erkennen, dass die ,,junge Frau“ (Titel) altert. Nun wird eine emotionale Betroffenheit (Mitleid?) spürbar, die den Wunsch zum Bleiben wachruft. Unbewusst erinnert das Altern der Frau das lyrische Ich dabei auch an dessen eigene Vergänglichkeit, was es in seinem Entschluss bestärkt, die Zeit zu nutzen (Z.10) und noch nicht zu gehen.

In der 2. Strophe signalisiert der Mann seine vage Absicht zu bleiben, indem er „stumm ... ihre Brust“ (Z.5) nimmt, weshalb sie ihn fragt, warum er entgegen der Absprache als bloßer „Nachtgast nach Verlauf der Nacht“ (Z.6) nicht einfach gehe. Das lyrische Ich sieht ihr nun direkt und selbstbewusst in die Augen, um ihr zu zeigen, dass er sich seines Entschlusses nicht schämt und auch nicht auf ihre Einwilligung angewiesen ist.

Mit der direkten Ansprache zu Beginn der 3. Strophe teilt er ihr zunächst mit, dass er nur noch eine Nacht bleiben wolle. Ferner ermahnt er sie, angesichts ihres vorgerückten Alters die ihr verbliebene Zeit zu nutzen (Z.10).

Der Mahnung an die Frau lässt das lyrische Ich dann einen Vorwurf folgen („das ist das Schlimme, daß du so zwischen Tür und Angel stehst“, Z.11). Die Rede ist hier von der Türschwelle als einem Ort des Übergangs, an dem man sich nicht lange aufhält. Da das Gedicht sowohl von der Liebe als auch von der Zeit spricht, wohnt dem Bild eine 2-fache Bedeutung inne. Es enthält zum einen eine Anspielung auf die Vergänglichkeit:  

Die Frau steht auf der Grenzscheide zwischen Jugend und Alter, ja sogar zwischen Leben und Tod, wie Z. 13 („daß du vergehst“) zu entnehmen ist.  

Der 2. Sinn der Redewendung „zwischen Tür und Angel“ ergibt sich aus dem Kontext mit dem Liebesthema. Es handelt sich hier ja auch um den Ort des Hauses, an dem man innerlich ‘auf dem Sprung ist’, an dem man die Besucher flüchtig abfertigt, auf die man sich nicht ernstlich einlassen will. So hat das lyrische Ich offenbar das nächtliche Beisammensein empfunden, was in seinen Augen „das Schlimme“ (Z.10) ist. Er fordert sie damit zu mehr Leidenschaft, erotischer Begeisterung und völliger Hingabe auf und ermahnt sie, sinnliche Liebe nicht nur nebenbei zu erledigen.  

Die Beziehung des Besuchers zu dieser Frau scheint eine weitaus intimere zu sein, als man bei einem normalen ,,Nachtgast“ (und käuflicher Liebe?) annehmen könnte. Obwohl von vornherein geplant war, dass er ,,nach Verlauf der Nacht“ (Z.6) gehen sollte, haben die beiden offenbar eine engere Beziehung aufgenommen, die neben sexuellem Kontakt und ,,Begierde“ (Z.14) auch ,,Gespräche“ (Z.12) mit sich bringt.

In der 4. Strophe folgt der 2. Teil der Äußerungen des lyrischen Ichs, wobei die Wir-Form eine kommunikative Gemeinsamkeit herstellt, die aber in Z.13 und 14 wieder zurückgenommen wird (Männer meinen meistens nur sich, wenn sie verschleiernd von „wir“ sprechen.). Das lyrische Ich möchte die fehlende Leidenschaft in der weiteren, aber auch letzten Nacht, die er ihr schenkt, nachholen, wozu der Mann auffordert: „Laß uns die Gespräche rascher treiben“ (Z.12). Damit ist weniger ein verbaler Austausch gemeint als vielmehr das intensive Steigern der Umarmungen. Körperkontakt und intime Berührung werden als kommunikativer Vorgang verstanden, der Sprache vergleichbar, die Einverständnis herstellt. Deshalb verwendet das lyrische Ich hier auch das Personalpronomen „uns“, um die Intention der Gemeinsamkeit des Erlebens im Hier und Jetzt auszudrücken, das allerdings nur kurz und vergänglich ist.

Die Schlusszeile („Und es verschlug Begierde mir die Stimme“, Z.14) steht bereits außerhalb der Rede und betrifft allein die Erlebnissphäre des Mannes. Sie schließt das Gedicht nicht nur formal, sondern auch mit inhaltlicher Folgerichtigkeit endgültig ab. Dem lyrischen Ich versagt die Stimme, und jede weitere Mitteilung wäre Indiskretion.

Das Sprechen des lyrischen Ichs wirkt hier eher monologisch, ohne erkennbare Reaktion auf Seiten der Frau. Die Rede stiftet also keinen dialogischen Kontakt, sondern dringt beziehungslos auf die Angesprochene ein, lieblos im Ton wie im Inhalt.

Dennoch steht das Gedicht ganz im Zeichen einer vor allem von Sexualität geprägten Liebesbegegnung. Das gesamte Geschehen ist eingebettet zwischen „nüchternen Abschied“ (Z.1) u. „Begierde“ (Z.14), was die psychische Kälte deutlich macht, wie sie Erlebnissen ohne Zärtlichkeit und menschliche Wärme eigen ist. Das 2-fach eingesetzte Adverb „kühl“, einmal auf die Frau, dann auf den Blick des Mannes bezogen, verstärkt den Eindruck der seelischen Ferne zwischen den beiden. Zweimal findet sich die umgangssprachliche Redensart „zwischen Tür und Angel“. In Z.2 unterstreicht sie die Flüchtigkeit, mit der die ‘Liebenden’ sich ohne Anteilnahme wie Fremde an der Tür voneinander zu trennen gedenken.

Der Titel „Entdeckung an einer jungen Frau“ zeigt, wie abhängig von der momentanen emotionalen Stimmung die männliche Wahrnehmung des Äußeren einer Frau ist. Schon eine graue Strähne lässt sie für ihn plötzlich alt erscheinen, und er macht sich Sorgen um ihre Lebenserwartung.


4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These von der unerfüllten Liebe bzw. Begierde des lyrischen Ichs zu einer (käuflichen?) alternden Frau, die ihn veranlasst, noch eine Nacht zu bleiben und zugleich an sie zu appellieren, die kurze Zeit zu leidenschaftlicher, statt kühler Liebe zu nutzen.

Vielleicht möchte Brecht mit dem Bild der käuflichen Liebe, die nur eine nüchterne Dienstleistung ist, das Verhalten der Menschen in einer kapitalistisch geprägten Welt anprangern sowie das Fehlen echter, bedingungsloser Gefühle.

Es geht ihm darum, bewusst zu leben, sich jeden Tag den drohenden, jederzeit möglichen Tod, aber auch die Erkenntnis vor Augen zu halten, dass jeden Tag ein Teil des Menschen stirbt.

Die mit starker Leidenschaft durchlebte Begegnung hinterlässt Spuren im Bewusstsein, die länger in der Erinnerung haften, wenngleich auch sie letztlich vergehen. Zu diesem außerordentlichen Erlebnis ist das lyrische Ich bereit, und dazu fordert es die Partnerin auf, weil es die Begegnung der raschen Vergänglichkeit entreißen will. Mehr kann man der Flüchtigkeit der Liebe nicht entgegensetzen.

Nur durch die Steigerung des Augenblicks zu höchster Erlebnisdichte gewinnt der Moment eine Fülle, die etwas Bleibendes in den Beteiligten bewirkt. Das ist der Sinn von Z.12 und darin liegt der eigentliche Inhalt der „Entdeckung“, von welcher der Gedicht-Titel spricht.

Die Zielgruppe ist hier schwerer zu bestimmen, da sich Frauen infolge der männlichen Dominanz des lyrischen Ichs sicher weniger angesprochen fühlen. Das Ungleichgewicht in der Beziehung verhindert eine wirkliche, tiefere Liebe zwischen beiden, so dass das lyrische Ich von der Frau etwas fordert, was ausschließlich den Bedürfnissen des Mannes entspricht und der Situation völlig widerspricht.


3. Ulla Hahn: Angeschaut (1981)

       Du hast mich angeschaut jetzt

       hab ich plötzlich zwei Augen mindestens

       einen Mund die schönste Nase

       mitten im Gesicht.


   5  Du hast mich angefaßt jetzt

       wächst mir Engelsfell wo

       du mich beschwertest.


       Du hast mich geküßt jetzt

       fliegen mir die gebratenen

 10  Tauben Rebhühner und Kapaunen

       nur so ausm Maul ach

       und du tatest dich gütlich.


       Du hast mich vergessen jetzt

       steh ich da

 15  frag ich was

       fang ich allein

       mit all dem Plunder an?



1. Überblicksinformation

In dem Gedicht „Angeschaut“ (1981) von Ulla Hahn aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um ein lyrisches Ich, das durch das begehrende Anschauen eines jungen Mannes starke Liebesgefühle entwickelt und sich zunächst unglaublich aufgewertet fühlt.  

Nachdem er das lyrische Ich jedoch angefasst u. geküsst hat, hat er es ganz schnell vergessen, und das lyrische Ich kommt sich am Ende ausgenutzt und verloren vor.


2. Formale Analyse

Das reimlose Gedicht besteht aus 4 Strophen (S.) (4, 3 u. 2-mal 5 Zeilen, wodurch bei letzteren deren Wichtigkeit betont wird), die nur am Ende ein Satzzeichen haben, was inneren Zusammenhang, aber auch fehlende Harmonie u. atemlosen Rhythmus jeder S. verstärkt. Die einzelnen Verse haben eine ganz unterschiedliche Länge, wobei Z.2 und 10 die längsten u. Z.14-16 (4. S.) am kürzesten sind, was die Sprachlosigkeit des lyrischen Ichs am Schluss verdeutlicht.

Auffällig ist der symmetrische Beginn des jeweils 1.Verses jeder S. Auf die 4-malige Anapher („Du hast mich“) folgt immer ein Verb in Form einer Klimax („angeschaut“, „angefasst“, „geküsst“, „vergessen“)  und das temporale Adverb „jetzt“ (2. Anapher), das zu einem jeweils überraschenden Enjambement führt.

Innerhalb einer Strophe fehlen alle Satzzeichen, besonders die Kommas. Jede S. steht zunächst für sich und wird mit einem Satzzeichen abgeschlossen: In der 1.-3. S. ein Punkt, in der 4. u. letzten S. jedoch ein Fragezeichen. Hierdurch wird die abrupte u. stereotype Vorgehensweise des Mannes sichtbar.

Die abschließende Frage ist jedoch sowohl eine echte Frage als auch rhetorisch gemeint (s.u.).

Der Satzbau ist parataktisch (nur HS, 1 Ausruf:„ach“), nur in der 2. S. hypotaktisch (HS, NS). Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1.S.: anschauen, was beim lyrischen Ich einen Gefühlssturm entfesselt; 2. + 3. S.: anfassen u. küssen, was beim lyrischen Ich bereits zwiespältige u. verletzte Gefühle auslöst; 4. S.: vergessen, so dass sich das lyrische Ich einsam und verloren fühlt). Auch die Reihenfolge von Ich und Du (1.S.: Du - ich; 2. + 3. S.: du - du; 4. S.: du - ich - ich) zeigt dies.

Auffällig ist der Tempuswechsel: Ist das lyrische Ich Subjekt, steht das Verb im Präsens (Z.2,6,9,14-16). Ist aber das Du Subjekt, steht das Verb in der Vergangenheitsform (Z.1,5,8,12,13). Dies zeigt, dass die Beziehung zum Du vergangen ist, die Probleme des Ichs aber noch da sind.

Ungwöhnlicher Satzbau (fehlendes „Und“ in Z.3 und 14) u. durchgehende Enjambements außer in Z.11 und 14 (unterstreichen die lyrische Disharmonie, die durch fehlende Alliterationen und den Kontrast zw. umgangssprachlich-vulgärer („ausm Maul“, Z.11; „Plunder“, Z.17) und Märchensprache („gebratene Tauben...“, Z.9f.) noch verstärkt wird.

Ungewöhnliche Metaphern, z.T. Übertreibung, Oxymoron u. Neologismus („mindestens einen Mund die schönste Nase“, Z.2f.; „Engelsfell“, Z.6; „fliegen mir die gebratenen Tauben ... ausm Maul“, Z.9-11; „Plunder“, Z.17), zeigen Überschwang, Zwiespalt und enttäuschte Gefühle des lyrischen Ichs.

 Das Gedicht stellt eine einzige Anklage (Du-Botschaft) des lyrischen Ichs gegen den Mann in Form eines inneren Monologs dar.


3. Interpretation

Das lyrische Ich ist ein naives, junges, schüchternes, in der Liebe wohl noch sehr unerfahrenes Mädchen („Engelsfell“,Z.6), das erzählt, was ein Du mit ihm ‘angestellt’ hat und wie es ihm nun damit geht. In der 1.S. wird das Mädchen vom Du wohl lüstern „angeschaut“ (Z.1), so dass es dadurch erst Gesicht (Z.4) und Leben erhält und „2 Augen, mindestens einen Mund und die schönste Nase“(Z.3) bekommt. Diese übertriebenen Komplimente des Du über seine Schönheit bewirken, dass es sich „jetzt“ (Z.1) zum 1. Mal gesehen, aufgewertet und emporgehoben fühlt.

Jetzt plötzlich wird sich das lyrische Ich seiner Schönheit bewusst und nimmt die Welt mit seinen Augen selbstbewusst wahr und kann seine bisherige Schüchternheit ablegen. „Mindestens einen Mund“ bedeutet, dass es, um den Überschwang seiner Gefühle auszudrücken, nicht nur den Mund oder mehr als einen Mund bräuchte. Die fehlenden Satzzeichen unterstreichen dabei seine dauernden Gefühlsaufwallungen.

In der 2.S. wird das Mädchen vom Du „angefasst“ (Z.5), wodurch ihm statt Engelsflügel ein „Engelsfell“ (Z.6) wächst. Diese zentrale Metapher (auch Neologismus + Oxymoron) besteht aus Engel und Fell u. zeigt seine gegensätzlichen Gefühle. Als Engel wäre es wunderschön, makellos, heilig, unverletzbar. Fell dient dagegen zum Schutz (vor dem zudringlichen Du) und wächst einem Tier, als das es sich vom Du wohl behandelt fühlt. Es braucht ein Fell da, wo das Du es beschwert (Z.7), belastet, belästigt. Auch meint es mit dem schönen Fell wohl sein Äußeres, das das Du allein interessiert.

In der 5-zeiligen 3. u. längsten S. wird es als Höhe- und Wendepunkt der Liebesbeziehung vom Du „geküsst“ (Z.8). Es fühlt sich aber nicht im märchenhaften Schlaraffenland, da ihm „die gebratenen Tauben“ nicht in den Mund, sondern „nur so ausm Maul“(Z.10f.) fliegen, womit es das Unromantische, Vulgäre und einseitige Ausnutzen durch das Du meint. Die tierisch-animalische („Maul“) Vorgehensweise des Mannes findet es abstoßend und ekelhaft. Das Mädchen erhält bzw. empfängt nichts (anders als es erhofft hat, da es sich anfangs wie im Märchen bzw. im Schlaraffenland fühlt), sondern muss im Gegenteil ganz viel von sich geben und fühlt sich dadurch ausgenutzt. Dies entlockt dem Mädchen den wehmütigen Zeufzer „ach“, da nur er etwas davon hat („du tatest dich gütlich“, Z.12). Sie empfindet keine Lustgefühle beim Liebesakt, den sie nur passiv erleiden muss.

Werden die Vorstellungen des Ichs von der 1.-3. S. immer irrealer, sieht es „jetzt“, da das Du es bereits „vergessen“ (Z.13), nicht nur verlassen hat, die Beziehung in der 4. u. kürzesten S. (Hinweis auf das abrupte Verlassen) realistisch. Auch die Kürze der einzelnen Zeilen (Z.14-16) ist Ausdruck ihrer Hilf- und Sprachlosigkeit. Es steht da, „allein“(Z.16), verloren, nur ausgenutzt, hat das Gefühl, als ob man es ‘vergessen’ könne, und fragt sich, was es ohne das Du, in den es all seine Liebe und Träume investiert hat, „mit all dem Plunder“ anfangen solle.  

All das, was es sich vom Du erhofft und gewünscht hat, all die liebevollen Gefühle des Mädchens, sind für das lyrische Ich jetzt wertloses Zeug.

Die Frage am Ende ist nicht nur rhetorisch zu verstehen (Antwort: gar nichts!), sondern auch ein Impuls, daraus für die Zukunft die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Es hat immerhin erkannt, dass alle Komplimente u. männlichen Liebesbeteuerungen, aber auch ihre ganzen Gefühle bezüglich ihrer romantischen Beziehung wertloser Plunder sind. Sie muss jetzt selbst sehen, wie sie mit diesen enttäuschten und verletzten Gefühlen zurechtkommt.

Der Titel „Angeschaut“ spiegelt die Illusionen, aber auch Enttäuschungen des lyrischen Ichs wider, das vom Du nur auf seinen Körper reduziert wurde.


4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These bezüglich des lyrischen Ichs als naives, junges Mädchen, das die übertriebenen Blicke und Komplimente eines Du bezüglich ihres Äußeren als wahre Liebe fehlinterpretiert und sich am Ende allein, verloren, ausgenutzt und vergessen fühlt. Ulla Hahn, die hier sicher auch eigene Erlebnisse mit einbezieht und so verarbeitet, möchte aber auch dazu auffordern, nicht nur passiv auf Handlungen anderer zu reagieren und diese zu erleiden, sondern selbst aktiv zu werden und endlich selbstbestimmt zu handeln.

Gerade die als Zielgruppe hier bes. angesprochenen jüngeren Frauen sollten vorsichtig sein und nicht auf Männer hereinfallen, die ihnen Komplimente machen, die allein auf ihr Äußeres Bezug nehmen. Das Thema ist zeitlos gültig, da der Wunsch von Mädchen nach der wahren Liebe und die Projektion ihrer Liebe auf ihren Freund sie oft blind werden lässt für die z.T. oberflächlichen u. banalen männlichen Absichten.

Das Andauernde „du hast mich“ ist nicht nur eine andauernde Anklage gegen den Mann, sondern drückt auch die enttäuschten Gefühle des Mädchens aus („du ‘hasst’ mich“), da es sicher meint, dass er es sehr hassen müsse, wenn er es nicht nur verlässt, sondern sogar vergisst. In Wahrheit ist es der eigene Hass des Mädchens, der aus dieser enttäuschten Liebe resultiert. Vielleicht sollte das lyrische Ich, statt voller Selbstmitleid den Mann dauernd mit „du hast (hasst) mich“ anzuklagen, selbstbewusst sagen: Du kannst mich mal!



4. Ulla Hahn: Bildlich gesprochen (1981)

       Wär ich ein Baum ich wüchse

       dir in die hohle Hand

       und wärst du das Meer ich baute

       dir weiße Burgen aus Sand.


   5  Wärst du eine Blume ich grübe

       dich mit allen Wurzeln aus

       wär ich ein Feuer ich legte

       in sanfte Asche dein Haus.


       Wär ich eine Nixe ich saugte

10   dich auf den Grund hinab

       und wärst du ein Stern ich knallte

       dich vom Himmel ab.



1. Überblicksinformation

In dem Gedicht „Bildlich gesprochen“ (1981) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um die Vorstellungen des lyrischen Ichs von unbedingter, rein subjektiver Liebe zu einem fiktiven Du.

Während die ersten 2 Bilder zu Beginn noch eine gewisse Vertrautheit in der Beziehung widerspiegeln, gewinnen ab der 2. Strophe Metaphern des Besitzergreifens und der Zerstörung durch das lyrische Ich die Oberhand, wobei die 3. Strophe in eindeutige Vernichtungsfantasien gegenüber dem fiktiven Du mündet.


2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 3 Strophen zu je 4 Versen, wobei sich jeweils die 2. und 4. Zeile jeder Strophe reimen. Während in der 1. Strophe das Reimpaar „Hand“ u. „Sand“ noch mit positiven Assoziationen verbunden ist, deuten die 2 weiteren Reimpaare „Haus“ u. „aus“ sowie „hinab“ u. „ab“ auf die zunehmend negativere Entwicklung hin.

Die Reime erzeugen Wohlklang und Harmonie und bilden einen starken Kontrast zu den immer größeren inhaltlichen Ungereimtheiten u. Gewaltfantasien des lyrischen Ichs. Es ist in 3 Teile gegliedert, was auch durch den Punkt als einziges Satzzeichen am Ende jeder Strophe deutlich wird. Die Inversion (Z.8) verstärkt noch die Wirkung von Zeilensprung u. Euphemismus („sanfte Asche“).

Syntaktisch auffällig ist der symmetrische Satzbau jeder Strophe (NS,HS,NS,HS), was einen rhythmischen Gleichklang erzeugt. Die Anaphern sind jedoch nur in der 1. u. 3. Strophe in der gleichen Reihenfolge angeordnet (wär ich / ich - wärst du / ich). In der 2. Strophe jedoch folgt auf das Du ein 3-maliges Ich, wodurch die 1. und 3. Strophe eine formale Klammer des Gedichts bildet. Auch die überraschenden Enjambements in jeder 2. Zeile einer Strophe verdeutlichen den parallelen Aufbau. Außer 2 Alliterationen in der 1. Strophe (Z.2,3) fallen die 6 sprachlichen Bilder (je 3 für das lyrische Ich: Baum, Feuer, Nixe - und je 3 für das fiktive Du: Meer, Blume, Stern) in jeder Strophe auf, wobei diese nicht ungewöhnlich sind, wohl aber deren Kombination mit den folgenden Metaphern („wüchse dir in die hohle Hand“, Z.1f.; „legte in sanfte Asche dein Haus“,Z.7.f.; „saugte dich auf den Grund hinab“,Z.9f.; „knallte dich vom Himmel ab“,Z.11f.). Das Unwirkliche bzw. die (unerfüllten bzw. unerfüllbaren) Wünsche des lyrischen Ichs werden durch den durchgängigen Konjunktiv ausgedrückt. Die letzte Zeile ist die kürzeste, was das unwiderrufliche Ende des Gedichts bzw. der immer destruktiveren Fantasien des lyrischen Ichs anzeigt. Es handelt sich um einen reinen inneren Monolog, wobei auch die Hinwendung zum Du (nur NS, d.h. untergeordnete Rolle) und die Kommunikation mit ihm nur aus der subjektiven Perspektive des lyrischen Ichs (auch HS, daher wichtiger, also Hauptrolle) erfolgt. Auch die Verteilung der Verben (nur Hilfsverben für das fiktive Du) unterstreicht dies.


3. Interpretation

Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eindeutig eine Frau („Nixe“, Z.9). In der 1.Strophe stellt sie sich vor, wie sie noch scheinbar liebe- u. vertrauensvoll mit dem lyrischen Du zusammen leben könnte („ich wüchse dir in die hohle Hand“, Z.1f.). Sie ist in Gedanken ein Baum (langlebig, standfest), der in der Hand des Geliebten wächst, so dass er alles mit der Frau machen kann. Vielleicht symbolisiert das Wachstum auch die ersehnte wachsende Liebe zum geliebten Partner. Auch in der 3. u. 4. Zeile spricht sie ihm ihr Vertrauen aus („und wärst du das Meer ich baute dir weiße Burgen aus Sand.“, Z.3f.). Daher muss sie dem Meer, dem unendlich geliebten Du, vertrauen. In dieser scheinbar romantischen Liebeserklärung verbirgt sich jedoch bereits eine vergängliche und einengende Tendenz, da das Meer durch die Burgen in die Schranken gewiesen wird. Der Sand jedoch wird meist durch das Meerwasser hinweggespült, was die fehlende Beständigkeit dieser Liebe andeutet. Die positive, dem fiktiven Du zugewandte Grundstimmung der 1.Strophe wird noch durch das zweimalige „dir“ (d.h. für dich) verstärkt, das in der 2. und 3. Strophe fehlt.

In der 2.Strophe verwandelt sich die Liebe in Eifersucht und Hass („Wärst du eine Blume ich grübe dich mit allen Wurzeln aus“, Z.5f.). Eine Blume kann, ohne in der Erde zu stehen, nicht weiter wachsen und geht langsam ein. Das lyrische Ich will dem Geliebten so den Halt nehmen. Die zerstörerische Eifersucht spiegelt sich auch in den folgenden Zeilen wider („wär ich Feuer ich legte in sanfte Asche dein Haus.“, Z.6f.). Das Adjektiv „sanft“ mildert das Tod bedeutende Nomen „Asche“ nur scheinbar ab. Haus steht zwar für Geborgenheit und Schutz sowie andere Personen und Freunde, die zu Besuch kommen. All das jedoch will das lyrische Ich dem Geliebten nehmen. Das Wort Feuer kann hier auch für die leidenschaftliche Wut des lyrischen Ichs stehen. Es ist aber sein Haus, das nur ihm gehört und in das er sich zurückziehen und damit der Frau entziehen kann.

Das Du ist nur mit nominalen Wendungen bedacht, denen zwar eine gewisse Ausdruckskraft und Bewegung innewohnt (Meer = Unendlichkeit, Blume = Schönheit, aber verblühend und vergänglich, Stern = leuchtend, aber unerreichbar), die jedoch kein eigenes Willenshandeln (nur Objekt) ausdrücken. Im Verlauf des Textes offenbart das lyrische Ich dem begehrten Du ein Grundgefühl von Zuneigung, das in 6 Bildern (je 2 in jeder Strophe) zum Ausdruck gebracht wird. Dabei gehören die 4 Bilder der ersten 2 Strophen aufgrund wichtiger Gemeinsamkeiten zusammen.

Die Bilder 1 und 3 beziehen sich auf den Pflanzenbereich (Baum, Blume), die Bilder 2 und 4 auf die Naturgewalten (Wasser - mit Bezug zum 5. Bild = Nixe - und Feuer und deren Wirkungen). Das 6. Bild (Stern) steht völlig für sich - unerreichbar. Im Anfangsbild vertraut sich das lyrische Ich im übertragenen Sinne dem Du zuversichtlich an, indem es sich - in Gestalt des aufwachsenden Baumes - wörtlich in seine Hände gibt, wobei es unausgesprochen an seine Bereitschaft zu stützender, pflegender Behandlung appelliert und zugleich den anderen dadurch bindet.  

Hinein spielt auch die Wirkung, die vom 3. Bild ausgeht und auf den Anfang zurückstrahlt. Das Ausgraben und Heimtragen der Blume setzt ebenso die Sorge um das weitere Gedeihen voraus, diesmal in umgekehrter Rollenverteilung. Das „mit allen Wurzeln“ (Z.6) signalisiert die Behutsamkeit, mit der jede Beschädigung des anderen Wesens vermieden werden soll. Aber das Bild drückt auch einen der Liebe eigenen Besitzwillen aus.

Die Folgebilder 2 und 4 lassen die positiven Deutungen der Liebe nicht mehr zu. Zwar suggeriert das Errichten weißer Sandburgen im 2. Bild die Vorstellung, dass das Ich dem begehrten Du Freude bereiten will, aber genau genommen dienen die Sandburgen am Strand den Meereswellen zum Spiel der Zerstörung. Das Bild drückt also auch die Bereitschaft des liebenden Ichs zur Preisgabe des eigenen Selbst aus. Diese Auslegung bestätigt sich beim Blick auf das 2.Bild der 2.Strophe, das auffällige Parallelen besitzt. Dort formuliert das lyrische Ich im Gleichnis vom Verbrennen des Hauses den Wunsch, den Partner zur Aufgabe des in sich abgeschlossenen Selbst-Seins zu zwingen.

Dass diesem Bild etwas Gewaltsames, Bedrohliches anhaftet, wird schon durch die Bezugnahme auf die Naturgewalt deutlich. Das Feuer gilt ja als traditionelles Symbol für Liebesleidenschaft und deutet zugleich Gefahr an. Durch die versöhnliche Formulierung „sanfte Asche" wird das nur wenig gemildert. Allerdings wirkt die Forderung, alle ich-bezogenen, abgeschlossenen Daseinsformen zu Gunsten von Gemeinsamkeit aufzugeben, unausgesprochen in jede Liebesbeziehung hinein.

Schließlich beschreibt das lyrische Ich in der 3.Strophe, wie es das lyrische Du töten würde. Hier ist die Eifersucht schon soweit fortgeschritten, dass es den Geliebten bei sich haben will, egal was das für ihn bedeutet, auch wenn es ihm dabei Schaden zufügt („Wär ich eine Nixe ich saugte dich auf den Grund hinab“, Z.9f.). Die Nixe, das Lyrische Ich, will den Geliebten bei sich haben, egal ob er dabei ertrinkt. Bewusst wird das normalerweise bei Nixen verwendete verführerische ‘hinablocken’ durch ‘hinabsaugen’ ersetzt. Das Du wird jeder freien Wahl- oder Widerstandsmöglichkeit beraubt. Damit gerät der Liebesbegriff hier endgültig unter die Vorherrschaft gewaltsamer Inbesitznahme: Das lyrische Ich will um jeden Preis, auch um den der Zerstörung, mit dem geliebten Du vereint sein. Als äußerste Zuspitzung bleibt somit im letzten Bild nur noch die Auslöschung. Der Geliebte, ein unerreichbarer Stern, muss vernichtet werden, wenn er denn nicht zu gewinnen ist. Das Böse, zu dem die Liebe entarten kann, wird in den Schlusszeilen an exponierter Stelle formuliert.

Auch in den letzten beiden Zeilen wird der Egoismus deutlich („und wärst du ein Stern ich knallte dich vom Himmel ab.“, Z.11f.). Die Nixe, das friedvolle und schöne Lebewesen, ertränkt eine Person. Und auch der Stern, weit weg und unerreichbar, wird vom Himmel „geknallt“ und ist ganz nah.  

Das lyrische Ich wurde von ihrer Liebe enttäuscht und hat sich durch das „Ermorden“ des Geliebten von der Liebe, die keine Zukunft hat, befreit. „Hinabsaugen „abknallen" - in diesen Verben drückt sich die zerstörerische, feindselige Haltung des Ichs aus. In den beiden Schlussbildern der 3. Strophe bekommt das Moment der Gewalt in der Liebe eine alles überragende Bedeutung. Die Fixierung auf das geliebte Du steigert sich bis zum Vernichtungswunsch. Das zeigt sich in der Wortwahl, deren Brutalität den Bildern eine erschreckende Härte verleiht.

Liebe ist hier keine Idylle. Die Aussagen des lyrischen Ichs sind auch als radikales Bekenntnis zu seinem Gefühl verstehen. Das Subjekt fordert von sich u. vom Du vorbehaltlose Hingabe für die Verwirklichung der Liebe, die Verschiedenheit oder Trennung nicht erträgt. Das Ich orientiert sich in der Beziehung zum Partner nur an seinen eigenen Ansprüchen u. nimmt das Objekt`des Verlangens als eigenständiges Ich nicht wahr. Somit trägt diese Liebe deutliche Züge von Selbstsucht u. Gewaltsamkeit.

Der Titel „Bildlich gesprochen“ zeigt die Radikalität dieser Liebe, die nicht durch einfache Worte, sondern nur bildhaft ausgedrückt werden kann.

Die Metaphern ersetzen hier die Gefühle (totale Hingabe, Liebe, Wut, Enttäuschung etc.), die die Frau nur indirekt auszudrücken vermag.


4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These bezüglich der Vorstellungen des lyrischen Ichs von unbedingter, rein subjektiver, selbstsüchtiger besitzergreifender Liebe, die am Ende in Vernichtungsfantasien gegenüber dem Du mündet.

Möglicherweise hat Ulla Hahn hier eine eigene vergangene, nicht erfüllbare Liebe verarbeitet, die dann in Hass umschlug. Vielleicht möchte sie an die vorwiegende Zielgruppe der Leserinnen appellieren, sich der Gefahren der unbedingten Liebe bewusst zu werden, die etwas Zerstörerisches, Gewaltsames an sich hat, da sie so nie zu verwirklichen ist. Eventuell ist es auch ein Versuch, sich durch die gedankliche Tötung des Geliebten von ihm zu befreien.

Liebe zwischen 2 Partnern ist das zentrale – mit Urgewalt plötzlich auftretende – Ereignis im menschlichen Leben und muss von jeder/jedem für sich neu entdeckt werden – mit all seinen wunderbaren wie abgründigen und (selbst-)zerstörerischen Seiten.



5. Ulla Hahn: Ich bin die Frau (1983)

       Ich bin die Frau

       die man wieder mal anrufen könnte

       wenn das Fernsehen langweilt


       Ich bin die Frau

   5  die man wieder mal einladen könnte

       wenn jemand abgesagt hat


       Ich bin die Frau

       die man lieber nicht einlädt

       zur Hochzeit


10   Ich bin die Frau

       die man lieber nicht fragt

       nach einem Foto vom Kind


       Ich bin die Frau

       die keine Frau ist

15   fürs Leben.



1. Überblicksinformation

In dem Alltagsgedicht „Ich bin die Frau“ (1983) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um eine Frau, die darüber nachdenkt, welche Bedeutung sie im Leben anderer hat, wie sie auf andere wirkt, wie sie sich selbst sieht und welchen Stellenwert sie als Frau in der Gesellschaft um 1980 einnimmt.

Sie scheint unter einem Mangel an Zuwendung und dauerhaften sozialen Kontakten zu leiden, so dass sie am Ende resignierend oder nüchtern feststellend ihr (traditionelles) Frausein und ihre Eignung für eine Lebenspartnerschaft verneint.


2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 5 Strophen zu je 3 Zeilen, wobei die Zeilen zum Ende hin immer kürzer werden.

Es ist in 3 Teile gegliedert. Die ersten 2 Strophen formulieren scheinbar positiv ihre Wünsche („könnte“, Z.2,5), während die 3.+4. Strophe sich damit befasst, was „man lieber nicht“ (Z.8,11) in Bezug auf sie tun sollte.

In der 5. Strophe zieht sie daraus ihr mit Punkt verstärktes persönliches Fazit („keine Frau ist“ - „fürs Leben.“, Z.14f.).

Das Gedicht weist weder ein klares Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen eher unharmonischen, abgehackten Eindruck hinterlässt. Jedoch werden durch die Anaphern zu Beginn jeder Strophe („Ich bin die Frau die“, Z.1,4,7,10,13) und die Parallelismen (gleicher Satzbau: HS,NS,NS in 1.+2. Strophe und HS,NS in 3.-5. Strophe) ein rhythmischer Gleichklang erzeugt, der jedoch eher eintönig und langweilig wirkt und nur durch Zeilensprünge und Inversionen 3.-5. Strophe, jeweils 2. und 3. Zeile) unterbrochen wird. Außer dem Punkt am Ende des Gedichts gibt es keinerlei Interpunktion, so dass die einzelnen Strophen nicht für sich stehen, sondern die von Strophe zu Strophe ununterbrochen steigende Resignation der Frau unterstreichen. In Z. 13 und 14 gibt es ein scheinbares Paradoxon, das die Schlusspointe in Z.15 vorbereitet.


3. Interpretation

Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eine Frau, die wohl darunter leidet, kaum angerufen zu werden (Z.1). Darauf deuten der Konjunktiv („könnte“) und das sehr vage “man wieder mal“ (Z.2) hin, was bedeutet, dass es ihr letztlich egal ist, wer anruft, Hauptsache, es ruft sie überhaupt irgendjemand an, wobei das „wieder mal“ die Seltenheit eines Anrufs unterstreicht. Dieses „man“ repräsentiert zugleich die Außensicht, d.h. für sie steht im Vordergrund, was andere von ihr denken. Die 3. Zeile der 1.Strophe verdeutlicht ihre geringen Erwartungen an die Motivation des/der AnruferIn, da sie glaubt, dass dies nur dann geschieht, wenn z.B. das Fernsehen langweilt. Sie setzt damit voraus, dass diese/r kein wirkliches Interesse an ihr hat und sie nur - wenn überhaupt – 2. Wahl ist.  

Die 2. Strophe folgt dem gleichen Muster, geht aber inhaltlich über die 1. Strophe hinaus. Sie möchte sicher auch gerne – von wem auch immer – nicht nur angerufen, sondern auch eingeladen werden. Der abermalige (wohl eher irreale) Konjunktiv („könnte“) und das unbestimmte “man wieder mal“ (Z.5) deuten gleichfalls auf die Unerfülltheit auch dieses Wunsches hin. Ihr ist bewusst, dass dies kaum oder nicht geschieht – und wenn, dann nur als Lückenbüßerin für den Fall der Absage einer/s anderen.

Daraus zieht sie in der 3. u. 4. Strophe insofern wohl resignierend die Konsequenzen, als sie gar nicht mehr die vage Möglichkeit einer Kontaktaufnahme in Betracht zieht, sondern nur noch für sich begründet, warum man sie „lieber nicht einlädt“ (Z.8) oder einladen sollte(?!).  

Recht überraschend folgt dann „zur Hochzeit“ als Zeilensprung und Inversion (s.o.). Diese Inversion (eigentlich müsste es heißen: ... die man lieber nicht zur Hochzeit einlädt) führt zur Pointe, was wie eine Rechtfertigung für fehlende Einladungen klingen könnte. Vielleicht glaubt sie, nicht die richtige Person für solche Art von Einladungen zu sein. Oder drückt sich hierin doch der uneingestandene Wunsch nach einem glücklichen Leben (Heirat) aus? Vielleicht möchte sie aber auch „lieber nicht“ (Z.8) mit einer Hochzeit in Verbindung gebracht werden.

In der 4.Strophe folgt eine Steigerung gegenüber der 3. Strophe, da sie jetzt sogar nach einem weiteren Grund dafür sucht, weshalb man sie „lieber nicht fragt“ (Z.9). Zunächst könnte man denken, dass vielleicht niemand etwas von ihr wissen will. Damit nähme „man“ Rücksicht auf ihren bemitleidenswerten Zustand, der nicht zu so einem Lebensglück verheißenden Fest wie einer Hochzeit passt. Vielleicht ist aber auch ihre (unbequeme, unkonventionelle) Antwort bzw. Art bekannt und nicht erwünscht (?!).

Diese Vermutungen werden durch das 2. Enjambement und die 2. Inversion (eigentlich müsste es heißen: ... die man lieber nicht nach einem Foto vom Kind fragt) wieder mit einer überraschenden Pointe aufgelöst. Dieses ungewöhnliche Ende der 4.Strophe wirft mehrere Fragen auf:  

Weshalb glaubt sie, dass sie niemand danach fragen wird/sollte? Hält sie sich nicht für interessant genug? Glaubt sie, dass Männer fürchten, dass sie Kinder habe oder (Frauen?) ihr es nicht zutrauen? Meines Erachtens steht in Z. 12 bewusst „vom Kind“ (und nicht: von einem/meinem Kind).  

Wenn sie ein Kind hätte und stolz darauf wäre oder aber kein Kind haben möchte, stünde hier wohl eine eindeutige Formulierung. Auf jeden Fall weist dies auf mangelndes Selbstwertgefühl der Frau hin.

Vermutlich drückt sich in dieser Uneindeutigkeit ihr innerer Zwiespalt aus: Sie weiß oder fürchtet, dass sie keiner nach einem solchen Foto fragen wird/möchte/sollte (weil das an einem wunden Punkt in ihrem Leben rühren könnte?!), weiß aber auch, dass ein Kind (wie auch die Hochzeit!) durchaus zu einer Frau im traditionellen Sinne gehört.  

Vermutlich repräsentieren Einladungen, Hochzeit und Kind (Z.5,9,12) Stationen eines konventionellen Lebens einer Frau, die sie nicht ist, aber wohl vielleicht doch (wenn auch nur uneingestanden) sein möchte.

In der 5. Strophe sind die Verse deutlich kürzer, Zeichen ihrer Resignation. Sie zieht hier für sich die radikale Konsequenz, dass sie (als Frau) einfach keine Frau ist. Dieses (scheinbare) Paradoxon zeigt, dass sie sich durchaus an dem traditionellen Frauenbild misst, was zur damaligen Zeit (um 1980) zwar schon durch Gesetzgebung (verändertes Ehe- u. Familienrecht seit 1977) als staatliches Leitbild aufgehoben war, jedoch noch in den meisten Köpfen (nicht nur der Männer!) verankert war – und leider nicht selten noch ist! Auch das 3. Enjambement und die 3. Inversion (eigentlich müsste es heißen: ... die keine Frau fürs Leben ist.) führt zu der Schlusspointe, dass sie als Frau nicht „fürs Leben“; Z.15), d.h. für eine dauerhafte Partnerschaft (im traditionellen Sinne) geeignet ist. Diese nüchterne, emotionslose Bestandsaufnahme klingt sehr nach Einsamkeit, Verzweiflung, Selbstaufgabe. Sie sehnt sich wohl nach dauerhafter Liebe zu einem Mann anstelle von kurzfristigen Affären, bei denen sie nur die Rolle einer zeitweiligen Ersatzfrau (bestenfalls: Lebensabschnittsgefährtin) spielen darf.

Diese traurige Grundstimmung des Gedichts wird noch durch fehlende Metaphern und die betont nüchterne, schnörkellose, ganz alltägliche Sprache verstärkt, die vielleicht darauf hindeutet, dass zumindest ihre momentane Stimmung (oder gar ihr Leben?) eher trist, einfach oder langweilig ist. Man erfährt kaum etwas über das lyrische Ich. Es wird nur aufgezählt, was nicht passiert und was sie nicht ist, aber nicht, wer oder wie sie tatsächlich ist. Die Verneinungen erzeugen ein Bild der Unzufriedenheit und bieten kaum Anhaltspunkte, um das lyrische Ich anders als eine abgelehnte, ausgestoßene, nicht erwählte Frau zu sehen. Die Frau scheint resigniert zu haben, sie unternimmt offenbar nichts, um den beschriebenen Zustand zu ändern, sondern berichtet lediglich davon. Sie spricht nur von Dingen, die andere nicht tun, sagt aber nichts darüber aus, was sie selbst unternimmt. Sie setzt also der Resignation, die sich in den vielen verneinten Sätzen ausdrückt, nichts entgegen, sondern nimmt die Gegenwart einfach hin.

So wird das Gedicht zum Ausdruck einer enttäuschten Frau, die sich nicht aktiv mit ihrer Unzufriedenheit auseinandersetzt, sondern diese nur passiv durchleidet. Um 1980 hätte eine Frau durchaus zahlreiche Möglichkeiten gehabt, die Leere ihres Lebens selbständig zu überwinden, da sie nicht mehr nur an Haus und Mann gebunden war.

Ihr offensichtlicher Mangel an Fantasie oder Kreativität wird noch durch die Gleichförmigkeit des Aufbaus (s.o.) verdeutlicht. Im gesamten Gedicht kommen nur 2 Pronomen vor: das persönliche Fürwort „ich“ und das unbestimmte Pronomen „man“. Zunächst einmal kann man daraus schließen, dass die Frau von den anderen abgegrenzt ist. Es wird eine Distanz aufgebaut, die auch das Gefühl der Unbeliebtheit der Frau widerspiegelt.

Ihre Suche nach Aufmerksamkeit zeigen schon der Titel „Ich bin die Frau“ und die Wiederholung als Anapher in jeder Strophe. Auch wird nur das Wort „Ich“ als einziges am Zeilenanfang groß geschrieben, was zeigt, wie wichtig sie sich selbst nimmt. Dies könnte auch ein indirekter Hinweis darauf sein, dass sie als Konsequenz sich ihrer selbst durchaus bewusst ist und zu ihrer Entscheidung, keine traditionelle Frau für ein herkömmliches Leben (Heirat, Kind) zu sein, steht. Vielleicht möchte sie mit der 3.-5. Strophe („lieber nicht“, „keine Frau ist fürs Leben“; Z.8,11,14f.) auch andere Männer warnen, sich mit ihr einzulassen, weder als kurze Affäre, noch als traditionelle Ehe- oder Hausfrau.


4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These in der Einleitung bezüglich der resignativen Grundstimmung des Gedichts. Es enthält aber manche Unbestimmtheiten, die Ansätze selbstbewussteren Verhaltens der Frau erkennen lassen. Vielleicht hat Ulla Hahn als damals 35-jährige selbst solche zwiespältigen Stimmungen gehabt und durchlitten. Somit könnte das Gedicht auch ein Aufruf an Leserinnen als der Hauptzielgruppe sein, sich mit Personen in ähnlicher Lage mehr zu befassen. Die Unsicherheit bezüglich der Geschlechterrollen ist auch – und gerade heute noch – aktuell und ein zeitloses Problem. Heute würde die Verneinung der traditionellen Geschlechterrollen sicher sehr viel selbstbewusster formuliert werden.

Mir hat die Einfachheit des lyrischen Textes sehr gut gefallen, der immer noch gültig ist und vielfältigen Interpretationsansätzen breiten Raum lässt.



6. Ulla Hahn: Keine Tochter (1983)

       Ja der Kuchen ist gut – Ich habe

       nie gern Süßes gegessen – Ich esse

       gern noch ein Stück


       Nein mir geht es nicht schlecht.

  5   Viel Arbeit. Ja. Älter werde ich auch.

       Noch kein Mann? Nein kein Mann.


       Vorm Eigenheim mit Frau und Kind

       des Sohnes wuchs der Ableger

       von der Clematis vorm Elternhaus an.


10   Überm Fernsehen schläfst du ein.

       Dein Kopf sackt nach vorn deine Schulter

       auf meine. Ich halte still.


       Näher kommst du mir nicht.

       Ich bin dir wie vor meiner Zeugung

15   so fern. Verzeih ich möchte

       auch keine Tochter haben wie mich.



1. Überblicksinformation

Im Alltagsgedicht „Keine Tochter“ (1983) von Ulla Hahn aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um eine Tochter, die sich mit der Beziehungskälte von und zu ihrer Mutter, ihrer als mangelhaft empfundenen Tochterrolle und ihrem negativen Selbstbild auseinandersetzt.

In dem kurzen Dialog der ersten 2 Strophen antwortet die Tochter abwehrend auf die lästigen, stereotypen Fragen ihrer Mutter. Als diese vorm Fernseher einschläft und sich bei ihr anlehnt, spürt sie trotz körperlicher Nähe große Distanz zwischen ihnen und stellt am Schluss fest, dass sie auch keine solche Tochter wie sie haben möchte.


2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 5 Strophen zu meist je 3 Zeilen. Nur die 5. Strophe hat 4 Zeilen. Es ist in 3 Teile gegliedert. Die ersten 2 Strophen geben einen Ausschnitt aus einem Dialog zwischen Tochter und Mutter wieder.

In der 3.Strophe geht es um das konventionelle Leben des Sohnes bzw. Bruders. Die 4. und 5.Strophe dreht sich erneut um die Tochter-Mutter-Beziehung, wobei die distanzierten Gedanken und Gefühle sowie die Unsicherheit der Tochter bezüglich ihrer Rolle thematisiert werden.

Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime auf, was einen unharmonischen, abgehackten, gehetzten Eindruck hinterlässt und durch Ellipsen besonders in der 2. Strophe und nicht gesetzte Kommas (Z.1, 4, 6, 11, 15) verstärkt wird.

Auch die fehlenden Alliterationen zeigen mangelnden Wohlklang bzw. Harmonie zwischen Mutter und Tochter.

Der parataktische Satzbau (nur HS) erzeugt einen rhythmischen Gleichklang, der eher eintönig und langweilig wirkt, jedoch durch einen komplexen HS (3. Strophe) sowie durch überraschende Zeilensprünge in den Strophen (außer der 2.) und Inversionen (3.-5. Strophe) unterbrochen wird. 2 verkürzt wiedergegebene Fragen der Mutter (Z.5,6) verdeutlichen das Dialogische der ersten 2 Strophen.  

Ein Paradoxon in der 1.Strophe zeigt den Widerspruch zw. den Antworten u. Gedanken der Tochter. Neben Anaphern (Z.1f., 1+5, 12+14f.), die dauernde Rechtfertigungsversuche der Tochter unterstreichen, u. einer Epipher, die die kurze, abwehrende Bestätigung der bohrenden mütterlichen Fragen hervorhebt (Z.6), gibt es wenige, nichtssagende Alltagsmetaphern („der Kuchen ist gut“,Z.1; „mir geht es nicht schlecht“,Z.4; „Dein Kopf sackt nach vorn“,Z.11) und ein symbolisches sprachlichen Bild, das sich auf das traditionelle Verhalten ihres verheirateten Bruders bezieht.   

Der Vergleich („wie vor meiner Zeugung so fern“, Z.14f.), durch eine Inversion (s.o.) hervorgehoben, weist ebenfalls auf die schwierige Tochter-Mutter-Beziehung hin. Die Gedankenstriche geben hier die wahren Gedanken und Empfindungen der Tochter wieder. Außer in der 1.Strophe enden alle Strophen und Sätze mit einem Punkt.   

Dies liegt daran, dass mit der 4. Zeile zwar die 1. Zeile der 2.Strophe beginnt (schwacher Strophensprung), aber zugleich ihre Antwort aus der 1.Strophe erst endet. Die letzte Strophe wirkt durch ihre Überlänge bewusst hervorgehoben und wirkt abschließend.


3. Interpretation

Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eindeutig eine Tochter, die wohl bei ihrer Mutter zu Besuch ist und distanziert-oberflächlich in der 1.Strophe deren selbst gebackenen Kuchen lobt („Ja der Kuchen ist gut“, Z.1). Ihre Empfindungen in Gedankenstrichen sind aber ganz konträr (Z.1f.) dazu, wobei zunächst unklar bleibt, ob die Mutter deren Abneigung gegen Süßes nicht kennt oder ignoriert. Aus lauter Höflichkeit nimmt sie sogar noch ein 2. Stück Kuchen von ihrer Mutter an, um diese nicht zu enttäuschen. Danach fragt die Mutter sie wohl direkt und wenig einfühlsam oder gar ehrlich besorgt nach deren Befinden.

Die wieder sehr floskelhaft-oberflächliche Antwort der Tochter zu Beginn der 2.Strophe, dass es ihr „nicht schlecht“ (Z.4) gehe, zeigt, dass sie ihrer Mutter nicht ihre wahren Gefühle mitteilen möchte. Ihr geht es nicht besonders gut, da sie sonst eine viel positivere Formulierung gewählt hätte.

Offensichtlich hat die Mutter keine gute oder intensive Beziehung zu ihrer Tochter, da sie sie lediglich nach ihrer Arbeit und einer festen Partnerschaft fragt (Z.5f.), wobei das lyrische Ich diese lästigen Fragen kurz und abwehrend beantwortet. Aus der Folge von „Nein – Ja – Nein" ergibt sich die gespannte atmosphärische Wirkung des Dialogs. Die einzige Frage („Noch kein Mann?“, Z.6) enthält zugleich einen indirekten Vorwurf.

Der Bruder des lyrischen Ichs entspricht in der 3. Strophe wohl dem mütterlichen Ideal eines ‘Nachwuchses’ (Enkel!) viel eher, weil er ein „Eigenheim mit Frau und Kind“ (Z.7) hat. Das überraschende Enjambement („des Sohnes“, Z.8) betont die Wichtigkeit des männlichen Nachwuchses für die Mutter und drückt zugleich (auch mit der abwertenden Metapher „der Ableger“ (Z.8,) womit auch der Sohn gemeint ist) die Distanz des lyrischen Ichs zu seinem Bruder aus. Vielleicht ist das ihr immer wieder vorgehaltene brüderliche Vorbild das Trauma der Tochter?!  

Der überraschende Wechsel von Tempus und Sprechweise sowie der komplex gebaute Satz mit mehreren präpositionalen Wendungen („vorm“, „mit“, „von“, „vorm“, wobei „vorm“ vor Eigenheim und Elternhaus dessen Verbundenheit u. Ähnlichkeit betont) deutet dies ebenfalls an.

Auch Clematis als Name für die an Hauswänden sich emporrankende Kletter- und Zierpflanze, von der es über 300 Arten gibt, passt sehr gut zum Bruder, der sich am Elternhaus orientiert, eine Zierde für die Mutter ist und als „Ableger“ genau so ist, wie die Mutter ihn sich wünscht. Zugleich symbolisieren die zahllos vorkommenden Arten der Clematis dessen Gewöhnlichkeit und fehlende Individualität bzw. Seltenheit.

Mit der 4. Strophe spricht das lyrische Ich wieder die Mutter an, nun aber eher in Gedanken: Die Mutter ist eingeschlafen. In den stillen Worten an die schlafende Mutter verbalisiert die Tochter ihr Gefühl völliger Beziehungslosigkeit und Ferne der Mutter gegenüber.  

Dies zeigt auch deren Interesselosigkeit gegenüber ihrer Tochter, die wohl nicht sehr oft zu Besuch kommt. Der Kopf der Mutter „sackt nach vorn“ (Z.11), eine Metapher, die fehlende Lebendigkeit und emotionale Wärme der Mutter verdeutlicht. Schon die Tatsache, dass die Mutter fernsieht, zeigt, dass beide sich nichts mehr zu sagen haben. Zwar lehnt Mutters Schulter auf der ihrer Tochter (erneut unvermutetes Enjambement, Z.11f.), was die Anlehnungs- und Unterstützungsbedürftigkeit der Mutter unterstreicht und zeigt, dass das lyrische Ich in Wahrheit die Mutter trägt. Jedoch hält die Tochter lediglich still, d.h., sie hält - und erträgt die Mutter - nur still.

Auch jetzt in der 5. Strophe entsteht keine wirkliche Nähe. Dieser Zustand ist für das lyrische Ich „wie vor meiner Zeugung“(Z.14). Hierin drückt sich vielleicht der unbewusste Wunsch aus, nie gezeugt bzw. geboren zu sein. Die Tochter hat ein sehr geringes Selbstwertgefühl und leidet wohl so sehr unter der emotionslos-oberflächlichen Beziehung zu ihrer Mutter, dass sie am liebsten gar nicht auf der Welt sein möchte.

Durch die überraschende Pointe („so fern“, Z.15) durch Inversion mit Enjambement wird diese pessimistische Perspektive etwas entschärft, jedoch nicht entkräftet. Größer als „vor meiner Zeugung“ (Z.14) kann eine Distanz zwischen Mutter und Tochter eigentlich gar nicht mehr sein.

Die hastige (ohne Komma!) Entschuldigung am Schluss („Verzeih“, Z.15) klingt ebenso aufrichtig wie hilflos und resignativ. Es fragt sich, wofür das lyrische Ich die Mutter um Verzeihung bitten möchte. Dafür, dass die Tochter sie bitter enttäuscht hat, da diese sich anders entwickelt hat, als die Mutter wollte und für richtig hielt?! Oder hat sie sich viel zu wenig um ihre (einsame) Mutter gekümmert, die wohl verwitwet ist?!

Auf jeden Fall formuliert sie in der vorletzten Zeile zum 1. Mal einen Wunsch („möchte“, Z.15), der jedoch durch die Wendung und Schlusspointe in Form eines abschließenden Enjambements („auch keine Tochter haben wie mich“, Z.16), wieder nur offenbart, was sie nicht möchte.

Ob sie überhaupt eine Tochter haben möchte, bleibt zunächst unklar. Auf keinen Fall sollte sie aber so wie sie sein. Daraus lässt sich schließen, dass sie sich gar nicht zutraut, eine wirkliche Mutter mit einer richtigen (ihre Tochterrolle im positiven Sinne ausfüllenden) Tochter zu sein. Ihr negatives Selbstbild ist dermaßen übermächtig, dass ein/e „Ableger“/-in von ihr noch nicht einmal in ihrer Fantasie eine wünschenswerte Vorstellung ist.

Dies führt zurück zum paradoxen Titel des Gedichts, da sie als Tochter weiß, dass sie keine Tochter im herkömmlichen Sinne elterlicher bzw. mütterlicher Erwartungen ist. Sie bereut dies wohl offensichtlich und beneidet vielleicht insgeheim ihren Bruder, der genau diesem Idealbild entspricht. Zugleich zeigt sie große Distanz zu ihm und bezeichnet ihn als Sohn (ihrer Mutter) und nicht als Bruder. Auch zu ihrer Schwägerin und zu ihrem Neffen bzw. ihrer Nichte hat sie keine oder keine intensivere Beziehung („Frau u. Kind“, Z.7).

Vielleicht hat sie als Kind zu wenig Liebe erfahren (früher Tod des Vaters?), wobei ihr Bruder, wie in Familien durchaus üblich, die (meiste?) Zuwendung von der Mutter erhalten hat, was Enttäuschung und mangelndes Selbstwertgefühl der Tochter und ihre große Distanz zur Mutter erklären würde. Auch die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit „nie gern Süßes gegessen“ (Z.2) hat, dies aber wohl weder in ihrer Kindheit noch heute ihrer Mutter einzugestehen wagt und, um dies zu verheimlichen, noch ein Stück nimmt, zeigt, wie sehr sie – früher u. heute – ihre Gefühle unterdrückt und wie wenig sie sich beachtet und geliebt fühlt. Dies führt zwangsläufig zu Bindungs- und Beziehungsängsten („kein Mann“, Z.6) u. der Verdrängung von Gefühlen durch erhöhten beruflichen Einsatz („Viel Arbeit“, Z.5).


4. Fazit

Die Analyse bestätigt weitgehend die These der Einleitung bezüglich des negativen Selbstbildes der Tochter und ihrer großen Distanz zur Mutter, was offensichtlich durch deren mangelnde Liebe und geringes Verständnis wesentlich beeinflusst worden ist.

Vielleicht hat Ulla Hahn (geb. 1946) als Tochter selbst unter mangelnder Zuwendung gelitten. Somit könnte das Gedicht auch ein Aufruf besonders an die nicht selten in ähnlichen Konflikten stehende weibliche Leserschaft als Hauptzielgruppe sein, sich z.B. innerhalb der eigenen Familie stärker um gleichgewichtige Zuwendung und Verständnis für alle Familienmitglieder zu bemühen.

Die zentrale Bedeutung der Familie, besonders psychische Entwicklung und Selbstbild des einzelnen sowie die Übernahme positiver familialer Rollenmuster sind unbestritten, zeitlos gültig sowie die Basis jeder späteren erfolgreichen Partnerschaft und Familiengründung.



7. Ulla Hahn: Mit Haut und Haar (1981)

       Ich zog dich aus der Senke deiner Jahre

       und tauchte dich in meinen Sommer ein

       ich leckte dir die Hand und Haut und Haare

       und schwor dir ewig mein und dein zu sein.


  5   Du wendetest mich um. Du branntest mir dein Zeichen

       mit sanftem Feuer in das dünne Fell.

       Da ließ ich von mir ab. Und schnell

       begann ich vor mir selbst zurückzuweichen


       und meinem Schwur. Anfangs blieb noch Erinnern

10   ein schöner Überrest der nach mir rief.

       Da aber war ich schon in deinem Innern

       vor mir verborgen. Du verbargst mich tief.


       Bis ich ganz in dir aufgegangen war:

14   da spucktest du mich aus mit Haut und Haar.



1. Überblicksinformation

In dem Gedicht „Mit Haut und Haar“ (1981) von Ulla Hahn (geb. 1946) aus der Epoche der Gegenwartslyrik geht es um die leidenschaftliche, aktive u. völlige Hingabe des lyrischen Ichs an ein geliebtes Du am Beginn einer auf Dauer angelegten Beziehung. Das lyrische Ich erleidet jedoch zunehmenden Persönlichkeitsverlust u. Selbstentfremdung als Folge der totalen Vereinnahmung und Dominanz durch den älteren Partner.

Nach völliger Selbstaufgabe des Ichs beendet dieser verächtlich die für ihn wertlose Beziehung.


2. Formale Analyse

(Das 4-strophige gereimte Gedicht (strenge Form des englischen Sonetts: 3 Quartette und ein 2-Zeiler) weist in der 1. + 2. Strophe einen harmonisch fließenden Sprachrhythmus auf, der zeigt, dass diese 2 Strophen auch inhaltlich zusammengehören. Sie unterscheiden sich jedoch bezüglich des Reimschemas (1.Strophe: Kreuzreim; abab; 2.Strophe: umarmender Reim: abba).

Wo dieser Sprachfluss in der 2.Strophe durch Dissonanzen gestört wird, lassen sich inhaltliche Unstimmigkeiten vermuten (Z.5: rhythmischer Bruch in der Versmitte - Satzschluss mit starker Zäsur).   

Hier geschieht der gewaltsame Eingriff des Mannes in die Gefühlswelt der Frau; Derselbe formale Bruch (Z.7) unterstreicht die zerstörerische Selbstaufgabe der Frau, die „schnell“ geschieht, was die Kürze dieser Zeile verdeutlicht.

Mit der 3.Strophe (erneut Kreuzreim: abab) beginnt der 2. Teil des Gedichts, in dem der zunehmende Persönlichkeitsverlust und die Selbstentfremdung des lyrischen Ichs durch eine starke rhythmisch-syntaktische Zäsur im Versfluss nach „Schwur“ (Z.9: Motiv des widernatürlichen Selbstverrats) und der metrische Zwang zur ungewohnten Betonung von „Anfangs“(Z.9) den Rhythmus behindern und damit die innere Unbeholfenheit des lyrischen Ichs signalisieren.

Die 4. Strophe (3.Teil des Gedichts) schließt das Sonett ab, wobei der Paarreim (aa) ironischerweise die nicht zukunftsfähige Zweierbeziehung beendet. Der Doppelpunkt in Z.13 kündigt die bittere (logische?) Konsequenz der völligen Selbstaufgabe der lyrischen Ichs an: Ihr Partner macht der für ihn wertlosen Beziehung ein abruptes, mitleidsloses und sie demütigendes Ende.

Der Satzbau in der 1. + 2. Strophe ist gleichmäßig und weitgehend parataktisch (4HS + EI) und ab der 3. Strophe hypotaktisch, wobei in der 3.Strophe der NS an 2., in der 4.Strophe jedoch an 1. Stelle steht, was die Dreiteilung des Gedichts auch formal unterstreicht.

Von der 1. zur 2.Strophe kehrt sich die Reihenfolge des Ich und Du um (1. Ich - ich - du - du; 2. du - du, ich - ich). In der 3. u. 4. Strophe bleibt diese Reihenfolge gleich (3. ich - du, 4. ich - du, Z.11-14), was zeigt, wie stark diese 4 letzten Zeilen inhaltlich zusammengehören.

Eine Inversion (Z.8f.), 4 Zeilen- und Strophensprünge mit gleichzeitigem Satzende im Zeileninnern (Z.5,7.9,12) und eine Ellipse (Z.10) verdeutlichen den unharmonischen, abgehackten Eindruck des Gedichts, der durch Alliterationen (Z.3,6,14 ) und Anaphern (Z.1+3,5+12,7+11+14) jedoch abgemildert wird.   

Ungewöhnliche sprachliche Bilder praktisch in jeder Zeile signalisieren die Intensität des Erlebens des lyrischen Ichs. Die zentrale Metapher „Mit Haut und Haar“(Titel und Z.14) bildet die äußere Klammer dieses Gedichts.

Die wenigen Satzzeichen (nur Punkte u. 1 Doppelpunkt) ermöglichen einen fließenden (auch strophenübergreifenden) Übergang zwischen den Zeilen und zeigen deren inhaltlichen Zusammenhang. Der Punkt nach Zeile 13 signalisiert, dass das Gedicht unvorbereitet und plötzlich endet. 2 Oxymora („sanftem Feuer“, Z.6; „schöner Überrest“, Z.10) unterstreichen das Widersprüchliche und Unmögliche dieser Beziehung.


3. Interpretation

Zu Beginn der 1.Strophe erfahren wir aus der typisch weiblichen Perspektive und Rückschau des lyrischen Ichs (eine Frau) von ihrer früheren Beziehung zu einem wohl älteren und sich vielleicht am Tiefpunkt befindenden Du („Senke deiner Jahre“, Z.1), die wohl anfangs von ihr bestimmt wird („Ich zog dich...“, Z.1), wobei sie ihm das Glück ihrer Liebe („meinen Sommer“, Z.2) und ihrer Lebensenergie schenkt. Ihr emanzipatorisches Handeln schlägt jedoch sehr schnell in Unterwürfigkeit um (Hundemetapher: „leckte dir die Hand und Haut und Haare“, Z.3), eine geradezu animalische Zärtlichkeit, wobei ihre Hingabe total ist (Titel: „Mit Haut und Haar“). Dennoch will sie Gleichrangigkeit zwischen ihnen beiden, indem sie sich treu zu bleiben verspricht („schwor dir ewig mein und dein zu sein“, Z.4). Dieses naiv überschwängliche Treueversprechen zeigt ihren unlösbaren Zwiespalt von Selbsthingabe und Selbstbewahrung.

Der fehlende Punkt in Z.2 unterstreicht die Atemlosigkeit des scheinbar endlosen Glücks. Auch suggeriert die zweifache Konjunktion „und" die anfangs geglückte Balance zw. Eigenständigkeit u. Hingabe („mein und dein zu sein“, Z.4), wobei hier bereits ihre Hingabe an ihn an 1. Stelle steht. Diese vertrauensselige Hingabe birgt das mit dem am Anfang der Beziehung nicht bedachte Risiko des Selbstverlustes, der Selbsttäuschung und der Enttäuschung.

In der 2.Strophe wird die männliche Figur aktiv u, manipulativ („wendetest mich um“, Z.5), handelt besitzergreifend und gewaltsam („branntest mir dein Zeichen mit sanftem Feuer in das dünne Fell“, Z.5f.: Brandzeichen als Eigentumsmerkmal bei Tieren), wozu auch psychischer Druck gehört. Er scheint sie jetzt wie ein Tier zu behandeln und als sein persönliches Eigentum zu betrachten.

Zwar wendet er keine physische Gewalt an („sanftem Feuer“), jedoch nimmt er keine Rücksicht auf ihr „dünne(s) Fell“ (Z.7), d.h. ihre Empfindsamkeit und Verletzlichkeit. Er aber gibt nicht, er nimmt nur, und zwar die Partnerin nicht so, wie sie ist, sondern wie er sie haben will. Folge: Die Frau verliert ihr Selbstverständnis und entfremdet sich von ihren Wünschen („und schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen“, Z.7f.). Die Verben ‘ablassen’ und ‘zurückweichen’ signalisieren die Distanzierung der Frau vom eigenen Ich.

Übergangslos (strophenübergreifendes Enjambement) berichtet sie in der 3.Strophe, dass sie sich damit selbst verrät, indem sie ihren Schwur bricht (rechtliches u. moralisches Vergehen). Dies wird durch den abrupten Rhythmuswechsel in Z.9 unterstrichen.

Wehmütig erinnert sie sich noch bruchstückhaft („schöner Überrest“, Z.10) an ihr früheres Selbstwertgefühl und ihre Eigenständigkeit und ihre aufgegebene Identität. Allerdings ist sie schon total von ihm vereinnahmt und sich selbst entfremdet („Da aber war ich schon deinem Innern vor mir verborgen. Du verbargst mich tief.“, Z.11f.). Durch die Wortwiederholung (verbergen, tief verbergen) wird die Unentrinnbarkeit aus der Vereinnahmung betont, da dem eigenen Zurückweichen (Z.8) das gleichzeitige Verbergen durch den Partner entspricht.

In der 4.Strophe zieht das dominante und überlegene Du, das sich eigentlich beglückt und dankbar fühlen sollte, daraus die brutale und herzlose Konsequenz, dass es die durch ihr Verhalten wehrlos Gewordene und völlig von ihm Abhängige („Bis ich ganz in dir aufgegangen war“, Z.13) am Schluss fortwirft, wobei das pointierte Zusammentreffen von Höhepunkt (völlige Hin- und Selbstaufgabe der Frau) und unerwartetem Schluss den schockierenden Endpunkt der Beziehung verdeutlicht. Dies wird auch durch die fehlende Übereinstimmung von metrischer und natürlicher Betonung unterstrichen, ein Hinweis auf die vom lyrischen Ich als willkürlich empfundene Trennung, worauf auch die elliptische Abtrennung eines Satzteils aus der 12. Zeile hindeutet. Die Metapher in Z.13 („ganz in dir aufgegangen“) ist ein Bild für Ende einer eigenständigen Persönlichkeit der Frau und eine Anspielung auf die in Zeile 3 ausgesagte Totalität, aber mit umgekehrten Vorzeichen.

Das vollständige ‘Ausspucken‘ des lyrischen Ichs („mit Haut und Haar“, Z.14) kennzeichnet das Verächtliche des Vorgangs und die Radikalität der Trennung, wobei die Beendigung der Beziehung durch den Partner von der Frau als Verstoßensein empfunden wird. ‘Liebe` kann in einem solchen Rollenverhalten nicht zustande kommen. Zugleich ist mit diesem Verb (ausspucken, Z.14) die Assoziation des Überflüssigen, Überdrüssigen, Widerlichen für den Partner bzw. der Demütigung für das lyrische Ich verbunden.

     

Figurenperspektive

Zur Rollenverteilung der Gedicht-Figuren gehört die einseitige Perspektive, aus der das Geschehen vermittelt wird. Der Leser erfährt die Vorgänge nur aus der Sicht der Frau. Was der Mann denkt oder fühlt, bleibt völlig im Dunkeln. Damit entsteht ein Ungleichgewicht, das den unterschiedlichen emotionalen Einsatz der beiden Figuren verdeutlicht. Die Frau erscheint als selbstlos und liebesfähig (wobei der Titel „Mit Haut und Haar“ die problematische totale und radikale Hingabe des lyrischen Ichs symbolisiert), der Mann als egoistisch und kaltherzig.

Deutlich wird hier der Gegensatz weiblichen und männlichen Rollenverhaltens herausgestellt: Weibliches lyrisches Ich: sensibles Registrieren der sich ändernden Befindlichkeit und Selbstwahrnehmung; – Männlicher Partner: selbstverständliche, unwiderrufliche Inbesitznahme sowie wenig rücksichtsvoller und einfühlsamer Umgang mit der Partnerin, gefühllose Beendigung der Beziehung.

Der Titel „Mit Haut und Haar“ spiegelt also sowohl die Radikalität der unbedingten Hingabe der Frau als auch die völlige Verachtung und Trennung durch den Mann wider.


4. Fazit

Das Liebes-Gedicht charakterisiert sich durch den Verlauf eher als ,Anti-Liebesgedicht` bzw. gibt den LeserInnen zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen Liebe scheitern muss. Typisch für Ulla Hahn und die Gegenwartslyrik ist die Verbindung von Identitätsproblematik mit Liebeserfahrung sowie die Kompliziertheit der Gefühlslage. Dies steht in starkem Kontrast zu den traditionellen Formelementen (Reim, Metrum, Strophen) und der Verwendung typischer Signalwörter der Liebeslyrik (schwören, ewig, Schwur, in dir aufgehen, dein zu sein), d.h. der lyrische Text ist Liebesgedicht und Anti-Liebesgedicht in einem. Dieses Gedicht zeigt fast idealtypisch die oft gegensätzlichen Empfindungsweisen zwischen den Geschlechtern.



8. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

       Als sie einander acht Jahre kannten

       (und man darf sagen: sie kannten sich gut),

       kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

       Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.


   5  Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

       versuchten Küsse, als ob nichts sei,

       und sahen sich an und wußten nicht weiter.

       Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.


       Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

 10  Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

       und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

       Nebenan übte ein Mensch Klavier.


       Sie gingen ins kleinste Café am Ort

       und rührten in ihren Tassen.

  15  Am Abend saßen sie immer noch dort.

       Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

       und konnten es einfach nicht fassen.



Biografischer Hintergrund des Gedichts:

Mit 21 Jahren verliebte Erich Kästner (1899-1974) sich in die 18-jährige Ilse Julius. Er begann 1919 sein Studium an der Universität in Leipzig, während sie in Rostock Chemie studierte. Ilse und Erich sahen sich so zunächst selten. Ihren Kontakt hielten sie hauptsächlich durch einen Briefwechsel. Sein Studium musste Kästner durch umfangreiche journalistische Tätigkeiten finanzieren.   

Für eine Freundin – zumal in einer anderen Stadt – blieb so wenig Raum, an eine feste Bindung oder gar Heirat mochte Kästner nicht denken. Ilse Julius mag sich eine solche eher vorgestellt und auch dafür gekämpft haben, obwohl sie, für die damalige Zeit, eine ungeheuer emanzipierte Frau war.

Trotz starker Bindungen beider aneinander, waren die Umstände gegen eine dauerhafte Beziehung der beiden. Dazu mag die Entfernung beigetragen haben, die Zeit und die unterschiedlichen Interessen: Kästner promovierte 1925 an der Universität Leipzig. Im gleichen Jahr legte Ilse Julius in Dresden ihr Chemie-Diplom ab. Es dauerte dennoch bis Ende 1926, bis sich ihre Wege endgültig trennten.


1. Überblicksinformation

Im Gedicht „Sachliche Romanze“ (1929) von Erich Kästner (1899-1974) aus der Literaturepoche der Neuen Sachlichkeit geht es um ein (wohl eher unverheiratetes (Z.1+Biografie) Paar, das sich 8 Jahre kennt, aber wohl auseinandergelebt hat, ohne dies wahrhaben zu wollen, und am Ende fassungs- und verständnislos vor den Trümmern ihrer ihnen längst abhanden gekommenen Liebe steht.


2. Formale Analyse

Das 4-strophige (S.) Gedicht (3 Quartette, 1 Quintett, damit wichtigste Strophe) ist traditionell gebaut  (Kreuzreim: abab; in Z.16 durch Paarreim (aa) gedehnt, obwohl das Paar keins mehr ist), hat rhythmisch-lyrisch-beschwingten Sprechton und wirkt durch konventionellen Sprachgebrauch (vollständige Sätze, meist Satzzeichen (+ Doppelpunkt), 2 Zäsuren (Z.4, 8), 1 Einschub (Z.2), 1 überraschende Enjambements, Z.4, 10f.) und Erzählweise ausgewogen und harmonisch, was auch Anaphern (Z.5, 13, 16; das Paar, das keins ist!) und Alliterationen (Z.7f., 10, 13, 15) unterstreichen. Hierdurch und durch den meist parataktischen Satzbau (nur 2 NS in Z.1+6) wird jedoch zugleich die Monotonie und Einförmigkeit in dieser Beziehung verdeutlicht. Alliterationen, Rhythmus und Reime sollen fehlende Harmonie des Paares nur übertünchen.   

Die indirekte Rede (Z.10f.) unterstreicht, dass beide nie offen und direkt miteinander sprechen. Der „sachliche“ (Titel) Stil des Gedichts wird durch Verzicht auf fast alle typischen Stilmittel wie auffällige Metaphern, Personifikationen oder besondere Symbole betont. Viele Aufzählungen (u.a. 8-mal „und“) unterstreichen die Monotonie der Beziehung.

Es gibt einen Vergleich (Z.4), der durch eine Art elliptischen Enjambements und Punkt besonders betont wird.

Nur sehr indirekt lässt sich der Sinn einiger bildhafter oder symbolischer Wörter („betrugen“, Z.5, „Schiffen winken“, Z.9, „Klavier“, Z.12 usw.) erschließen, was die Kompliziertheit und fehlende Transparenz in der Beziehung dieses Paares zeigt.

Jedoch gibt es eine sarkastisch-ironische Bemerkung (Z.2) oder Untertreibung (zu gut!), 1 Paradoxon (Titel) und einen Gegensatz (Z.5), was die widersprüchliche Beziehung unterstreicht. Der Punkt in Z.3 soll das Besondere, Ungewöhnliche bzw. eigentlich Unmögliche in Z.4 hervorheben.

Das Gedicht besteht aus 3 Teilen (1. + 2. S.: fehlende Liebe und Trauer, 3. S.: Verdrängung, Blick in die Ferne, 4. S.: (scheinbarer) Ortswechsel (Café) und fassungslose Resignation). Auch die sich reimenden Wörter sind hier aussagekräftig: „Gut – Hut“ (Z.2,4) bedeutet, dass nur äußere Dinge gut und wichtig sind. „Heiter – weiter“ (Z.5,7) zeigt, dass beide heiter weiter so machen, obwohl sie für Fröhlichkeit gar keinen Grund haben. „Winken – trinken“ (Z.9,11) zeigt eher passives Verhalten. „Ort – Wort“ (Z.13,16) signalisiert, dass Sprache hier weniger mit Personen verbunden wird. „Tassen – fassen“ (Z.14,17): Das Begreifen und das „(An-)fassen“ wird ebenfalls mit Gegenständen, nicht mit Personen in Verbindung gebracht – Zeichen für Sachlichkeit und Oberflächlichkeit dieses Paares.


3. Interpretation

Diese Sachlichkeit (d.h. das mangelnde subjektive Empfinden) zeigt sich auch beim fehlenden lyrischen Ich. Es gibt nur einen Gedichtsprecher, der außerhalb steht, nicht selbst betroffen ist und als neutraler Beobachter meist ‘sachlich’ berichtet.

In der 1.Strophe wird berichtet, dass einem Paar, obwohl es sich 8 Jahre (verflixtes 7. Jahr!) gut kennt (Z.1f.) und miteinander vertraut ist, „plötzlich ihre Liebe abhanden“ kommt wie „ein Stock oder Hut“ (Z.3f.). Der ironische Einschub (Z.2, wobei „darf“ nur scheinbare Zurückhaltung ist, um die Wirkung der sarkastische Einmischung zu verstärken) stellt nicht nur die Intensität der Beziehung des Paares infrage (nicht gut oder untertreibend: zu gut), sondern verdeutlicht durch das ironische „plötzlich“ (Sie haben es erst jetzt bemerkt!) und den Vergleich von Liebe mit Alltagsgegenständen („Stock oder Hut“, Z.3 u. Adjektiv „sachlich(e)“ im Titel !), die man achtlos verliert, auch ihr wenig emotionales Liebesverständnis bzw. ihre schon längst erkaltete Liebe.

Das Paar erträgt in der 2. S. diese Verlusterfahrung zuerst mit Fassung und versucht, seine Trauer zu überspielen (Gegensatz: traurig - heiter, Z.5). wobei „betrugen sich“(Z.5), was grammatisch von ‘betragen’ kommt, durch den Anklang an ‘Betrug’ zugleich auch ihren Selbstbetrug signalisiert. Sie „versuchten Küsse“, was ihre fehlenden Gefühle füreinander und die Verkrampftheit ihrer Beziehung zeigt.   

Dennoch versuchen sie, ihr eintöniges Leben weiterzuleben, „als ob nichts (passiert) sei“(Z.6). Hilf- und ratlos „sahen (sie) sich an und wussten nicht weiter“(Z.7). Sie sehen keine Alternativen zu ihrem tristen und gefühlsarmen Alltag. Schließlich lässt die Frau ihren Ohnmachtsgefühlen und ihrer Verzweiflung durch Weinen freien Lauf. Er dagegen (nicht nur durch einen Punkt optisch, sondern auch emotional von ihr getrennt) „stand dabei“(Z.8), hilf- und emotionslos sowie unfähig, sie zu trösten bzw. hierauf angemessen zu reagieren.

In der 3. S. blickt wohl der Mann („man“, Z.9) zur Ablenkung durch das Fenster in die Ferne, wo das wirkliche Leben stattfindet.

Das Paar kann nur passiv-resignativ den sich fortbewegenden „Schiffen winken“(Z.9), wobei nicht gesagt ist, dass sie dies auch tun.

Die Schiffe bewegen sich fort zu neuen Ufern, wo Ungewöhnliches, Interessantes wartet. Die beiden bleiben jedoch statisch und unbeweglich am selben Fleck. Sie können höchstens dem an ihnen vorbei ziehenden Leben zuwinken, wobei dieses Winken zugleich einen Anklang an den Abschied von ihrer Beziehung symbolisiert.

Der Mann sagt – wenn auch nur indirekt, also ohne direkten Blickkontakt oder direkte Ansprache! –, etwas Banales („Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken“, Z.11), wobei er verdrängt, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist. Vielleicht weist dies auch auf einen festen, starren Lebensrhythmus hin, der auf reinen Äußerlichkeiten beruht. „Irgendwo“ signalisiert das Bedürfnis des Mannes, irgendwohin (nur ja weg von dieser depressiven Situation!) zu gehen. Er überspielt nur Monotonie (8-mal „und“), Leere und Stille, was zeigt, dass sie sich in Wahrheit nichts mehr zu sagen haben. Sie hören zwar, dass „Nebenan ... ein Mensch Klavier“(Z.12) spielt, der ein wirklicher Mensch ist, da er seine Gefühle musikalisch durch Höhen und Tiefen ausdrückt. Das Paar jedoch – und besonders der Mann – ist unfähig zu solchen wirklich menschlichen Emotionen.

Auch der Rückzug in eine intimere, vertraute Umgebung („kleinste Café“, Z.13) in der 4.Strophe kann die Liebe nicht zurückholen. „Am Ort“ (Z.13) heißt nur ein scheinbarer Ortswechsel, da sie unfähig zu wirklicher Veränderung sind. Vergeblich suchen sie Intimität und Romantik, die längst verloren gegangen ist. Sie „rührten (stundenlang sprachlos) in ihren Tassen“ (Z.13-15; Vermeidungsverhalten; keine emotionale Rührung oder gar körperliche Berührung), wobei der Paarreim („dort“ – „kein Wort“, Z.15f.) die fortdauernde Sprachlosigkeit unterstreicht. Die beiden sind kein Paar mehr, sondern „allein“ (Z.16), da ihre Beziehung zu Ende ist, wobei beide die Gründe hierfür „ einfach nicht fassen“ (Z.17) können. Keine der beiden spielt hier eine dominante Rolle.   

Die Frau könnte hier diese Rolle übernehmen, aber in der damaligen Zeit wäre dies sehr ungewöhnlich gewesen. Daher bleibt der Frau angesichts der emotionalen Defizite des Mannes nur die hilflose Resignation - ein Musterbespiel für Einsamkeit in der Zweisamkeit.

Der Titel „Sachliche Romanze“ verdeutlicht die Unvereinbarkeit von wirklicher Liebe mit sachlich-gefühllosem Zusammenleben im eintönigen Alltag wie im Gedicht.


4. Fazit (mit Bezug zur Biografie Kästners)

Kästner zeigt mit diesem Gedicht, wie sehr sich ein Paar durch den banalen Alltag einer längeren intensiven (verflixtes 7.Jahr!), aber letztlich mit der Zeit nur noch oberflächlichen Beziehung entfremden kann – bis hin zur totalen Sprachlosigkeit und Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und sein eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Bei einem Ehepaar käme damals natürlich hinzu, dass eine Scheidung damals nur schwer möglich war, so dass der gesellschaftliche Druck oft ein zwangsweises Zusammenleben ohne wirkliche Liebe erzwang. Allerdings gab es immer auch die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen ohne Scheidung, was allerdings viel Selbstbewusstsein und Selbstreflexion sowie finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit erforderte.

Kästners eigene (unverheiratete) Beziehung zu Ilse Julius legt allerdings den Schluss nahe, dass es sich auch im Gedicht um ein unverheiratetes Paar handelt, dass sich nicht täglich trifft, eigentlich sehr aneinander hängt, aber deren Liebe erloschen ist, weil sie sich vielleicht zu sehr auf äußerliche Gemeinsamkeiten konzentriert haben und zu wenig Spannung und Leidenschaft in ihrer Beziehung zugelassen haben.

Diese Thematik ist auch heute noch aktuell, da es immer noch Paare (Hauptzielgruppe) gibt, die sich längst auseinander gelebt haben, ohne sich das einzugestehen, und die nicht die Kraft und Energie aufbringen, durch eine Trennung bzw. Scheidung die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, aus Angst vor Einsamkeit. Dies betrifft gerade ältere Paare.

Die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen und mit Emotionen (z.B. weinen) des Partners angemessen umzugehen, ist auch heute bei vielen Beziehungen noch unterentwickelt. Allerdings weichen allzu viele heute diesen Konflikten durch Scheidung aus (fast jede 2. Ehe wird geschieden), anstatt sich konstruktiv mit ihren Beziehungsproblemen auseinanderzusetzen, was meist zu Lasten ihrer Kinder geht.

Das Gedicht weist auch biografische Bezüge auf, denn Kästners eigene Beziehung mit Ilse Julius scheiterte nach 8 Jahren, da sie sich offensichtlich auseinandergelebt hatten. Jedoch spielten bei Kästner die längere räumliche Trennung und die unterschiedlichen Interessen eine zentrale Rolle.   

Im Gedicht dominieren dagegen die Unfähigkeit des Mannes, Gefühle zu zeigen und besonders die Sprachlosigkeit des Paares, was bei einem sprachgewaltigen und einfühlsamen Dichter wie Kästner und einer emanzipierten, gebildeten Frau wie Ilse Julius sehr ungewöhnlich wäre.



9. Ernst S. Steffen: Elsa (1970)

       Sie war gerade sechzehn geworden,

       Man sah es ihr noch an.

       In ihrem Busen schlummerten Torten

       Und Schweinchen aus Marzipan.


  5   Sie hatte so große Puppenaugen                        

       In ihrem kleinen Gesicht

       Und blickte dich an mit diesen Augen

       Und fand doch die Liebe nicht.


       In ihrem Seelchen wuchsen Mimosen,

10   Die hatte der Pastor gepflanzt                          

       Und in ihr Herzchen einen zu großen

       Paulusbrief zur Firmung gestanzt.


       Sie kam in der Nacht in mein Zimmer geschlichen

       Und fand mich und brauchte kein Licht.  

15   Wir haben die Sache dann durchgestrichen.  

       Doch die Liebe fand sie nicht.


       Sie hat sich mit mir noch ein bisschen gestritten:

       Das könne die Liebe nicht sein.

       Dann ging sie und hat sich den Puls durchgeschnitten,

20   Und ich war wieder allein.                                 


       Sie war gerade sechzehn geworden,

       Man sah‘s ihr auch jetzt noch an.

       In ihrem Busen schluchzten die Torten

       Und Schweinchen aus Marzipan.


       P.S.                                                                        

25   Der Jugend heute fehle die Haltung,

       Sagte der Pastor am Grab.

       Er empfahl ihr Seelchen der Himmelsverwaltung,

28   Und dann warf er Dreck hinab.



Ernst S. Steffen - zur Person:

Ernst S. Steffen (1936-70), aus einfachsten Verhältnissen stammend, lebte seit seinem 12. Lebensjahr bis 1967 in Heimen oder im Knast (13 Jahre wegen zahlreicher Einbruchs- und Diebstahldelikte). Dort beginnt er zu schreiben. Seine angriffslustigen, authentischen Texte sind von hoher literarischer Qualität. Er gab nie sich selbst, sondern immer der Gesellschaft die Schuld an seinem Schicksal.

Nach seiner Entlassung 1967 kommt er mit dem Leben draußen nicht mehr zurecht. Er verschuldet er sich hoffnungslos und muss immer vor seinen Gläubigern fliehen. Schließlich resigniert er und macht seinem Leben durch einen Autounfall mit einem roten Sportwagen ein Ende. Kurz vor seinem Tod wird das Gedicht „Elsa“ veröffentlicht.


1. Überblicksinformation

Im Gedicht „Elsa“ (1970) von Ernst S. Steffen geht es um ein 16-jähriges, sehr religiöses und kindliches Mädchen, das nach der 1. Liebensnacht mit einem älteren Jungen Selbstmord begeht, da es diesem wohl nur um Sex geht.

Der Pastor, der bei der streng moralischen Erziehung des Mädchens wohl starken psychischen Druck ausgeübt hat, beklagt am Grab nur die fehlende Moral der Jugend und ist um Elsas Seelenheil besorgt.


2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 7 Strophen zu je 4 Versen mit Kreuzreimen (abab), wobei viele Reime Zeilen mit gleicher Bedeutung verbinden (s.u.). Die 7. Strophe wird mit P.S. überschrieben, um das Beiläufige des Begräbnisses und die fehlende innere Anteilnahme des Pastors zu unterstreichen.    

Das Gedicht ist in 5 Teile gegliedert. In den ersten 2 Strophen (kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.1+5) wird Elsas kindliches Aussehen und Gemüt beschrieben. In der 3.Strophe übt das lyrische Ich deutliche Kritik an dem psychisch-moralischen Druck des Pastors auf Elsa, der zu ihrer zu großen Empfindsamkeit geführt hat. In der 4. + 5.Strophe (wieder kenntlich durch den Beginn mit „Sie“, Z.13+17) berichtet das lyrische Ich von Elsas Enttäuschung über die 1. Liebesnacht und ihren Selbstmord.

Die 6.Strophe hält fest, dass Elsa nicht zur Frau geworden, sondern ein Kind geblieben ist. Durch P.S. abgesetzt wird in der 7.Strophe nebenbei und ohne innere Anteilnahme des Pastors von Elsas Begräbnis berichtet.

Der parataktische Satzbau (nur HS) bewirkt einen eher eintönigen Gleichklang. Durch die häufige Verwendung des Bindewortes „und“ wirken die einzelnen Teile des Gedichts wie eine unabhängige Kette von Ereignissen, die nur durch 2 überraschende Enjambements (Z.5f. und 11f.) unterbrochen wird. Die Interpunktion ist ebenfalls wenig überraschend und entspricht dem Satzbau.

Das gleichförmige Reimschema verstärkt den monotonen Charakter des Gedichts und verharmlost dessen bestürzenden Inhalt. Nur einmal wird die indirekte Rede (Z.18) verwendet, um den zentralen Aspekt des Streits zu verdeutlichen und Elsa auch einmal – wenn auch nur indirekt – zu Wort kommen zu lassen.

Die Alliterationen (Z.15,16,17,20) erzeugen einen Wohlklang, der jedoch nur fehlende Harmonie übertünchen soll. Neben vielen Anaphern  (Z.1+5,12+14f.), die ebenso Harmonie vorspiegeln sollen, und der fast wortgleichen 1.+6.Strophe, die die fehlende Veränderung Elsas durch die Liebensnacht andeuten, gibt es außer nichtssagenden (Z.5,8,18,25) auch ausdrucksstarke, z.T. sehr ungewöhnliche Metaphern („In ihrem Busen schlummerten Torten und Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f,23f. und Z15,27,28) In der 4.+5.Strophe wird jeweils die 1.+3.Zeile, in der 7. Strophe nur die 3.Zeile durch Überlänge hervorgehoben.


3. Interpretation

Das lyrische Ich ist hier männlich und wohl deutlich älter, da es in der 1.Strophe Elsas Alter („gerade erst 16 geworden“, Z.1) u. ihre Jugendlichkeit (Z.2) betont. Auch seine kritische Bewertung der Einstellung und der Grabrede des Pastors zeigt, dass er klüger und „aufgeklärter“ ist als sie.

Mit einer ungewöhnlichen Metapher wird dann Elsas Jugend verdeutlicht. Süßigkeiten, wie Kinder sie lieben („Torten u. Schweinchen aus Marzipan“, Z.3f.) sind noch in Elsa. Wenn diese „schlummern“ (Z.3), - wobei das Reimpaar in Z1/3 (ihr Alter und die Torten) zusammengehört -, heißt das, dass sie wieder erwachen können und jedenfalls nicht verschwunden sind. Auch mit der Verniedlichung „Schweinchen“(Z.4) wertet das lyrische Ich Elsa als bloßes „Kindchen“ ab.

In der 2.Strophe wird dies mit den „große(n) „Puppenaugen“ bekräftigt. Große Augen „in ihrem kleinen Gesicht“ (Z.6) - als Enjambement besonders betont - sind Teil des Kindchen-Schemas, auf das Erwachsene mit Hilfsbedürftigkeit und Zuwendung reagieren, aber nicht mit der Liebe. Auch hier gehört das Reimpaar in Z6/8 zusammen. Da sie ein kleines Gesicht hat, also noch Kind ist, kann sie die Liebe nicht finden.

„Puppen“ (Z.5) als Spielzeuge kleiner Mädchen zeigen, dass Elsa noch ein Kind ist. Sie „blickte dich an“ (vielleicht auch andere?) anstatt „mich“, was die Distanz des lyrischen Ichs zu Elsa ausdrückt und erklärt, dass dieses Kind die Liebe im Sex nicht finden kann.

Dies wird auch in der 3.Strophe wieder durch die Verkleinerungsformen („Seelchen“ und „Herzchen“, Z.9,11) verdeutlicht. „Mimosen“ (Z.9) steht für Elsas extreme jungmädchenhafte Empfindsamkeit. Der „zu große Paulusbrief“(Z.11f.) – wieder durch Enjambement besonders hervorgehoben -, d.h. die ihr zur Firmung verabreichte Frömmigkeit (Paulusbrief) ist für ihre Erlebensmöglichkeiten zu groß, hat sie also überfordert. Angesichts der Ablehnung von Sexualität bei Paulus wird klar, dass Elsa die Liebe nicht finden kann. Wenn der Pastor diesen Brief „gestanzt“(Z.12) hat, wird ausgedrückt, dass er seelische Gewalt bei seiner Erziehung zur Frömmigkeit ausgeübt hat; was ihm vom lyrischen Ich vorgeworfen wird. Die Tätigkeiten des Pastors im Firmunterricht reimen sich („gepflanzt / gestanzt“, Z.10/12). Beides hat er zum Schaden Elsas getan.

In der 4.Strophe berichtet er, dass Elsa in sein „Zimmer geschlichen“(Z.13) kommt – vielleicht auf einer Jugendgruppenfahrt, bei der er als Gruppenleiter teilnimmt?! Sie findet ihn auch ohne Licht (Z.14). Die Liebesbegegnung wird dann sehr distanziert erzählt: „Wir haben die Sache dann durchgestrichen“ (Z.15). Der Liebesakt ist für das ihn (der mit „Wir“ in Wahrheit nur sich meint) nur eine Sache, die er abgehakt hat (wie bei einer Einkaufsliste oder erledigten Programmpunkten), so dass Elsa dabei die (wahre) Liebe natürlich nicht finden kann (Z.16), was bei den rein sexuellen Erwartungen des lyrischen Ichs wohl auch gar nicht möglich ist. Es fragt sich natürlich auch, ob Elsas Vorstellungen von Liebe nicht völlig unrealistisch sind.

Die 5.Strophe zeigt, dass sie dies wohl schnell erkannt und sich mit ihm nur „noch ein bisschen gestritten“ (Z.17) hat. Der Doppelpunkt kündigt die im Konjunktiv („könne“, Z.17) formulierten enttäuschten Wünsche und Erwartungen Elsas an das lyrische Ich an. Dieser Streit ist wohl der direkte Anlass für ihren Selbstmord (Z.19) – hier zeigt sich, dass das Reimpaar in Z.17/19 zusammengehört. Das lyrische Ich beklagt jedoch nicht diesen tragischen Tod, sondern egoistisch nur sein erneutes Alleinsein (Z.20).

In der 6.Strophe wiederholt das lyrische Ich die Beschreibung der 1.Strophe und fügt nur „auch jetzt“ (Z 22) und „-‘s“ hinzu. Auch nach der Liebesnacht hat sie zwar ihre Jungfräulichkeit verloren, ist aber keine Frau geworden, sondern Kind geblieben. Dadurch bewertet bzw. erklärt das lyrische Ich, was dieses nächtliche Erlebnis für Elsa bedeutet. Die Torten und Schweinchen „schluchzten“, was Trauer um Elsas Tod und Kindlichkeit anzeigt (Z. 23).

Scheinbar absichtslos erzählt er in einem Nachtrag, als ob er es beinahe vergessen hätte (P.S.), in der 7.Strophe von Elsas Begräbnis. Sowohl in diesem „P.S.“ wie in der Art, in der er vom Pastor und dessen Einstellung spricht, zeigt sich, dass es Abstand vom kirchlichen Begräbnis hält. Schon Elsas Tod hat es nicht berührt (Z.20) Es zeigt kein Mitgefühl mit Elsas Tod, äußert kein Wort des Bedauerns, obwohl es mit dem Mädchen geschlafen hat.

Im „P.S.“ wird der Pastor in seinem amtlichen Verhalten bewertet. Statt Trauer über Elsas aus Verzweiflung verübten Selbstmord zu zeigen, beklagt dieser nur floskelhaft, „der Jugend heute fehle die Haltung“ (Z.25). Dies offenbart seine Heuchelei bzw. mangelnde Selbstwahrnehmung, da gerade sein Firmunterricht dazu beigetragen hat, dass Elsas Seele verkorkst und sie unfähig zu einer erwachsenen Liebe ist. Auch wertet er sie mit einer Verniedlichung („Seelchen“) als Kind ab, obwohl er ihre Unmündigkeit verstärkt hat.

Mit der Metapher „Himmelsverwaltung“(Z.27) wertet das lyrische Ich die vom Pastor wohl beschworene Fürsorge Gottes zur Verwaltung eines Betriebs ab. Damit kann gemeint sein, dass der Pastor seine Verantwortung auf dem Dienstweg an den Himmel abgibt, vielleicht aber auch, dass es „im Himmel“ genauso lieblos wie in einem Büro zugeht – die Seelen werden verwaltet. Das lyrische Ich sieht den Pastor nicht „Erde“ hinabwerfen, sondern „Dreck“ (V. 29) und bewertet damit des Pastors Handeln als ehrfurchtslos bzw. hält ihm vor, dass dieser mit Dreck (= Verleumdung, Abwertung) nach dem tragischen Opfer streng-religiöser Erziehung (Elsa) wirft.

Auch der Titel „Elsa“ ist nichtssagend und zeigt, dass das lyrische Ich sie nicht als individuelle Person wahrnimmt. Bezeichnend ist, dass er Elsa im Gedicht nie mit ihrem Namen, sondern meist mit verniedlichend-abwertenden Begriffen benennt. Durch die gleichförmigen Reime verniedlicht das lyrische Ich wohl bewusst dieses tragische Ereignis und verkleinert damit auch seine möglichen Schulanteile.


4. Fazit

Die Analyse bestätigt die o.a. These von der 16-jährigen, sehr religiösen, kindlichen Elsa, die sich nach der 1. enttäuschenden Liebesnacht umbringt.   

Sehr auffällig ist die Mitleidslosigkeit des lyrischen Ichs bezüglich dieses tragischen Schicksals, das typisch für die streng religiös-moralische Erziehung der 1960er Jahre ist. Dessen Opfer waren oft Mädchen, die mit diesen kirchlichen Ansprüchen überfordert und hin- und hergerissen waren zwischen z.T. völlig unrealistischen Vorstellungen von wahrer Liebe, kirchlichen Verboten und eigenen sexuellen Bedürfnissen. Diesem Dilemma konnten sie infolge ihrer Kindlichkeit und Unmündigkeit nicht selten nur durch Selbstmord entkommen. Bei aller berechtigten Kritik am Pastor verdrängt das lyrische Ich seine eigenen Schuldanteile, da es hätte wissen müssen, was sein reines Verlangen nach Sex bei Elsa anrichten würde.

Der Autor ist sehr früh (mit 34 Jahren) bei einem Autounfall ums Leben gekommen, hat seine Jugend in Heimen, 13 Jahre wegen vieler Einbrüche im Gefängnis verbracht und ist erst dort zum Dichter geworden. Da er sehr authentisch schreibt, hat er wohl selbst so etwas Ähnliches erlebt. Typisch für ihn ist, dass er seine Erlebnisse meist als Anklagen gegen die Gesellschaft formuliert und eigene Schuldanteile gerne verdrängt.

Das Gedicht richtete sich damals sicher an eine männlich orientierte Zielgruppe, die Schuldabwehr, Sexismus und Kritik an kirchlicher Moral teilte.

Seine Kritik an überstrenger moralischer Erziehung und pastoralem Fehlverhalten ist dennoch berechtigt und zeitlos gültig, wobei es heute z.B. um Zeugen Jehovas u.a. Sekten, aber auch streng muslimische Familien in der BRD geht, in denen Mädchen Opfer von „Ehrenmorden“ werden können.   



10. Jürgen Theobaldy: Schnee im Büro (1976)  

       Eine gewisse Sehnsucht nach Palmen. Hier

       ist es kalt, aber nicht nur. Deine Küsse

       am Morgen sind wenig, später sitze ich

       acht Stunden hier im Büro. Auch du

   5  bist eingesperrt und wir dürfen nicht

       miteinander telefonieren. Den Hörer abnehmen

       und lauschen? Telefon, warum schlägt

       dein Puls nur für andere? Jemand fragt:

       „Wie geht’s?“, wartet die Antwort nicht ab

 10  und ist aus dem Zimmer.


       Was kann Liebe bewegen? Ich berechne

       Preise und werde berechnet. All die Ersatzteile,

       die Kesselglieder, Ölbrenner, sie gehen

       durch meinen Kopf als Zahlen, weiter nichts.

 15  Und ich gehe durch jemand hindurch

       als Zahl. Aber am Abend komme ich zu dir

       mit allem, was ich bin. Lese von

       Wissenschaftlern: auch die Liebe ist

       ein Produktionsverhältnis. Und wo sind

 20  die Palmen? Die Palmen zeigen sich am Strand

       einer Ansichtskarte, wir liegen auf dem Rücken

       und betrachten sie. Am Morgen kehren wir

       ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.

 24  Er hat eine Nummer, wie das Telefon.



Jürgen Theobaldy – zur Person:

Geboren 1944 in Straßburg, aufgewachsen in Mannheim. Zunächst Lehre im kaufmännischen Bereich, dann Gelegenheitsarbeiter, schließlich ab 1966 Studium an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg und Heidelberg. 1970 Lehrerexamen, anschließend Studium der Politologie und Germanistik. Seit Mitte der 70er Jahre freier Schriftsteller, lebt heute in Berlin. Theobaldy verbindet in seiner Lyrik Leben und Literatur, Ideologie und Wirklichkeit miteinander. Er lebt, wie er schreibt, und er schreibt, wie er lebt.


1. Überblicksinformation

Das typische Alltagslyrik-Gedicht „Schnee im Büro“ (1976) von Jürgen Theobaldy (geb. 1944) aus der Epoche der Gegenwartslyrik spiegelt die Gedankenwelt einer in einer festen Partnerschaft in der 1970er Jahren lebenden Person wider, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet.     

Die von nüchternen Zahlen bestimmte Tätigkeit beeinflusst massiv das eintönige Privatleben dieser Person und seine wenig erfüllte sowie emotionsarme Beziehung zum anderen Partner.

Mit dieser restlos durchkalkulierten Welt haben sich - trotz aller Kritik - beide wohl am Schluss abgefunden, da sie morgens wieder zu ihrem Arbeitsplatz im Büro zurückkehren.


2. Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus 2 Strophen, wobei die 1. Strophe aus 10 und die 2. Strophe aus 14 Zeilen besteht. In beiden Strophen befasst sich das lyrische Ich mit der Beeinträchtigung des Privatlebens durch den Büroalltag.    

Während die 1.Strophe die zu kurze Zeit der Zärtlichkeit zu Hause und die Isolation im Büro zeigt, beschreiben die Gedanken des lyrischen Ichs in der längeren 2. Strophe den sein tristes Leben dominierenden Kreislauf vom Büro zum eintönigen Privatleben am Abend und wieder zurück zum Büroalltag am nächsten Morgen.

Das Gedicht weist weder Versmaß noch Reime am Versende auf, was einen sehr unharmonischen, konturlosen, zerfahrenen, unpoetischen Eindruck hinterlässt. Die Ellipsen (Z.1,2,6f.,12f.,14,23f.) zeigen die nur angedeuteten Wünsche und Gefühle des lyrischen Ichs. Viele Metaphern („Schnee im Büro“,Titel; „Palmen“,Z.1; „Es ist kalt“, „Deine Küsse am Morgen sind wenig“, Z.2f.; “Auch du bist eingesperrt“, 4f.; „Telefon, warum schlägt dein Puls nur für andere?“, Z.7f.; „Was kann Liebe bewegen?“ und „Ich berechne und werde berechnet“, Z.11f.; „sie gehen durch meinen Kopf als Zahlen“, Z.13f.; „“Ich gehe durch jemand hindurch als Zahl“, Z.15f.; „Die Palmen zeigen sich am Strand“, Z.20) verdeutlichen Sehnsüchte, aber auch Beziehungslosigkeit und Isolation der Person. Es gibt einen Vergleich (Z.24), 2 Alliterationen (Z.2,16) und eine Verdopplung (Z.20).

Auffällig sind 5 Fragen in beiden Strophen. Die ersten 3 Fragen stellen seinen Büroalltag, die 4. Und 5. sein Privatleben in Frage. Sehr bedeutsam sind die fast durchgängigen Enjambements in beiden Strophen, die den Gedanken meist eine überraschende Wendung geben.

Der Satzbau ist fast nur parataktisch (HS). Es gibt nur einen NS (Z.17). Dies zeigt das einförmige Leben des lyrischen Ichs, das kaum Abwechslung kennt und in den immer gleichen Strukturen gefangen (Z.5) ist.


3. Interpretation

Das lyrische Ich ist wohl ein Mann, da nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“(Z.1), wenig „Küsse am Morgen“(Z.2f.), der „nicht nur“ als „kalt“ (Z.2) empfundene beziehungslose Büroalltag, die wissenschaftliche Lektüre über Liebe als „Produktionsverhältnis“(Z.19) eher männliche Denk- sowie Verhaltensweisen widerspiegeln und die Biografie des Autors auf die Verarbeitung eigener Erlebnisse hinweist (s.u.).

Er befindet sich im Büro und lässt seine Gedanken zu der geliebten Partnerin und ihrem Privatleben abschweifen. Zugleich wird sein durchgeplanter, von Zahlen bestimmter Büroalltag geschildert. Nur „eine gewisse Sehnsucht nach Palmen“ (Z.1) hat das lyrische Ich zu Beginn der 1. Strophe, was zeigt, dass sich sein Verlangen nach Urlaub, Wärme und einer anderen, erfüllteren Welt in Grenzen hält.   

Die Situation „hier im Büro“ (Z.1,4) ist kalt. Das Enjambement in Z.1f. verstärkt noch den Kontrast zwischen Arbeits- und Gedankenwelt. Die Person fühlt sich „8 Stunden“ genauso „eingesperrt“(Z.4f.) wie seine Partnerin.

Deren „Küsse“(Z.2) lassen auf eine innige Beziehung schließen, jedoch wird diese durch das Enjambement „am Morgen sind wenig“ (Z.3) als unzureichend bezeichnet. Die Gedanken an den Beginn des Büroalltags lassen kaum Raum für intensivere Zärtlichkeiten. Dieser ist durch Ge- u. Verbote geregelt.

Die 1. Frage („Den Hörer abnehmen u. lauschen?“, Z.6f.) drückt die Einsamkeit des lyrischen Ichs aus angesichts des Verbots privater Telefonate am Arbeitsplatz. Selbst dieser verständliche Wunsch wird noch durch ein Fragezeichen relativiert, was die Verunsicherung des lyrischen Ichs zeigt.  

Es scheint ihm selbst nicht klar zu sein, worauf es lauschen möchte. Der Puls des Lebens („Telefon“ als Symbol für menschliche Kommunikation und Beziehungen) schlägt nicht für das lyrische Ich, sondern „nur für andere“. Dies wird in die direkt anschließende 2. Frage (Z.7f.) gekleidet, die für die Person nicht beantwortbar und ein hilfloser, verzweifelter Aufschrei ist, aus dieser Isolation auszubrechen. Die 3. floskelhafte Frage („Wie geht’s?“, Z.9) verdeutlicht die Oberflächlichkeit der kollegialen Beziehungen, die von Gleichgültigkeit bestimmt ist. Eine mögliche Antwort wird am Ende der 1. Strophe gar nicht erst abgewartet, da keiner echtes Interesse am wirklichen Befinden des lyrischen Ichs hat.

Die 2. Strophe beginnt mit der rhetorischen und resignativen 4. Frage: „Was kann Liebe bewegen?“ (Z.11), wobei statt einer möglichen Antwort (‘fast nichts’ oder vielleicht sogar ‘nichts’) ein reines, aus der Arbeit abgeleitetes Zahlenwerk folgt, das schließlich eben auch auf das Beziehungsverhältnis übergreift. So wie er Preise berechnet, wird er auch berechnet (Z.1f.), d.h. er wird auch unter Kosten-Nutzen-Aspekten beurteilt. „Ersatzteile“ (Z.12) symbolisieren die Ersetzbarkeit, Austauschbarkeit, fehlende Individualität u. Verdinglichung, die ihm als einziges durch den Kopf geht (Z.13f.) und sein ganzen Denken bestimmt, so dass er sogar selbst „durch jemand hindurch“ (Z.15) geht, diesen also gar nicht richtig wahrnimmt. Das überraschende Enjambement „als Zahl“ (Z.16) zeigt, dass er schon selbst im Büro zu einer anonymen Ziffer geworden ist u. seinen Kollegen nur noch in gleicher (kalkulationsdominierten) Weise begegnen kann.

Das „aber am Abend komme ich zu dir“ (Z.16) lässt nur scheinbar hoffen, dass das lyrische Ich zu Hause diese eintönige, von nüchternen Zahlen bestimmte Bürowelt hinter sich lassen kann, da mit dem erneuten Enjambement („mit allem, was ich bin“, Z.17) deutlich wird, dass die Person die frustrierende Last des Arbeitsalltags mit nach Hause nimmt. Er kann auch im Privatleben nicht abschalten, das durch den Büroalltag weitgehend dominiert wird.

Selbst beim Lesen greift er statt zu entspannender Lektüre zu wissenschaftlichen Büchern, laut denen auch „die Liebe“ den Gesetzen des Marktes gehorcht bzw. von Kosten-Nutzen-Aspekten bestimmt ist, was er wohl resignierend hinnimmt. Seine verzweifelte 5. Frage, wo die Palmen (d.h. die Wünsche und Sehnsüchte nach einem anderen Leben) seien, wird nur scheinbar beantwortet. Sie „zeigen sich am Strand“ (Z20), sind aber für ihn – so das wiederum überraschende und ernüchternde Enjambement in der nächsten Zeile – nur auf „einer Ansichtskarte“ (Z.21), also in weiter Ferne. Beide Partner „liegen auf dem Rücken“ (Z.21). Dies könnte vielleicht ihre Hilflosigkeit (am Boden?!), psychische Erschöpfung (nach dem frustrierenden Arbeitsalltag) oder auch Unfähigkeit symbolisieren, wieder auf die Beine zu kommen. Mit dem Enjambement „und betrachten sie“ (Z.22) wird diese (gewollte) Vermutung dann relativiert, jedoch bleiben beide beim Betrachten einer Ansichtskarte, und nichts deutet darauf hin, dass sie sich ihre Wünsche auch erfüllen.

Hier zeigt sich die Genügsamkeit im abendlichen Miteinander, wenn der Blick auf die Ansichtskarte die vielleicht nicht erfüllende, aber doch hinreichende Abendbeschäftigung ist. Insgesamt leben das lyrische Ich und dessen Geliebte ein leidenschaftsloses, indifferentes, unterkühltes Leben ohne Höhepunkte, auf einem ewig gleichbleibenden mittleren Niveau. Am Morgen „kehren“ beide wieder wie immer „ins Büro zurück, jeder an seinen Platz“ (Z.22f.). Dies bedeutet, dass der/die PartnerIn einen ähnlichen Beruf hat wie das lyrische Ich und wohl ebenso darunter leidet. Mit dieser nüchtern kalkulierten Welt hat sich das lyrische Ich zuletzt, bei aller Kritik, doch abgefunden. Zwar ist diese Welt kalt, „aber nicht nur“ (Z.2).  

Die Erwartungen an das Leben sind insgesamt durch die Bedingungen und Anforderungen des Arbeitsalltags geprägt. Dieser ist als das eigentliche Lebensfeld anerkannt, wenn das lyrische Ich die zentrale Standortbestimmung vornimmt: Nicht zu Hause ist man an seinem Platz. Im Gegenteil. Entlarvend und uneingeschränkt wird festgestellt: „Am Morgen kehren wir jeder ins Büro zurück, jeder an seinen Platz.“ (Z.22f.) Dort ist man zugeordnet seinem nummerierten Platz, seiner Telefonnummer sowie dem eigenen Leben als Zahl, was somit als gegeben und Ausdruck eines scheinbar unabänderlichen Kreislaufes hingenommen wird.  

Der Titel „Schnee im Büro“ weist auf die (gefrorene) Beziehungskälte im Büroalltag hin, die aktive Lebensfreude, Spontaneität und tiefere emotionale Beziehungen auch im Privatleben verhindert.


4. Fazit (mit Bezug zur Biografie des Autors)

Die Analyse bestätigt die These in der Einleitung von dem lyrischen Ich als Person, die unter der Beziehungskälte und Gleichgültigkeit am Arbeitsplatz im Büro leidet, was erhebliche Auswirkungen auf ihr Privatleben hat. Jedoch scheint der Mittelpunkt seines Lebens das Büro und nicht das ebenso unterkühlte Privatleben zu sein. Die Hauptzielgruppe sind daher berufstätige kinderlose Paare, die unter der Beziehungskälte am Arbeitsplatz leiden, so dass auch ihre private Beiziehung dadurch beeinträchtigt wird. Theobaldy, der schreibt, wie er lebt, hat hier laut Selbstaussage eigene frühe Erlebnisse im kaufmännischen Bereich verarbeitet und für sich daraus durch Lehrerexamen und z.B. Politologie-Studium die richtigen beruflichen Konsequenzen gezogen.  

Sehr anschaulich schildert er als Politologe die Verdinglichung des Menschen durch seine Arbeit und möchte meines Erachtens vor der Gefahr warnen, dass infolge die Deregulierung der Gefühle am Arbeitsplatz dieser als sicherer und verlässlicher Zufluchtsort erscheint. Die Entmenschlichung von Arbeit ist auch heute noch angesichts des überall wachsenden negativen Arbeitsstresses aktueller denn je.

Mich hat diese Alltagslyrik sehr berührt, da sie die Auswirkungen des durchkalkulierten Büroalltags auf das Privatleben sehr lebensnah zeigt.



11. Erich Fried: Die mit der Sprache (1972)

       Ich beneide die mit der großen Sprache

       die reden von den Leuten

       als ob es die Leute gäbe

       sie reden vom Vaterland

  5   als ob es ein Vaterland gäbe

       und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit

       als gäbe es alle drei

       Tapferkeit Feigheit Liebe

       und sie reden vom Schicksal

10   als ob es ein Schicksal gäbe


       Und ich bestaune die mit der scharfen Sprache

       die reden von den Leuten

       als ob es sie gar nicht gäbe

       und vom Vaterland

15   als ob es kein Vaterland gäbe

       und von Liebe und von Tapferkeit und von Feigheit

       als wäre es klar

       daß es das alles nicht gibt

       und sie reden vom Schicksal

20   als ob es kein Schicksal gäbe


       Und manchmal weiß ich nicht

       wen ich beneide und wen ich bestaune

       als gäbe es nur Staunen und keinen Neid

       oder als gäbe es nur Neid und kein Staunen

25   als gäbe es nur Größe aber nicht Schärfe

       oder als gäbe es nur Schärfe und keine Größe

       und ich weiß dann nicht ob es

       etwas gibt wie Reden und Wissen

       oder wie Geben und mich

30   nur daß es so nicht geht



Aufgabe:

Analysieren Sie das Gedicht „Die mit der Sprache“ (1972) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.


Lehrererwartungshorizont (LEH)

Der Schüler, die Schülerin

1.1. benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit etc.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für zeitlose gesellschaftskritische Gegenwartslyrik der 70er Jahre dar.


1.2. gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:

oberflächlicher, rein rhetorischer Gebrauch von Sprache besonders bei wertkonservativen + links intellektuellen Politikern am Beispiel des Begriffs „Vaterland“ und dessen emotionale Eigenschaften / Tugenden (Liebe, Tapferkeit, Feigheit)


1.3. beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts,

mit Verweis auf 3 Strophen (je 10 Z.), fehlende Interpunktion, lyrisches Ich, weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime), Zeilensprung (Z.27 f.), These – Gegenthese – Schlussfolgerung (Ablehnung beider Positionen), gleichförmiger Satzbau etc.


1.4. erläutert deren Funktion, z.B. 3-teiliger Aufbau als Erörterungsansatz mit Schlussfolgerung;

Unsicherheit der Positionen wird unterstrichen durch fehlende Interpunktion, Vorbereitung der Schlussfolgerung (Z.30), Hervorhebung der Z.28 durch Enjambement, Gleichförmigkeit der scheinbar konträren Positionen, Unterstreichung der inhaltlichen Ungereimtheiten durch fehlende Endreime etc.


1.5. untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.

Vordergründiger Neid des lyrischen Ichs auf die

-  pathetische Haltung der wertkonservativen Politiker (Z.1-2)

-  Verallgemeinerung der Menschen (Z.2f.)

-  unkritische Annahme eine festen Vorstellung des Begriffs „Vaterland“ (Z.4f., Missbrauch durch Nazis)

-  Zuschreibung von vaterländischen Tugenden (Z.6-8) aus militärischem Bereich (Anklang an NS-Zeit?)

-  Verantwortungsabgabe für NS-Zeit durch inhaltsleeren Schicksalsbegriff (Z.8-10), Fatalismus

Vordergründige Bewunderung des lyrischen Ichs für die

-  scharfe Kritik der radikalen Intellektuellen (Z.11)

-  Missachtung der menschlichen Bedürfnisse (Z.12f.) und des einfachen Volkes

-  Verneinung des Vaterlandbegriffes (Z.14f.) und dessen Zuschreibungen (Verneinung des Staats?)

-  unbedingter Machbarkeitswahn (Z.19f.)

Ablehnung des Ausschließlichkeitsanspruchs der beiden konträren Positionen in Strophe 1 und 2

-  unsichere Einstellung (Z.21-22)

-  Kritik an vorschneller, emotional beeinflusster Übernahme fremder Positionen durch das Volk (Z.21-24)

-  Entlarvung beider Gegenpositionen (scharf/groß) als Scheingegensätze infolge missbräuchlichen Umgangs mit Sprache (Z.25f.)

-   Infragestellung zentraler Wirklichkeitsformen („Reden u. Wissen“, Z.28), des pol. Engagements des Einzelnen und des Verantwortungsbewusstseins der Politiker sowie der Intellektuellen („Geben und mich“, Z.29)

-  Schlussappell: Ablehnung von Positionen mit unbedingtem Wahrheitsanspruch.


1.6. beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.

Emphasen, Parallelismen, Aufzählungen,, Ironie, Anaphern, Klimax, Konjunktiv, indirekte Frage, Als-ob-Konstruktionen, Chiasmus (Z.6-8,23f.,25f.), Scheinwiderspruch (Z.25), Floskeln, Verallgemeinerungen („den Leuten“, Z.2), Alliterationen (Z.4,6,11,14,16,24), Metaphern (Z.1,11) etc.


1.7. erläutert deren Funktionen (z.B.)

- Verstärkung der Gleichartigkeit der scheinbar gegensätzlichen Positionen (Scheinwidersprüche), Entlarvung der Inhaltsleere der pathetischen Redeweisen, Lächerlichmachung der scheinbar überlegenen Positionen,  

- Aufforderung, solche Positionen kritisch zu hinterfragen, Anzweifelung des Realitätgehalts dieser gegensätzlichen Haltungen, Bezug auf anonyme Instanzen; scheinbarer Wohlklang steht im Widerspruch zur Inhaltsleere etc.


1.8. arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.

- Anlass zur kritischen Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf meinungsbildende Instanzen.

- Kritik an Autoritätsgläubigkeit und fehlendem politischen Engagement

- Warnung vor den manipulativen Tendenzen medialer Öffentlichkeit.

- indirekter Appell zur Übernahme von Verantwortung und Selbstbestimmung


1.9. ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.

-  weitgehend apolitische Haltung der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit

-  restaurative (rückwärtsgewandte), konservative Politiker in den 60er Jahren

-  antinationale Haltung der APO, terroristische Radikalisierung durch RAF

-  radikale Ablehnung konservativer Werte wie Vaterland

-  pazifistische (Krieg ablehnende) Grundhaltung der 68er Bewegung


1.10. wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung.

Dabei verweist er/sie z.B. auf zeitlose Aktualität, Verwendung von Floskeln, ästhetische Gestaltung, vergleichbare Texte des Autors / anderer Autoren, die durch Sprache hervorgerufene Autoritätsgläubigkeit etc. Komplizierter Satzbau und Unentschlossenheit (Z.30) entsprechen Komplexität des Problems. Appell an ausgewogene politische / gesellschaftskritische Argumentation.


1.11. setzt sich mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

Dabei verweist er/sie z.B. auf den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs- u. Rezeptionsbedingungen, den Adressatenkreis (Intellektuelle der oberen Mittelschicht, Studenten, Medien = Mainstream) den gesellschaftlichen Einfluss von Dichtern, die Sensibilisierung für eigenes Sprachverhalten, eigene Werthaltungen, gesellschaftliches Handeln etc.

Appell an sprachliche Sensibilität kann nur langfristig Wirkung entfalten; abhängig von öffentlichem Diskurs


12. Erich Fried: Gründe (1966)

       „Weil das alles nicht hilft

       Sie tun ja doch was sie wollen


       Weil ich mir nicht nochmals

       die Finger verbrennen will


  5   Weil man nur lachen wird:

       Auf dich haben sie gewartet


       Und warum immer ich?

       Keiner wird es mir danken


       Weil da niemand mehr durchsieht

10   sondern höchstens noch mehr kaputtgeht


       Weil jedes Schlechte

       vielleicht auch sein Gutes hat


       Weil es Sache des Standpunktes ist

       und überhaupt wem soll man glauben?


15   Weil auch bei den andern nur

       mit Wasser gekocht wird


       Weil ich das lieber

       Berufeneren überlasse


       Weil man nie weiß

20   wie einem das schaden kann


       Weil sich die Mühe nicht lohnt

       weil sie alle das gar nicht wert sind“


       Das sind Todesursachen

       zu schreiben auf unsere Gräber


25   die nicht mehr gegraben werden

       wenn das die Ursachen sind


Aufgabe:

Analysieren Sie das Gedicht „Gründe“ (1966) von Erich Fried. Setzen Sie sich anschließend kurz mit Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung politischer Lyrik auseinander.

Lehrererwartungshorizont (LEH)

Der Schüler, die Schülerin

(1.1.) benennt u.a. die äußeren Publikationsdaten (Autor, Gattung, Entstehungszeit usw.) und stellt das Gedicht als literarisches Beispiel für gesellschaftskritische Lyrik der Gegenwart dar.


(1.2.) gibt das Thema des lyrischen Textes wieder:

- fehlendes politisches und / oder gesellschaftliches Engagement und mögliche Konsequenzen


(1.3.) beschreibt Strukturmerkmale des Gedichts, indem er z.B. verweist auf

- dreizehn zweiteilige Abschnitte (Unglückszahl?!)

- die zweiteilige Gliederung: 11 Doppelzeilen als Zitate und 2 Doppelzeilen als Kommentierung

- den lyrischen Sprecher in der vorletzten Doppelzeile, lyrisches Ich in den Zitaten

- den weitgehenden Verzicht auf traditionelle Gestaltungsmittel (festes Metrum, Endreime)

- Zeilensprünge (Z.3f.,11f.,15f., 17f.), Inversionen (Z.6, 23)

- die Besonderheiten der Interpunktion, Satzbau etc.


(1.4.) erläutert deren Funktion, z.B.

- Anführungszeichen als Abgrenzung

- zweiteilige Gliederung als Ausdruck der Dominanz von Abwehrhaltungen


(1.5.) untersucht die inhaltlichen Aspekte des Gedichts, z.B.

- die resignative und pessimistische Haltung (Z.1f.)

- den Hinweis auf vergleichbare negative Erfahrung in der Vergangenheit (Z.3f.)

- die Erwartung von Spott und Missachtung (Z. 5 - 6)

- den Hinweis auf bereits geleistetes Engagement; Erwartung von Dank (Z.7f.)

- den Verweis auf fehlende Möglichkeiten, komplexe gesellschaftliche Strukturen zu durchschauen (Z.9f.)

- die Relativierung und kritiklose Hinnahme von Missständen (Z.11f.)

- Orientierungslosigkeit (Z.13f.)

- Bagatellisierung und Verharmlosung der Situation (Z.15f.)

- den Rückzug aufgrund vermeintlich fehlender Kompetenz (Z.17f.)

- die Sorge um negative Konsequenzen (Z.19f.)

- Ablehnung von Engagement aufgrund fehlender Wertschätzung anderer (Z.21f.)

- die Entlarvung der „Gründe“ als „Todesursachen“ durch den lyrischen Sprecher (Z. 23-26)


(1.6.) beschreibt sprachliche Gestaltungsmittel, z.B.

die Aneinanderreihung von Einzeläußerungen (direkte Rede), die Dominanz und Wiederholung der Kausalkonjunktion „weil“, Konditionalsatz in der letzten Zeile, die indefiniten Pronomen  „man“, „niemand“, „sie“, „sie alle“, Redensarten, Floskeln, Formulierungen mit negativer Konnotation, Metaphern, Ellipsen, Anaphern, rhetorische Fragen, Alliterationen (Z.3,4,7,26,), Ironie (Titel!)


(1.7.) erläutert deren Funktionen. z.B.

- den Eindruck der Unmittelbarkeit und Authentizität der Aussagen (direkte Rede)

- der vordergründige Bezug auf anonyme Instanzen (Pronomen)

- die Entlarvung der „Gründe“ als „Todesursachen“, die eine tatsächliche kausale Bedeutung erlangen (Wechsel von Kausalsätzen zum Konditionalsatz)


(1.8.) arbeitet mögliche Intentionen heraus, z.B.

- Entlarvung der „Gründe“ als Ausreden und Vorwände

- Anlass zur kritischen Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf (kommunikative) Gewohnheiten

- Kritik an Passivität und fehlendem gesellschaftspolitischen Engagement

- Warnung vor den Konsequenzen fehlender Mitwirkung und Mitverantwortung

- indirekter Appell zur Übernahme von Verantwortung


(1.9.) ordnet den lyrischen Text in den historischen Kontext seiner Entstehungszeit ein, z.B.

- das zunehmende Militärengagement der USA im Vietnam-Krieg (1964-1973)

- die Anfänge der Studentenbewegung und antiamerikanischen Protestbewegung

- weitgehend apolitische Haltung der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit


(1.10.) wertet Inhalt und Gestaltung des lyrischen Textes mit Blick auf Intention/Wirkung;

dabei verweist er/sie z.B. auf

- die Verwendung von Floskeln und Redensarten

- das Fehlen eines konkreten kommunikativen Bezugsrahmens / zeitlose Aktualität

- Korrespondenztexte des Autors / anderer Autoren

- die ästhetische Gestaltung


(1.11.) setzt sich mit Möglichkeiten u. Grenzen der Wirkung pol. Lyrik auseinander; dabei verweist er/sie auf

den Utopie Gehalt von Gedichten, Entstehungs- und  Rezeptionsbedingungen, Adressatenkreis, gesellschaftlichen Einfluss von Dichtern, die Sensibilisierung für eigenes Sprachverhalten, eigene Werthaltungen und gesellschaftliches Handeln etc.



13. Heinrich Heine: Zur Beruhigung (1844)

       Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief –

       Doch jener erwachte und bohrte tief

       In Cäsars Brust das kalte Messer!

       Die Römer waren Tyrannenfresser.

  

  5   Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.

       Ein jedes Volk hat seinen Geschmack,

       Ein jedes Volk hat seine Größe;

       In Schwaben kocht man die besten Klöße.

 

       Wir sind Germanen, gemütlich und brav,

10   Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,

       Und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,

       Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.

 

       Wir sind so treu wie Eichenholz,

       Auch Lindenholz, drauf sind wir stolz;

15   Im Land der Eichen und der Linden

       Wird niemals sich ein Brutus finden.

 

       Und wenn auch ein Brutus unter uns wär,

       Den Cäsar fänd er nimmermehr,

       Vergeblich würd’ er den Cäsar suchen;

20   Wir haben gute Pfefferkuchen.


       Wir haben sechsunddreißig Herrn

       (Ist nicht zuviel!), und einen Stern

       Trägt jeder schützend auf seinem Herzen,

       Und er braucht nicht zu fürchten die Iden des Märzen.


25   Wir nennen sie Väter, und Vaterland

       Benennen wir dasjenige Land,

       das erbeigentümlich gehört den Fürsten;

       Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.


       Wenn unser Vater spazieren geht,

30   Ziehn wir den Hut mit Pietät;

       Deutschland, die fromme Kinderstube,

       Ist keine römische Mördergrube.



Interpretation einer Schülerin (Gymnasium, Klasse 13)

Das von Heinrich Heine im Jahr 1844 veröffentlichte Gedicht „Zur Beruhigung” beschäftigt sich mit den politischen Problemen in Deutschland zu der Zeit, vor allem mit der Einstellung zum Deutschen Bund und richtete sich an das deutsche Volk während dieser vorrevolutionären Phase. Liest man das Gedicht zum ersten Mal, so könnte man denken, dass es einfach nur dazu dient, den Fürsten die Angst vor einem Umsturz zu nehmen. Jedoch erkennt man beim genaueren Lesen die Ironie, die hier vom Schriftsteller verwendet wurde, was typisch für viele Werke dieses Lyrikers ist. In dieser Dichtung verdeutlicht der Autor die Situation in Deutschland im Jahre 1844, also kurze Zeit vor der Märzrevolution. Heine strebt einen Vergleich des deutschen Volkes mit den Römern an, die er als Tyrannenmörder bezeichnet. Davon ausgehend macht er, unter vollem Gebrauch von seinem bekannten Sarkasmus und Ironie, deutlich, dass sich die Deutschen im Vormärz genauso verhalten haben.

„Zur Beruhigung” besteht aus 8 Strophen zu je 4 Zeilen, welche dem Reimschema aabb folgen (Paarreim). In der ersten Strophe leitet Heine das Gedicht ein, indem ein Vergleich der beiden Völker gezogen wird („Wir schlafen ganz, wie Brutus schlief -”, Z.1). Mit „Wir” bezeichnet er das gesamte deutsche Volk, welches schläft und somit auch keine Gefahr von ihm ausgeht. Dies ist eine Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen. Mit dem Gedankenstrich am Ende der 1. Zeile wird wiederum eine Betonung auf das Verb „schlief” gelegt, das, obwohl es auf Brutus bezogen ist, durch den Vergleich auch eine Aussage über die Deutschen trifft. Auch stellt er diese mit den Mördern Cäsars gleich. Allerdings ändert sich dies in der zweiten Zeile, indem ein „Doch” (Z. 2) eingeworfen und somit verdeutlicht wird, dass Unterschiede vorhanden sind. Heine schreibt, dass „jener” (Brutus) „erwachte und bohrte” (Z. 2). Der erwachende Brutus ist gleichzustellen mit dem hoffentlich bald erwachenden deutschen Volk und das „Bohren” stellt eine Metapher für das Erdolchen der Herrscher dar. In der letzten Zeile der 1. Strophe folgert der Autor aus dieser Aktion, dass die Römer Tyrannenfresser waren und somit vor einem Mord nicht zurückschreckten, um sich damit eines unangenehmen Machthabers zu entledigen.

In der zweiten Strophe wird der zuvor angedeutete Unterschied direkt angesprochen: „Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.” (Z. 5). Damit verdeutlicht Heine, dass „Wir” keine Römer seien und daher auch keine Tyrannenfresser, sondern ein kultiviertes und zivilisiertes Volk, das Tabak raucht und sich den sinnlichen Begierden hingibt. In den nächsten beiden Zeilen spricht das lyrische Ich nicht von den Deutschen oder den Römern, sondern von Völkern allgemein. Dass „jedes Volk (…) seinen Geschmack” (Z. 6) und „seine Größe” (Z. 7) hat. Von der „Größe” kann man auch auf den Mut oder die Angst bezüglich eines Widerstandes gegen die Staatsmacht schließen. Die letzte Zeile der 2. Strophe (Z. 8 „In Schwaben kocht man die besten Klöße.”) ist wie ein plötzlicher Einwurf, und zwar ohne Zusammenhang zu den vorherigen Zeilen und hier nicht nur fehl am Platz, sondern auch noch vollkommen belanglos. Es wirkt daher eher als ein Mittel, die zuvor erläuterten Auffassungen ins Lächerliche zu ziehen. Somit wird der Sarkasmus aufgezeigt, der in fast jeder Zeile vorhanden ist. Aus diesem Grund müssen die ersten Strophen unter ein anderes Licht gestellt werden, und so kann man nun darauf schließen, dass Heine dem deutschen Volk zumindest das Potenzial zu einer Revolution einräumt.

Eine weitere Anspielung auf den Untertanengeist der Deutschen wird in der 3. Strophe durch die Äußerung „Wir sind Germanen, gemütlich und brav, / Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,” (Z.9-10) noch verstärkt, denn Pflanzen ist es nicht möglich zu schlafen/denken. Die wirkliche Bedeutung liegt jedoch darin, dass sich die Deutschen wahrscheinlich sehr intensiv mit den damaligen Geschehnissen auseinandersetzten. Es scheint, als spielt Heine auf die deutsche Treue an, die das Volk veranlasst, nie Hand an ihre Staatsoberhäupter zu legen. Aber wenn man den vom Autor so typischen Sarkasmus berücksichtigt, wird das genaue Gegenteil ausgesagt, sprich, dass es den Deutschen sehr wohl nach dem Blute ihrer Fürsten dürstet.

Die 4. Strophe führt den Gedanken der Treue fort durch „Wir sind so treu wie Eichenholz” (Z. 13). Eichenholz ist sehr beständig und hart. Dies könnte eine der ganz seltenen Stellen sein, in der Heine keinen Sarkasmus zu verstecken versucht. Jedoch wird eine Zeile weiter die deutsche Treue mit „Lindenholz” (Z. 14) verglichen. Lindenholz ist leicht verformbar und leicht zu bearbeiten. Es scheint also, als ob die deutschen Seelen und Geister Wachs in den Händen der Herrscher seien und deswegen kein „Tyrannenfresser” (Z. 4) unter diesen zu finden sei.

Die folgende Strophe ist auf zwei Arten zu deuten. Denn „Und wenn auch ein Brutus unter uns wär, / Den Cäsar fänd er nimmermehr, / Vergeblich würd er den Cäsar suchen;” kann sich entweder auf das politische Problem beziehen, dass die Fürsten zu viel Macht haben und ein „Brutus” niemals an diese herankommen könnte. Oder es soll auf die territoriale Situation der Partikularstaaten hinweisen, die zu viele „Cäsaren” (Fürsten) haben, und somit einem „Brutus” das Auffinden des Cäsaren unmöglich macht. Ein Anschlag auf einen höchsten Herrscher könnte es so nicht geben, da es einen solchen Führer ebenfalls nicht gibt und sich viele Fürsten die Gewalt über das eigentliche deutsche Herrschaftsgebiet teilen. Dies erweckt den Eindruck, dass Heine gegen die Vielstaaterei klagt und für einen einheitlichen Machthaber ist. Weiterhin kritisiert er, dass die Fürsten nicht mehr sind wie Cäsar. Cäsar festigte die römische Weltmachtstellung, gründete zahlreiche neue Kolonien, stellte die Wirtschaft auf eine gesunde Grundlage, begann zahlreiche bedeutende Bauwerke, ließ Rechte erfassen und führte den Julianischen Kalender ein. Die Fürsten waren im Deutschen Bund jedoch mehr an der Sicherung ihrer fürstlichen Rechte, als am Aufbau eines einheitlichen Nationalstaates interessiert. Mit „Wir haben gute Pfefferkuchen” (Z. 20) wirft der Autor wieder eine zusammenhangslose Zeile ein und zieht somit wieder alles zuvor Genannte ins Lächerliche.

In der 6. Strophe geht der Schriftsteller weiter auf das Thema der Kleinstaaterei ein, indem er mit den „sechsunddreißig Herrn” (Z. 21) beginnt, womit alle Fürsten der deutschen Staaten gemeint sind. Im darauf folgenden Vers zeigt Heine durch die äußerliche Gestaltung einer Zeile seinen Sarkasmus sehr deutlich auf, wie in keinem der restlichen Teile des Gedichts. Indem er „(Ist nicht zu viel!“, Z. 22) durch die Setzung der Klammern und des Ausrufezeichens versieht, hebt er somit noch einmal seine Meinung zur damaligen territorialen Lage hervor. Danach setzt er mit den Worten fort „und einen Stern/trägt jeder schützend auf seinem Herzen”, (Z. 22f.). Dieser „Stern” bezieht sich auf die Fürsten und stellt deren Adels- und Machtanspruch dar. Dazugehörig wird in Zeile 23 und 24 hinzugefügt, dass dieser sie beschütze und sie daher keine Furcht vor den Ideen des Vormärz haben müssen. Doch dies ist wieder nur eine von Ironie gespickte Textpassage von Heine, denn die revolutionären Gedanken richteten sich vor allem gegen die Regentschaft, die Machtgrundlagen und die Prinzipien des Adels.

Fortfahrend beschäftigt sich die vorletzte Strophe wieder mit der Thematik der Rolle der Fürsten und bezeichnet sie als „Väter” (Z. 25). Weiterhin benennt der Autor das Land, welches den Fürsten „erbeigentümlich” (Z. 27) gehört, als „Vaterland” (Z. 26). Dies ist wieder sarkastisch gemeint und soll einen falschen Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, darlegen. Denn wie kann EIN Volk, das deutsche Volk, zu mehreren Vaterländern zugehörig sein!? Zudem wird auch kritisiert, dass ein großes Land in mehrere Eigentümer unterteilt ist, denn es sollte eine Einheit sein, die auch dementsprechend regiert wird. Dies lässt auf eine demokratische Lösung der politischen Probleme in Deutschland schließen. Danach folgt in Zeile 28 zum dritten Mal eine Verspottung („Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.”), die wieder vollkommen zusammenhangslos eingefügt wurde und ein Fingerzeig Heines auf seinen Sarkasmus darstellt.

Die 8. und letzte Strophe von „Zur Beruhigung” steht nicht im direkten Zusammenhang zur vorherigen und bildet somit einen deutlich abgegrenzten Abschluss. Sie beginnt mit der Zeile 29-31 („Wenn unser Vater spazieren geht, / Ziehn wir den Hut mit Pietät;”) sehr ruhig und ausgeglichen, sogar fast idyllisch. Jedoch wirkt der letzte Vers im totalen Gegensatz dazu und zerstört die vorher aufgebaute Harmonie. Der „deutschen Kinderstube” (Z. 31) wird nun die „Mördergrube” (Z. 32) gegenübergestellt. Die Zeile 32 „Ist keine römische Mördergrube.” wirkt jedoch so sarkastisch, dass es schon fast wie ein Aufruf zu einer Revolution klingt.

Heinrich Heine schuf meiner Meinung nach ein Leitbild für alle politischen Gedichte. Er schrieb nicht nur einen plumpen Aufruf an das deutsche Volk, dass sie endlich „ihren Hintern hoch bekommen und Widerstand leisten sollen”, sondern er verpackt es viel überlegter und anspruchsvoller durch seinen Sarkasmus. Somit übt er mittels seiner wunderbar unterschwelligen Botschaften schwerste Kritik an der politischen Situation seines Vaterlandes in der Zeit des Vormärz. Mit seiner scharfzüngigen und brillanten Dichtung über den Zustand seiner Heimat, zeigt er dem Volk seine Fehler durch ironisch, verpönende Weise auf und gab ihm Anlass sich zu erheben. Schlussfolgernd ist zu sagen, dass der Titel des Gedichts „Zur Beruhigung” schon allein Ironie ist, denn für die damaligen Herrscher wird es alles andere als beruhigend gewesen sein.



14. Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1962)

       soll der geier vergißmeinnicht fressen?
       was verlangt ihr vom schakal,
       daß er sich häute; vom wolf? soll
       er sich selber ziehen die zähne?


  5   was gefällt euch nicht
       an politruks und an päpsten,
       was guckt ihr blöd aus der wäsche
       auf den verlogenen bildschirm?

       wer näht denn dem general
10   den blutstreif an seine hosen? wer
       zerlegt vor dem wucherer den kapaun?
       wer hängt sich stolz das blechkreuz
       vor den knurrenden nabel? wer
       nimmt das trinkgeld, den silberling,
15   den schweigepfennig? es gibt
       viel bestohlene, wenig diebe; wer
       applaudiert ihnen denn, wer
       lechzt denn nach lüge?

       seht in den spiegel: feig,
20   scheuend die mühsal der wahrheit,
       dem lernen abgeneigt, das denken
       überantwortend den wölfen,
       der nasenring euer teuerster schmuck,
       keine täuschung zu dumm, kein trost
25   zu billig, jede erpressung
       ist für euch noch zu milde.

       ihr lämmer, schwestern sind,
       mit euch verglichen, die krähen:
       ihr blendet einer den andern.
30   brüderlichkeit herrscht
       unter den wölfen:
       sie gehen in rudeln.

       gelobt sei´n die räuber; ihr,
       einladend zur vergewaltigung,
35   werft euch aufs faule bett
       des gehorsams, winselnd noch
       lügt ihr, zerrissen
       wollt ihr werden, ihr
39   ändert die welt nicht mehr.

  

  

Kurzinterpretation eines Schülers (Klasse 13)

In seinem 1962 verfassten Gedicht "verteidigung der wölfe gegen die lämmer" klagt Hans Magnus Enzensberger den durchschnittlichen, politisch nicht engagierten, aber wirtschaftlich benachteiligten Arbeitnehmer an, indem er ihn unter Rückgriff auf Metaphern bewusst macht, dass er seine Opferrolle gegenüber den politisch wie wirtschaftlich Mächtigen selbst verschuldet, weil er durch sein Handeln ihre Machtausübung erst ermöglicht.

Zur formalen Seite lässt sich sagen, dass das Gedicht ohne Reim auskommt und in freien Metren verfasst ist, so dass die Einteilung der 40 Zeilen in fünf tendenziell kürzer werdende Abschnitte nur dazu dient, Absätze von der Qualität gedanklicher Einschnitte zu schaffen. Auffällig ist die Kleinschreibung aller Wörter, in Hinblick auf Interpunktion und Syntax genügt Enzensberger weitgehend den gängigen Regeln der Prosasprache.

Enzensberger beginnt seinen Gedankengang – man könnte mit Blick auf die Überschrift von einem Plädoyer sprechen – mit einer geballten hintereinander Reihung rhetorischer Fragen, die sich an den vielzitierten „kleinen Mann“ in unserer Gesellschaft richten, der sich beim Ansehen der Fernsehnachrichten über die großen Einflussträger in Politik, Wirtschaft und auch Gesellschaft („politruks und päpste“) empört. Durch seine Eingangsfragen, in denen Enzensberger die Mächtigen bildlich als Geier, Schakal und Wolf darstellt, will er dem entrüsteten Kleinbürgertum verdeutlichen, dass man von "denen da oben" einfach nicht erwarten kann, dass sie sich aus eigenem Antrieb ändern, also „sich selber ... die Zähne [ziehen]“. Schließlich liegt es ja in der Natur eines Geiers und Schakals, Aas zu fressen und die Gefährlichkeit des Wolfes ist ebenfalls in seinem Wesen als Raubtier begründet.

Im zweiten Abschnitt erfolgt die grobe Übertragung dieser Tiersymbolik auf gesellschaftliche Verhältnisse: Nachdem sich die Kritik am „blöden“ Betrachter des „verlogenen bildschirms“ schon am Ende des ersten Abschnitts gesteigert hat, prangert der Autor nun – wiederum mit vielen rhetorischen Fragen – das Verhalten der Kleinbürger als systemtragend und damit für die Unrechtsausübung der Machthaber förderlich an. Die Begriffe „general“, „wucherer“, „blechkreuz“ etc. sind hier jeweils als pars pro toto zu verstehen. Sie repräsentieren moralisch negativ behaftete gesellschaftliche Kräfte (Militär, Großkapital), die jedoch erst in Interaktion mit den breiten Gesellschaftsschichten unter ihnen wirksam werden können. So können beispielsweise die militärischen Werte Hierarchie, Ehre und Tapferkeit (symbolisiert durch "blutstreif" und „blechkreuz“) nur auf der Grundlage breiter gesellschaftlicher Anerkennung bestehen („...wer applaudiert ihnen denn, wer steckt die abzeichen an, ...“). Die Frage „wer hängt sich stolz das blechkreuz vor den knurrenden nabel?" kann als historische Bezugnahme auf den teilweise fanatischen Einsatz deutscher Wehrmachtssoldaten gedeutet werden, die sich über ihren körperlichen Mangel aufgrund Unterversorgung mit Nahrungsmitteln durch militärische Ehrenabzeichen hinwegtrösten ließen. Mit dem bewusst abwertend-sachlichen Ausdruck „blechkreuz“ meint Enzensberger offenbar das „Eiserne Kreuz“ oder ähnliche Orden.

Aber auch im wirtschaftlichen Bereich machen diejenigen, die sich unterprivilegiert fühlen, sich in Wahrheit zu Sekundanten und Wasserträgern der Privilegierten. Sie ordnen sich den ökonomischen Strukturen unter womit sie sich selbst schaden, indem sie es den Reichen ermöglichen, den Reichtum auf ihre Kosten noch weiter auszubauen. Dabei lassen sie sich mit einem „trinkgeld“ abspeisen und mit einem „schweigepfennig“ ruhigstellen. Aus der Feststellung „es gibt viele bestohlene, wenig diebe“ spricht wohl die vom Linksradikalen Enzensberger aus der marxistischen Ideologie entnommene Vorstellung von der zwangsläufigen Akkumulation von Kapital in den Händen weniger auf der einen Seite und vom Elend der Massen auf der anderen. Dies kann nach Marx nur so lange „gutgehen“ wie ein ideologischer Überbau die Gesellschaft zusammenhält und somit eine Revolution des Proletariats verhindert. Was Enzensberger nun den Benachteiligten dieser Entwicklung vorwirft – wie es auch Bertolt Brecht in seinen Werken zu tun pflegt – ist das bereitwillige Festhalten an dieser falschen Ideologie ("..., wer lechzt nach der lüge?").

Im dritten Abschnitt wird dieser systemerhaltende Mechanismus und vor allem der Beitrag, den die Kleinbürger dazu leisten, schonungslos konkretisiert: Aus Feigheit und Bequemlichkeit verzichten sie auf eine eigene aufrichtige Wahrheitssuche und überlassen das Denken ihren Ausbeutern, den „wölfen“. Sie sind leicht zu führen („der nasenring euer teuerster schmuck, ...“) und zufriedenzustellen („keine täuschung zu dumm, kein trost zu billig, ...“).

Eine sprachliche Auffälligkeit in diesem Abschnitt ist der gehäufte Gebrauch von Partizipien („scheuend“, „abgeneigt“, „überantwortend“) und die hintereinander Reihung von durch Kommata abgetrennten Ellipsen („der nasenring...billig,...“). Das verstärkt die Eindringlichkeit des negativen Bildes, das hier vom einfachen, politisch passiven Arbeiter gezeichnet wird, weil viele Eigenschaften auf engem Raum gebündelt präsentiert werden und man – aufgrund des sperrigen Satzbaus – nicht so leicht über diese Stelle hinwegliest.

Aus diesem letzten Grund nimmt Enzensberger vermutlich auch im ersten Satz des dritten Abschnitts eine Inversion vor: „..., schwestern, mit euch verglichen, die krähen: ...“.

Nachdem schon zuvor die Erwähnung der Wölfe in der Rolle der wirtschaftlichen Ausbeuter und politisch Mächtigen den Bezug zum Titel hergestellt hat, werden jetzt entsprechend die Leser, an die der Autor das Gedicht adressiert, als „lämmer“ direkt angesprochen. Diesen wirft der Autor vor, sich im Grunde weniger sozial als Krähen und Wölfe („sie gehen [immerhin] in rudeln“) zu verhalten, da sie sich gegenseitig eine gesellschaftliche Moral vorgaukeln („ihr blendet einer den andern“).

Den letzten Abschnitt leitet Enzensberger mit dem provokativen Satz „gelobt sein die räuber“ ein. Dies meint er nicht wörtlich, sondern nur im Vergleich zur völlig passiven, bereitwilligen und im größten Leiden noch verlogenen Handlungsweise der Opfer.

Der deutliche Übertreibungscharakter dieser Schlusssätze („einladend zur vergewaltigung“, „zerrissen wollt ihr werden“) ermöglicht eine eindringliche, komprimierte Zusammenfassung des Kernproblems, das den Gegenstand des Gedichts bildet: Das Proletariat trägt die Schuld an seiner benachteiligten Situation, weil ihm der Wille zur Veränderung der Welt fehlt, nicht aber die Macht.

Vor diesem Hintergrund ist das Gedicht als eine sozialrevolutionäres Werk einzuschätzen, das die Unterprivilegierten zum Erkennen ihrer eigenen Situation und zum gemeinsamen Ändern der Umstände auffordert (im Sinne des alten Arbeiterliedes „Mann der Arbeit, aufgewacht \ und erkenne Deine Macht! \ Alle Räder stehen still \ wenn Dein starker Arm es will...“).

Das Gedicht ist handwerklich geschickt gestaltet und könnte – rein von der Versprachlichung her – eine große Überzeugungswirkung haben, wenn auch die inhaltliche Argumentation viele Ansatzpunkte zur Kritik bietet, da sie sehr undifferenziert von der marxistischen Grundhaltung ausgeht.



15. Erich Fried: Spruch (31.12.1945)

1     Ich bin der Sieg

2     mein Vater war der Krieg

3     der Friede ist mein lieber Sohn

4     der gleicht meinem Vater schon



Erich Fried – zur Person:

Erich Fried, geboren 1921 in Wien war ein österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist jüdischer Herkunft. Nach dem Tod seines Vaters Hugo 1938, verursacht durch Folterungen während eines Verhörs durch die Gestapo, wanderte Fried mit seiner Mutter aus dem mittlerweile an Deutschland angegliederten Österreich nach London aus. Dort schlug er sich während des Krieges mit Gelegenheitsarbeit durch und arbeitete anschließend für verschiedenste neue Zeitschriften. Fried war politisch sehr engagiert. So trat er dem „Freien Deutschen Kulturbund“, „Young Austria“, sowie später auch dem „Kommunistischen Jugendverband“ bei, den er allerdings 1943 aufgrund stalinistischer Tendenzen wieder verließ. Von 1952 bis 1963 arbeitete Fried als politischer Kommentator für den German Service der BBC. Seinen ersten Gedichtband, die antifaschistische Lyrik-Sammlung „Deutschland“, erschien 1944. Im Jahr 1963 trat er der durch Hans-Werner Richter gegründeten literarischen Gruppe 47 bei. Nach 1968 engagierte er sich insbesondere in Deutschland schriftstellerisch und politisch. 1988 verstarb der Lyriker in Baden-Baden an Darmkrebs.


2 Kurzinterpretationen  

1. In dem Gedicht „Spruch“ von Erich Fried (1921-1988), das er 1945/46 auf einer Neujahrkarte

verschickte, behandelt der Autor die Beziehung von Krieg und Frieden. Das Gedicht gehört zur Nachkriegsliteratur, was sich auch in der behandelten Thematik Krieg/Frieden zeigt.

In seinem Gedicht „Spruch“ stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden konträren Punkten „Krieg“ und „Frieden“ her. In diesem Vergleich stellt der „Krieg“ den Vater und der Friede dessen Enkel dar. Das lyrische Ich, der „Sieg", versteht sich als Übergang, der beide verbindet. Bedenklich scheint dem Sprecher die politische Situation: Der Friede nehme bereits erneut die Gestalt des Krieges an.

Das kurze Spruch- Gedicht hat vier Zeilen, die in Form von Paarreimen organisiert sind. Die Zeilen haben kein einheitliches Metrum. Die Sätze, die ausschließlich Aussagen darstellen, sind einfach strukturiert und verwenden eine schlichte, verständliche Sprache. Satzzeichen tauchen nicht auf. Der Charakter des Gedichtes ist ein einfacher Spruch, wie bereits der Titel des Gedichtes vermuten lässt. „Spruch“, das lässt an Kalendersprüche oder knapp formulierte Lebensweisheiten erinnern. Dieser Vierzeiler soll einfach zugänglich und leicht zu behalten sein, weswegen eine gehobene Sprachwahl nicht sinnvoll erscheint.

Fried verwendet in seinem Gedicht eine Reihe von Personifikationen. So stellt er „Sieg" (Z.1) als lyrische Ich, den „Krieg“ (Z. 2) als dessen Vater und den „Frieden“ (Z. 3) als den Sohn des lyrischen Ichs dar. Indem er Krieg und Frieden gegenüberstellt bedient sich der Dichter einer Antithese, die er in Form eines Vergleiches formuliert. Damit stellt der Autor eine Verbindung zwischen den beiden gegensätzlichen Dingen „Krieg“ und „Frieden“ her. Diese Verbindung kommt über die Komponente „Sieg“ zustande. Das bedeutet, dass am Anfang der Krieg in Form desVaters stand. Dieser brachte das lyrische Ich, somit den Sieg, hervor. Dieser wiederum zeugte einen Sohn und zwar den Frieden.

Abschließend schreibt Fried: „Der [Sohn] gleicht meinem Vater schon“ (Z. 4). Das bedeutet, dass der Sohn dem Großvater, also der Friede dem Krieg, immer ähnlicher werde. Damit stellt der Autor die These auf, Krieg und Frieden seien keine Gegensätze, sondern sich ähnelnde Dinge. Aus Krieg werde durch den Sieg einer Partei Frieden, der nach einiger Zeit wieder zu einem neue Krieg führe.

Diese gesellschaftskritische These ist ein Resultat der Erlebnisse und Erfahrungen Frieds während des Zweiten Weltkriegs, als er vor den Nationalsozialisten, die bereits seinen Vater umgebracht haben, nach London flüchtet, wo er den Krieg erlebt. Es zeigt sich, dass der Autor dem Frieden nicht traut. Diese lässt sich an der Phase zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg veranschaulichen. Dort ist aus dem Frieden, der dem Deutschen Reich diktiert wurde, ein neuer Krieg entstanden.

Das Gedicht „Spruch“ ist ein typisches Beispiel für ein Gedicht des politisch sehr engagierten Erich Fried, in dem er in der literarischen „Stunde Null“ den eigenen politischen Standpunkt und seine Befürchtungen verarbeitet.

2. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ ist uns von Heraklit von Ephesus (ca. 500 v. Chr.) überliefert. Und auch Erich Fried bezeichnet in seinem „Spruch“ aus dem Jahre 1945 den Krieg als den Vater des Sieges, verkörpert durch das lyrische Ich, und als den Großvater des Friedens.

Während Heraklits Sentenz auf den ersten Blick und ohne Kenntnis seiner Philosophie schwierig zu erschließen ist, schafft Fried in seinem Vierzeiler ein sofortiges Verständnis beim Leser, indem er Heraklits Familien-Analogie weiterführt und ein ausgeprägtes Porträt der Familie menschlicher Lauf der Dinge liefert. Denn nicht weniger beschreibt der Spruch als den Gang der Welt seit Menschengedenken.

Zum Neujahrswechsel 1945/46 versandte Fried den Spruch auf einer Postkarte an seine Freunde. Ein pessimistischer Neujahrgruß, ein halbes Jahr nach Ende des blutigsten aller jemals gefochtenen Kriege. Der geborene Jude Fried verfolgte das Kriegsende von London aus, nachdem er 1938, auf den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland hin, aus Wien geflohen war.

Großbritannien gehörte zu den Siegermächten des zweiten Weltkrieges, doch die Menschen litten Not. Vor allem für überlebende Juden war der Untergang der Nazis kaum als Sieg über jene zu bezeichnen, in Anbetracht der grausamen Vergehen an Familienmitgliedern und Freunden. Schon die erste Zeile entpuppt sich demnach im historischen Kontext als ambivalent. Ein Sieg ist nicht immer glücklich, ein Sieg macht nicht immer glücklich.

Ein Sieg folgt immer auf einen Krieg bzw. Konflikt – auch Heraklits „Krieg“ ist in diesem allgemeinen Sinne zu verstehen: Das altgriechische Wort „polemos“ kann auch Kampf, Konflikt bedeuten; und auf einen Sieg folgt immer eine kurze oder lange Periode des Friedens. Krieg und Frieden wechseln sich also immer ab, denn nach dem Frieden steht irgendwann wieder der Krieg vor der Tür, der dem Frieden nach Fried sogar „gleicht“.

Diese Periodizität zweier Zustände finden wir nicht nur in Krieg und Frieden, Vater und Sohn, sondern in vielfältiger Weise im natürlichen Lauf der Dinge. Tag und Nacht wechseln sich ab, Sommer und Winter, Warmzeit und Eiszeit. Abstrakt lässt sich von einem Dualismus der Prinzipien Konstruktion und Destruktion sprechen, und vor allem am zweiten Weltkrieg ist dies sehr anschaulich. Fried prophezeite also eine Periode des Friedens, und diese war eine Phase des Wiederaufbaus, der Konstruktion. Nachdem die Kriegsmächte ihre Städte im zweiten Weltkrieg gegenseitig zerbombt, also destruiert hatten, bauten sie sie nach 1945 wieder auf.

Die verheerende Zerstörung Deutschlands war überhaupt die Voraussetzung für einen Neuanfang zur Stunde Null und somit für das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre.

Frieds Spruch ist also sehr realistisch; gleichzeitig aber auch pessimistisch, weil er pünktlich zum ersten Friedensjahr einen neuen Krieg prophezeit, indem er die Ereignisse in einen unentrinnbaren, weil natürlichen Kreislauf stellt. Das lapidare Auslassen von Satzzeichen verstärkt den fatalistischen Charakter des Gedichts. Denn was nützt (deutsche) Korrektheit schon, wenn es um Leben und Tod geht. Frieds Erkenntnis scheint banal, was unterstützt wird durch den pauschalen Titel und den einfachen Paarreim, doch sie ist eminent zum Verständnis der Welt.

Dazu lohnt es, das Gedicht aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ein Sohn erfordert Vater und Großvater, ohne Großvater kein Enkel. Stellen wir uns eine Welt vor ohne Krieg, ohne Streit, ohne Konflikt. Wer wüsste in einer solchen Welt den Wert von Frieden und Harmonie zu schätzen?

Sobald etwas selbstverständlich ist, schätzen wir es nicht mehr. Gäbe es keine Krankheiten auf der Welt, so gäbe es auch keine Gesundheit, weil Gesundheit nur aus ihrem Kontrastpartner ihre Existenzberechtigung schöpft. Darf ich meinen (Groß)Vater überhaupt verurteilen? Verdanke ich ihm doch meine Existenz!

Diese dialektische Weltsicht lohnt es sich, gerade in Friedenszeiten wie unserer, immer wieder vor Augen zu führen. Das Gute ist nicht selbstverständlich, und es ist nur gut, weil es auch Schlechtes gibt.



16. Erich Fried: Was es ist (1979)

       Es ist Unsinn

       sagt die Vernunft

       Es ist was es ist

       sagt die Liebe


  5   Es ist Unglück

       sagt die Berechnung

       Es ist nichts als Schmerz

       sagt die Angst

       Es ist aussichtslos

10   sagt die Einsicht

       Es ist was es ist

       sagt die Liebe


       Es ist lächerlich

       sagt der Stolz

15   Es ist leichtsinnig

       sagt die Vorsicht

       Es ist unmöglich

       sagt die Erfahrung

       Es ist was es ist

20   sagt die Liebe



Kurzinterpretation

Es ist eines der absoluten Liebesgedichte, u. es handelt sich um eine absolute Definition von Liebe! Der Titel kommt schon – sich selbst – behauptend daher: „Was es ist“! Es heißt nicht: Was ist es? Es ist eben keine Frage, keine Befragung, keine Unsicherheit, sondern nur mehr Antwort, Erklärung, Tatsache, Existenz. Und es ist das „es“, das Faktum per se! Und es existiert, unabhängig von den großen gedanklichen und emotionalen Versuchen, die die Liebe in ihrem existentiellen und essentiellen Da-Sein in Frage stellen wollen.

Es treten auf in der Reihenfolge ihrer vergeblichen Bemühungen: die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie alle behaupten Dinge über unsere Liebe, die die Liebe vollkommen aufzuheben und zu zerstören trachten!

Die Vernunft! (Pah, was ist schon die Vernunft? Sie bemüht sich vernünftig zu sein, „sei doch vernünftig“ etc.) sagt gleich, fällt mit der Tür ins Haus, darf als erste sprechen, angreifen: das ist Unsinn, Quatsch, Einbildung, gibt es gar nicht, ohne irgendwelchen Sinn, Unsinn, Verkehrung allen Lebens, das darf es nicht geben. Und bei Unsinn kann auch die Bedeutungsebene von Sinnen, Sinnenhaftigkeit gemeint sein, also Unsinn: du täuschst dich, in dem was deine Sinne da wahrnehmen an Augenblicken, Gerüchen, Tasten, Streicheln, Wärme... alles Unsinn, sagt die Vernunft.

Die Liebe antwortet ruhig, gleichmütig, stets in der Gewissheit in immer gleicher Formulierung, gibt Antwort, stellt sich geduldig den Angriffen, unverletzbar, unerschütterlich, und sie wird das letzte Wort behalten mit eben dem gleichen, alle Not wendenden Wort.

Die Berechnung tritt auf, oh ja jene Instanz in uns, die die teils unfassbaren Dinge des Lebens in ein berechenbares Maß zwingen will – vergeblich. Sie ist kalt, berechnend, sie rechnet mit dem Schlimmsten, sie droht mit dem Unglück, das alles zerstört. (siehe auch das Gedicht von Fried: Fast Glück)

Von Unsinn zu Unglück handelt es sich durch die Wiederholung um eine poetische Steigerung, um eine Verstärkung des Angriffs auf die Liebe.

Immer drohen die „Angreifer“ mit dem, was kommen könnte, zuerst: mit dem Schmerz droht die Angst, unsere Angst, es könnte schief gehen, vergeblich sein, wehtun, wenn es scheitert; die Einsicht (welche Einsicht? Wessen Einsicht?) droht sogar mit der Aussichtslosigkeit, fast Blindheit: du gewinnst nichts mit der Liebe. „es ist aussichtslos“ hat in dieser Formulierung sogar noch einen stärkeren Klang. Und Berechnung, Angst und Einsicht fallen gemeinsam über die Liebe her, und behaupten eben auch: „So ist es!“, nicht so sei es , oder es könnte so sein. Sie befragen die Liebe nicht, sondern „hauen ihr ihre Behauptungen um die Ohren“. Wieder antwortet die Liebe stark und fest.

Und es droht der Liebe sogar noch mehr an Gefährdung: es ist lächerlich, man wird dich auslachen, du wirst isoliert und man wird dich für verrückt halten, so kommt der Stolz scheinbar stolz daher. Wie oft sind wir in unseren liebevollen Verrückungen uns selbst nicht sicher und machen die tollsten Sachen, um unserer Liebe zu dienen, sie zu erfüllen auch gegen alle Anfeindungen, als könnten wir den Verlust der Liebe unbeschadet überstehen, aus ihrem Nichterfüllen auch noch Stolz ziehen: das hab ich hinter mir. Bitterer Stolz, eine Einsamkeit (der „Hagestolz“), die die Liebe verraten hat.

Da meldet sich die Vorsicht: es ist leichtsinnig, du gefährdest deine Existenz, pass auf, was du tust, wenn du der Liebe folgst, begehst du einen großen Fehler und hinterher tut es dir leid.

Und da tritt auch noch die Erfahrung auf den Plan: sie behauptet, dass doch das ganze Leben bisher eben ohne die Liebe funktioniert habe, dass es sie gar nicht gibt, sie sei unmöglich.

Das ist nun der Gipfel der Unverfrorenheit, die totale Infragestellung der Existenz von Liebe, man hatte sich eingerichtet und mit Mario Simmel: „Liebe ist nur ein Wort“ nachgeplappert, nach all den schwierigen Erfahrungen und Verlusten haben wir einfach behauptet: gibt`s nicht, kommt bei uns nicht vor. Um die ersten Verluste zu schützen, um unser Weiterleben im mittelmäßigen Dahin-Dümpeln zu rechtfertigen, um den Riss zwischen liebvoller Utopie und dunklem Alltag wenigstens rhetorisch zu überdecken, um die Balance des Ringens zwischen Pessimismus und Optimismus jeweiligen Situationen verräterisch anzupassen, haben wir die Liebe und die Liebenden sich immer weiter wie „Scheusal“ zurückziehen und vereinsamen lassen.

Aber: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“

Punkt. Aus! So ist es. Es ist da. Und es ist unvernichtbar. Und es erfüllt uns, unverwundbar gegen die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz und die Vorsicht. Sie bildet die Grundlage allen Lebens, kein noch so großes Bemühen, sie zu verleugnen, kann sie überhaupt in Frage stellen.

Und sie ist jeder noch so schlüssigen Erklärung der Vernunft, der Berechnung, der Angst, der Einsicht, des Stolzes und der Vorsicht unerreichbar.

Dieses Gedicht tut allen Liebenden gut, die da zweifeln und fragen, die angegriffen werden und manchmal vor überbordender Liebe kaum mehr wissen, wie ihnen geschieht, und dass sie auserwählt sind, die Welt zusammenzuhalten, ohne dafür eine Erklärung zu haben, nur die innere Kraft.

„Wenn dir die Liebe winkt, folge ihr, möge das unterm Gefieder versteckte Schwert dich auch töten“ (aus: Ghalil Gibran, Der Prophet“)

Erich Fried hat mit diesem Gedicht in dieser sprachlichen Pointierung eines der grundlegendsten Gedichte und Verdichtungen über die Liebe geschaffen.

Das Gedicht teilt sich mit, gibt sich aber nicht preis. Es gibt die Liebe, die hier spricht, nicht preis, sondern lässt sie auf deren Anfeindungen mit einer in sich ruhenden Kraft reagieren.

„Es ist was es, sagt die Liebe“ so die interpunktionslose handschriftliche Anordnung durch Erich Fried selbst, die sich einer Interpretation nicht gleich erschließt. Wollte er die Einheit der Aussage betonen?

Die „Vernunft“ steht in der 1. Strophe herausgehoben einleitend und schafft der „Liebe“ Raum sich zu exponieren; dann folgen zwei Strophen, in denen jeweils drei „Gegner“ auftreten, die sich in den Strophen noch steigern und in der Behauptung der Unmöglichkeit von Liebe gipfeln. Jeder Liebende spürt mit jeder Zeile seine Kraft zur Liebe wachsen, weil er sich dieser poetischen Provokation mit Liebe entgegenstellen will. Insofern hat Fried ein Gedicht geschaffen, das uns stärken soll und tut.


ZUR FORTSETZUNG ALLTAGS- & LIEBESLYRIK 2  


                                                                                                                                                            

Goethe will also mit seinem Gedicht zum Ausdruck bringen, dass sich alles um uns herum ändert, vergänglich ist, auch unser Körper, dass aber unsere Seele und unser Verstand, was also unseren Charakter ausmacht, unvergänglich sind. Er sieht die Welt in ständigem Wandel, das Individuum aber als etwas, das in seiner Einzigartigkeit trotz kleiner Veränderungen im Grunde gleich bleibt.


Gottfried Benn jedoch, ein Dichter des 20. Jahrhunderts, der in einer gänzlich unterschiedlichen Zeit lebt, sieht alles gegensätzlich. Er sieht im Äußeren das Andauernde und im Individuum den Wechsel. Er gesteht dem Äußeren zwar Veränderung zu, „alles setzt sich fort“ (Z.13), aber er glaubt, dass „alles [ ] in seinem Grundverhalten [bleibt]“. Außer eben das Individuum, was in seinem Zusatz „aber du - ?“, zugleich Titel des Gedichtes, klar wird. In diesem Gedicht ist die Meinung jedoch nicht so gefestigt, schließlich bleibt die Frage offen. Aber durch den Zweifel klingt eben an, dass er das Individuum konträr zur Welt sieht. Benn hebt es ebenso wie Goethe hervor, gibt ihm eine Sonderposition.


Der Schöpfungsglaube aber fehlt bei Gottfried Benn. Dies liegt sicher auch an der Zeit, in der er lebt. Denn der Glaube ist zu einem unwichtigen Lebensbestandteil für viele Menschen geworden. Sie sind nicht mehr so dankbar für alles, was sie sind und was sie umgibt. Aber gerade deshalb beginnen sie Antworten zu suchen, versuchen sie die Welt zu erklären und ihre Sicht zur Welt und zu sich selbst zu finden. Goethes Gedicht weist keinen genauen Schauplatz auf, handelt aber von der Natur, die zu seiner Zeit noch ein sehr wichtiger und kaum zerstörter Bestandteil des Lebens war.


Im 20. Jahrhundert dagegen gehen viele Menschen nicht mehr in die Natur, sie haben vergessen, wie schön es dort ist. Man sucht sein Glück in dem, was der Mensch geschaffen hat. Deshalb spielt Benns Gedicht wohl auch in einer Kneipe, in einem Lokal. Doch auch hier ist nichts Schönes („selbst an diesem Ort zerfällst du bloß“, Z.4).


Das einzig Schöne ist die Blume, die aber auch nichts Besonderes mehr ist. Für Gottfried Benn ist das, „was eindringt“ (Z.2), etwas Schlechtes, nichts Großes wie für Goethe. Der schilderte die Natur, die Freude, die ihr Anblick bereitet. Benn hingegen hält es nicht für ratsam sich zu eilen und die Früchte zu genießen, bevor sie weg sind, sondern er rät seinen Mitmenschen, „die Augen [zu] schließen“ (Z.1) vor dem, was draußen ist. Er bedauert nicht, dass die Natur so schnell vergeht, er bedauert das immer Gleiche des Alltags („schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden“ Z.11).


Auch bezeichnet er den Menschen als „Flüchtigen“ (V.1), flüchtig vor der Welt, vor sich selbst, vor der Trostlosigkeit des Alltags. Er beschreibt einen Rechtsanwalt (Sinnbild für Regeln, immer Gleiches, Starres), der schon wie tot wirkt, aber plötzlich beginnt lebhaft zu trinken - trotz seines Nierenschwundes. Ein Phänomen, das im 20. und 21. Jahrhundert häufig zu finden ist. Der Mensch spürt keine Dankbarkeit mehr, ruiniert sich Körper und Seele, oft, indem er irgendeiner Sucht verfällt.

            

Zwar ist für Benn das Individuum schon etwas Besonderes, aber er hält es nicht unbedingt für besonders gut.

Für Goethe und viele seiner Zeitgenossen war klar, dass der Sinn des Lebens in Bildung von Seele und Geist lag, die Sinnsuche war quasi abgeschlossen, in Benns Zeit jedoch begann eine neue Phase der Sinnsuche. Im Gegensatz zum Gedicht „Dauer im Wechsel“ wird hier nur einmal, gleich zu Anfang, eine Aufforderung an den Leser gerichtet. Goethe ist da viel euphorischer, hat noch Hoffnung und möchte seine Gedanken mitteilen, andere mitreißen. In Benns Gedicht herrschen Abgestumpftheit, Trostlosigkeit und Verzweiflung vor. Die Hoffnung ist verschwunden.


Benn stellt dem Leser abschließend eine Frage: „aber du -?“. Er lässt alles offen, gibt keine Lösung an. In beiden Gedichten werden gegensätzliche Haltungen vertreten, in Goethes Gedicht jedoch mit mehr Nachdruck, größerer Begeisterung für seine Sache.


Die Grundstimmung ist ebenso gegensätzlich. Goethes Gedicht ist euphorisch u. wirkt trotz einiger Klagen optimistisch u. froh. Benns Gedicht ist voll von Hoffnungslosigkeit, sehr melancholisch u. eher traurig. Die beiden Ansichten, die sicher die der beiden Verfasser sind, da ein lyrisches Ich nicht näher bestimmt ist, bei Gottfried Benn gleich gar nicht vorhanden, sind sicher in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu sehen. Im 20. Jhd. fehlen weitgehend die Natur- u. die Gottverbundenheit, die Lebensumstände u. die Umgebung der Menschen haben sich gewandelt. Die Verzweiflung an einem fehlenden Sinn ist größer denn je.


So ist es nicht verwunderlich, dass beide Dichter so unterschiedliche Auffassungen von der Welt und dem Individuum haben.              



Vergleich zweier Gedichte:


18. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)

19. Rainer Maria Rilke: Herbsttag  (1902)



18. Johann Wolfgang von Goethe: Im Herbst (1775)


     Fetter grüne du Laub

     Am Rebengeländer

     Hier mein Fenster herauf

     Gedrängter quillet

  5 Zwillingsbeeren, und reifet

     Schneller und glänzend voller

     Euch brütet der Mutter Sonne

     Scheideblick, euch umsäuselt

     Des holden Himmels

10 Fruchtende Fülle.

     Euch kühlet des Monds

     Freundlicher Zauberhauch

     Und euch betauen, Ach!

     Aus diesen Augen

15 Der ewig belebenden Liebe  

Vollschwellende Tränen.  



19. Rainer Maria Rilke: Herbsttag  (1902)


     Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
     Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
     und auf den Fluren laß die Winde los.


     Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
  5 gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
     dränge sie zur Vollendung hin und jage
     die letzte Süße in den schweren Wein.


     Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
     Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
10 wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
    und wird in den Alleen hin und her
    unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.



Vergleichende Gedichtinterpretation - Analyse und Deutung


Bevor ich mit der detaillierten Analyse und Deutung der einzelnen Abschnitte der Werke beginne, soll eine Zusammenfassung unter formalen Gesichtspunkten erfolgen. Johann Wolfgang von Goethe verwendet weder Endreim noch festes Metrum (hingegen nur schwere, unregelmäßig auftauchende Metren wie Daktylos und Trochäus), verzichtet gar auf eine sichtbare Gliederung in Strophen. Dies steht im völligen Kontrast zu Rilkes dreistrophigem Gedicht, welches in je drei, vier und abschließend fünf Zeilen gegliedert sowie durch die Verwendung umarmender Reime und unregelmäßiger fünfhebiger Jamben charakterisiert ist, was dem „Herbsttag“ viel deutlichere Konturen gibt, wohingegen Goethe seinen Worten den leichten Fluss nicht durch die Zusammenfügung innerhalb fester formaler Mittel nehmen zu wollen scheint. Dennoch lässt sich „Im Herbst 1775“ inhaltlich in Teile strukturieren, wobei der erste die Verse eins bis sechs umfasst. Das lyrische ich lässt sich anhand dieser Zeilen bereits eindeutig positionieren: es blickt aus dem Fenster („ […] Hier mein Fenster herauf.“, Z. 3) auf die das Haus umgebende Natur, vielleicht einen Garten, Pflanzen, die das Gemäuer beranken oder ähnliches. Von dieser Position aus wendet sich das lyrische ich imperativisch an gegenständliche, fassbare Erscheinungen der belebten Natur, „(…)Laub (…)“, Z. 1; „(…) Das Rebengeländer (…)“, Z. 2; „(…) Zwillingsbeeren (…)“, Z. 5, fordert jene auf die typisch herbstlichen „Wachstumsprozesse“, das Grünen, Quillen und Reifen (vgl. Z. 1, 4, 5), zu beschleunigen. In diesem Moment steht also noch das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund: Früchte reifen beispielsweise im Herbst, doch ist die Zeit des Grünens und Blühens längst vorbei, eher noch kündigt sich der Winter und damit die Zeit einer grau-tristen Natur an, die jedoch, kaum ist der letzte Frost überstanden, wieder unbeirrt ihrem Lebensrhythmus folgt, die ersten Knospen sichtbar werden lässt. Bezüglich des Sprachgestus fällt in diesem Teil besonders auf, dass die am Fenster stehende Person sehr ausdrucksstarke Worte voll der Bildlichkeit gebraucht: das Laub wird persönlich angesprochen, quasi personifiziert („ Fetter grüne, du Laub, (…)“, Z. 1), komparativisch gesteigerte Adverbien wie fetter, voller, schneller (vgl. Z. 1 und 6) finden ebenso wie eine Synästhesie („ (…) glänzend voller (…)“, Z. 6) Anwendung. Durch die Verknüpfung von Sinnesendrücken wird so die Bildlichkeit der Sprache erhöht.


Die starken Worte sind Ausdruck der Üppigkeit der Natur, ihrer Unbezähmbarkeit, ihres Überflusses. Zudem verknüpft der Dichter die Zeilen zwei bis vier durch Zeilensprünge, was zusätzlich sprachliche Dichte, Dynamik und Sprachfluss verbessert, kann dies nicht durch ein einheitliches Metrum erfolgen. Zur Zeit der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang herrschte eine besonders starke Hinwendung zu belebter wie unbelebter Natur. Goethe war des weiteren Pantheist, weshalb es ihm anders als seinem Prometheus oder Rilke, worauf ich sogleich kommen werde, ausreichte, der Natur zu befehlen, da sie nach pantheistischem Glauben Teil sowie Verkörperung Gottes ist.


Dem gegenüber steht die erste Strophe des Gedichtes „Herbsttag“, welche drei Zeilen umfasst. Auch hier wendet sich das lyrische ich, das sich aber anders als bei Goethe nicht ähnlich einer Bildkomposition positionieren lässt, an Gott, spricht hier jedoch den Schöpfer höchstpersönlich an, um von ihm dann die fühlbare Beendung des Sommers und Einläutung des Herbstes zu fordern. Während wir im ersten Gedicht also folgende ersten Zeilen finden: „Fetter grüne, du Laub, (…)“, lautet die direkte Ansprache im zweiten wie folgt: „ Herr: es ist Zeit.“. Klar muss hierbei sein, dass es sich kaum um einen Gebetsgestus handelt. Goethe und Rilke vertraten sehr unterschiedliche Glaubensrichtungen, insofern man bei letzterem, einem Anhänger Nietzsches („Gott ist tot.“) davon sprechen kann. Er erhöhte Religion ausschließlich zur Kunstform, was auch den befehlenden Ton des lyrischen Ichs, der sich an die vorausgegangene Feststellung anschließt, erklärt. „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren laß die Winde los.“; Z. 2 bis 3 – die Imperative sind unschwer zu erkennen, doch scheinen sich hinter jenen Forderungen gleich zwei Ebenen zu verstecken. Zunächst fällt dabei die bildhafte ins Auge: Sonnenuhren beschatten meint schließlich die Welt verdunkeln, Winde loslassen herbstliches Wetter einzuläuten. Allerdings entsprächen jene Vorstellungen einem eher altertümlichen Gottesbild, das Gott in seiner Position als Schattenwerfer und Windeigner Wächter der Naturgewalten darstellt. Obgleich das lyrische ich einige Vermessenheit an den Tag legt, Gott zu befehlen, drückt es im zweiten Satz des ersten Verses doch Anerkennung für vollbrachte Taten, für Vergangenes im Präteritum aus („ Der Sommer war groß.“), um dann gleich neue Kraft zu fordern. All dies sind Vorstellungen und Weltbilder die Rilke persönlich völlig fremd waren, weshalb er sie sicher vor allem aus künstlerisch wertvoller Sicht derartig gebraucht, gemäß l’art pour l’art, Kunst (in diesem Falle Religion) um der Kunst willen.


Der Wendung an die Natur schließt sich im Verlaufe des „Herbstes 1775“ die Rede über selbige an. Dieser zweite Teil des Gedichtes umfasst die Zeilen sieben bis zwölf und thematisiert den kosmischen Teil der Natur, die Naturgewalten, welche bei Rilke bereits Inhalt der ersten Strophe sind, und zeigt auf, inwiefern sie die im ersten Teil beschriebene Flora beeinflussen. Das lyrische ich wagt den Blick in die Ferne, gen Himmel, was auch auf Goethes biografisches Fernweh, den Umzug nach Weimar, übertragen werden könnte. Zunächst fallen die Personifizierungen der Sonne, des Mondes und des Himmels auf („[…] Mutter Sonne […]“, Z. 7). Die Anrede der Sonne als Mutter verfügt zudem über einen pantheistisch – religiösen Beigeschmack. Starke Bildlichkeit, verbesserte Anschaulichkeit und gesteigerten Wohlklang erzeugen die den kosmischen Gewalten zugewiesenen Attribute, welche zudem verdeutlichen, welchen Anteil die Himmelskörper und der Himmel selbst am Prozess der Fruchtwerdung haben: der Sonne brütender Scheideblick ist Ausdruck von Licht und Wärme (vgl. Z. 7 und 8), des Himmels fruchtende Fülle steht für ermöglichte Fruchtbarkeit (vgl. Z. 9 und 10), des Mondes freundlicher Zauberhauch für die nötige Kühlung der Nacht (vgl. Z. 11 und 12). Wie bereits erkennbar beinhalten jene sechs Zeilen aufzählungsartig aneinandergereihte Metaphern für das Wirken von Sonne, Mond und Himmel. Beschriebene Zusammengehörigkeit der Zeilen wird auch durch anaphorische Satzanfänge („ Euch brütet […]“, Z. 7; „ […] euch umsäuselt […]“, Z. 8; „Euch kühlet […]“, Z. 11) und den jeweils genetivischen Gebrauch der Artikel zur besonderen Herausstellung der „Besitzverhältnisse“, so dass die unmissverständlich genaue Zuweisung der Attribute betont wird, verdeutlicht. Genannte Pronomina heben die Relation belebte – unbelebte Natur, letztere beeinflusst „euch“, erstere, hervor. Somit spricht das lyrische Ich trotz seiner Sprache von kosmischen Erscheinungen weiterhin mit Laub, Rebengeländer sowie Zwillingsbeeren. Eigenschaften der Naturgewalten werden durch wohlklingende Verben illustriert und zeigen einmal mehr der Sprache Bildlichkeit. So verspricht umsäuseln sanfte, zarte, kaum merkliche Berührungen, brüten bedeutet nahezu unerträgliche Hitze, Kühlen vermag dies in der Nacht zu mildern. Es ergibt sich des Weiteren der Kontrast Sonne – Mond, Tag – Nacht, Wärme – Kälte, was durch die Klimax artige Steigerung, nicht der Temperatur sondern der Kälte, von „brüten“ über „umsäuseln“ nach „kühlen“ verstärkt wird. Der Himmel selbst nimmt dabei nur eine neutrale oder vermittelnde Position ein, da Sonne und Mond schließlich beide Himmelskörper, zwei Seiten einer Medaille und dadurch geeint sind. Zudem handelt es sich natürlich sowohl seitens der Sonne als auch des Mondes um Teilprozesse, welche die Natur leben lassen, was das lyrische ich zur Nutzung euphemistischen Vokabulars, das einer Preisung der Gewalten ähnlich anmutet, zu bewegen scheint. Beispiele wären die Alliterationen „(…) des holden Himmels fruchtende Fülle (…), Z. 9 und 10 oder das Kompositum (freundlicher) Zauberhauch, Vers 12, deren Verwendung natürlich auch Sprachfluss und -dynamik begünstigt.


Anders als Goethes lyrisches Ich unterbricht selbiges bei Rilke seine imperativische Wendung an Gott im Verlaufe der zweiten Strophe, welche die Zeilen vier bis sieben, also vier Zeilen umfasst, nicht. Da bereits die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe indirekt die Naturgewalten thematisieren, indem das lyrische ich Gott auffordert, sie herbstlich wirken zu lassen, kommen hier nun Erscheinungen der belebten Natur, die Bestandteil Goethes ersten Teils sind, zur Sprache. Früchte sollen reifen, vollendet, der Wein in Aroma und Vollmundigkeit perfektioniert werden. Das lyrische ich drängt geradezu auf die Vervollkommnung des Ertrages aus der Natur, was vor allem menschliches Interesse am Herbst mit all seinen Annehmlichkeiten verrät. Auch hier steht also das „Werdende“ des Herbstes im Vordergrund. Z. 4 beinhaltet sogleich einen doppelten Imperativ: „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein.“ - das lyrische Ich befiehlt in doppelter Anmaßung Gott der Natur zu befehlen. Doch werden die betreffenden Früchte, deren Vollendung gefordert werden, eingeschränkt: es handelt sich nur um die letzten Früchte, Nachzügler, was zeigt, dass die Prozesse der Natur der Vervollkommnung allein nicht mächtig sind, sondern des Eingreifens Gottes bedürfen. In Z. 5 tut sich ein Widerspruch auf – noch in der ersten Strophe drängte das lyrische ich auf herbstliches Wetter, Beenden des Sommers, fordert nun aber südlichere, das heißt milde, sonnige Tage. Diese scheinbare innere Unentschlossenheit scheint durch den Kompromiss der zwei Tage, einer äußerst kurzen Zeitspanne, die zur Formvollendung aber unbedingt notwendig ist, aufgelöst zu werden. Mit dieser leichten Abschwächung seiner vorangegangenen harten Worte, versucht das lyrische die Anmaßung der Imperative etwas aufzuweichen und insbesondere anzuerkennen, dass der Früchte Reifung nun einmal abhängig von Gottes Willen und Tun ist. Der sich nun anschließende Vers weist ein Enjambement, das textunterstreichend wirkt, auf. Drängen und jagen (vgl. Vers 6) sind dynamische Verben des aktiven Handelns beziehungsweise der Bewegung, die Sprachfluss nur begünstigen, was sie schließlich mit einem Zeilensprung eint. „(…) Dränge[n] […] zur Vollendung hin […]“, Z. 6 scheint des Weiteren zu implizieren, dass Gott nicht nur die Macht zu bewegen, zu steuern, zu verändern hat, sondern insgesamt als richtungsweisend gen Vervollkommnung zu sehen ist. Ähnliches deutet das Verb jagen an – die Kraft, eine Bewegung in die gewünschte Richtung zu lenken.

Von den hier gebrauchten Verben geht eine ganz andere Dynamik als von denen in Goethes zweitem Teil aus. Sind es dort die Naturgewalten, welche Laub und Beeren denkbar sanft formvollenden, so ist es hier Gott, der drängend und jagend wesentlich gewaltiger, aktiver und fordernder seine Arbeit verrichtet. Erneut ist es die „letzte“, diesmal Süße, welche klare Assoziationen mit Perfektionismus weckt, kein naturgegebenes Geschenk wird ausgespart, alles bis zur Vollendung erledigt. Eine schwache Synästhesie stellt der schwere Wein dar. Ein Wort, das in unseren Sprachgebrauch übergegangen ist, aber dennoch leichte Widersprüchlichkeit aufweist. Schließlich vereinen sich hier die ursprünglichen Bedeutungen des Fühlens eines Gewichtes und Schmecken eines Aromas.


Nach den Erscheinungen der unbelebten Natur folgt bei Goethe nun die Übertragung auf die persönliche Situation des lyrischen Ichs. Der dritte Teil, Z. 13 bis 16 umfassend, wird wie vorangegangenen Zeilen anaphorisch durch „euch“ eingeleitet, wobei die vorangestellte Konjunktion „und“ den Charakter des nachträglichen Hinzufügens verdeutlicht. Vielleicht versucht das lyrische Ich sich mithilfe der Wortwiederholung, wie es sie auch bezüglich der kosmischen Natur gebrauchte, ihr nahezubringen. Doch werden die Tränen anders als Wärme oder Kälte vermutlich wirkungslos bleiben, die belebte Natur wenig beeinflussen. Obgleich Goethe hier ein Verb wortwörtlich natürlichen Ursprungs gebraucht, tauen (vgl. Z. 13), wird es in diesem Zusammenhang den menschlichen Tränen zugesprochen. Jenes wohlklingende, bildliche Verb erzeugt zudem den Eindruck von einer besonderen Beziehung des lyrischen Ichs oder des Menschen im Allgemeinen zur Natur – die eigene Person, das menschliche Wesen ist gemäß pantheistischem Glauben ganz in die Prozesse der Natur einbezogen, hat Anteil daran und ist nicht ausgeschlossen. Die Interjektion „ach“ (vgl. Vers 13) ist ein typischer Kunstgriff der Epoche des Sturm und Drang / der Empfindsamkeit, ferner Ausdruck tiefer Bewegtheit, persönlicher Betroffenheit und natürlich um der sprachlichen Authentizität willen gebraucht. Den direkten Hinweis auf das lyrische ich als weinendes Individuum erhalten wir durch das Reflexivpronomen „diesen“ (vgl. Z. 14), welches die Augen unmissverständlich zuweist. Dabei handelt es sich um eben jene Augen, die sich zuvor an der natürlichen Schönheit der Umgebung erfreuten, in die Ferne blickten. Z. 15 charakterisiert die Liebe als ewige, stetige, unaufhaltsame Lebenskraft, die auch nach Enttäuschungen noch bestehen, das Leben im weiteren Sinne erhalten kann. Diese äußerst optimistische Auffassung passt zu Goethes biografischem Hintergrund - (Trennungs-) Schmerz war für ihn in diesem Herbst des Jahres 1775 und nicht zum ersten Mal Bedingung für den Prozess des Wachsens, Reifens und der eigenen Perfektionierung. Schließlich hat die gelöste Verlobung mit Lilly Schönemann ihn nicht an der späteren Liebe zu Christiane Vulpius gehindert. Zwar sind es jetzt noch „(…) voll schwellende Tränen(…)“, Z. 15, welche die Pflanzen betauen, doch dem scheinbar unaufhörlichem Fluss hat das lyrische ich und möglicherweise Goethe selbst den ebenso unaufhörlichen Strom der Liebe entgegenzusetzen.


Auch die dritte Strophe des „Herbsttages“ verweist auf den Menschen, entfernt sich von bloßer belebter und unbelebter Natur, wobei das lyrische ich hier nicht den unmittelbaren Selbstbezug deutlich werden lässt. Doch ist der Ausblick dieser Tage kein guter – die Zukunft hält ein Leben in Einsamkeit, Unruhe und Tristesse bereit. Was sich uns hier bietet ist ein negatives Ende, der Zerfall des Herbstes, nicht der werdende, wachsende Aspekt. Die Haupterkenntnis des lyrischen Ichs lässt sich für die Verse acht bis zwölf wie folgt formulieren: der Mensch ist von der Vervollkommnung der Natur ausgeschlossen, nur Flora und Fauna erfahren die Vollendung in Perfektion. Der erste Satz (Z. 8) kommt einer bloßen Feststellung gleich, die im Präsens formuliert wurde. Durch die Struktur des Satzes, die einen Relativsatz erkennen lässt, werden Anonymität und Allgemeingültigkeit bewahrt, was sich deutlich von den sehr persönlichen letzten Zeilen des lyrischen Ichs bei Goethe unterscheidet. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ - In der Gegenwart ist kein Besitz vorhanden, ebenso wenig wird eine Änderung erfolgen. Insbesondere die Formulierung „keines mehr“ scheint den Verzicht auf Baumaßnahmen auf unbestimmte Zeit zu implizieren. Während seiner Pariser Zeit zeigte Rainer Maria Rilke impressionistisch durchwirkte, stark symbolistisch geprägte Tendenzen, so ist es wenig verwunderlich, dass z.B. das Haus symbolisch über sich als Ding hinausweist. Die „Hütte“ war ein wichtiges Symbol der Stürmer und Dränger, welches für privates Eigentum, die eigenen vier Wände stand. Diese Bedeutung ließe sich durch Zusätze wie persönliche Zurückgezogenheit, Geborgenheit, Wohlgefühl, Bekanntes, Vertrautes und Geliebtes ergänzen. Entbehrt man dieser wichtigen Essenzen des alltäglichen Lebens fehlt die Grundlage für Fortschritt und Weiterentwicklung. Jener Eindruck nimmt immer deutlichere Formen an, betrachtet man die fehlende Aufbruchsstimmung der folgenden Zeilen. Über einen anaphorischen Satzanfang einer weiteren Feststellung gleich eingeleitet („Wer jetzt allein ist […]“, Z. 9) schließt sich nun die Rede von dauerhafter Einsamkeit an, weshalb jetzt auch ein Wechsel der Tempora zum Futur erfolgt. Der Ausblick auf die Zukunft verheißt lang währende Einsamkeit („[…] wird es lange bleiben […]“), die zudem eng mit der Entbehrung einer Wohnstätte, nein, mehr noch eines Zuhauses, verknüpf zu sein scheint. In Zeile zehn finden wir die Fortsetzung der neunten Zeile, es werden mögliche Aktivitäten des dauerhaft einsamen Individuums aufgezählt, was unter Verwendung von Alliterationen erfolgt („[…] wird wachen, lesen lange […]“). Schlaf- und Ruhelosigkeit scheinen die Tätigkeiten zu bestimmen. Sie kommen einer Ablenkung gleich – Beschäftigung mit Literatur, die ausgedehnte schriftliche Kontaktaufnahme. Es handelt sich hierbei um typische Herbstaktivitäten, die vor allem triste Tage, Abende, durchwachte Nächte voll der Zeit weil ohne Heim oder Familie in geheizten Räumen verstreichen lassen. Genannte Alliterationen tragen ebenso wie das jambische Metrum und das Z. elf und zwölf verbindende Enjambement zu einer gesteigerten Dynamik, die einem inneren Aufbegehren ähnlich scheint, bei. Alleen vermitteln ein beklemmendes Gefühl der Gefangenheit, des Begrenztseins, was durch eine rastlose Wanderschaft innerhalb der begrenzten vorgezeichneten Wege noch verstärkt wird („[…] hin und her […]). Die zu dieser Jahreszeit wohl einzig ausführbare Betätigung im Freien wird vom Treiben der Blätter, die in ihrer Bewegung der des lyrischen Ichs so ähnlich sind, begleitet. Mithilfe der jahreszeitlich typischen Sprache, Umschreibung für das Wehen der Blätter, gelingt es Rilke sehr anschaulich ein Herbstbild zu malen, von einem Tag im Herbst, eingefangenen Impressionen, die dennoch symbolisch über sich hinaus verweisen – auf einen Menschen, dem die Enttäuschungen kein Balsam sind, die unerträgliche Tristesse des Herbstes ist nur Ausdruck der beständigen Ausgrenzung des Menschen. So mag er doch höher entwickelter sein, als alle Pflanzen und Tiere dieser Welt – doch vielleicht stellt sich ihm gerade das in den Weg. Ein derartig komplex denkendes Lebewesen betrachtet Fortschritt plus Weiterentwicklung nie einseitig und wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit vom perfekten Leben in Vollendung, vom großen Glück ausgeschlossen bleiben, da Enttäuschungen kaum vermeidbar sind.




Zur Gedankenbewegung bei Goethe bliebe zusammenfassend noch Folgendes zu sagen: Der imperativischen Wendung an die belebte Natur um die Vollendung jener zu bewirken schließt sich die weitere Rede mit den Erscheinungen der Pflanzenwelt, aber zudem die Sprache von kosmischer Natur, welche die Flora beeinflusst, an, abschließend wird das „Werden“ eines Herbstes auf die persönliche Trauerstimmung des lyrischen Ichs übertragen, welches der Jahreszeit angepasst in eine optimistische Aufbruchsstimmung versetzt wird. Rilkes Reflektionen unterscheiden sich davon recht deutlich: die imperativische Wendung an Gott, zunächst als Wächter der Naturgewalten, dann als omnipotenter Weltverbesserer zugunsten der belebten Natur, umfasst die ersten beiden Strophen, der dritte Teil lässt bei Übertragung der Herbststimmung auf den Menschen, dessen unmöglich überwindbare Unvollkommenheit deutlich werden, was eher Endzeit- als Aufbruchsstimmung gleichkommt.


Empfindsamkeit / Sturm und Drang versus vielschichtigste Literatur der Jahrhundertwende – was bleibt, ist zuweilen der Balsam der Enttäuschungen, manchmal auch die ganz persönliche apokalyptische Endzeitstimmung. Angesichts Goethes biographischen Hintergrundes muss ich meine tiefste Bewunderung für die optimistische Vision von der ewig lebenden Liebe aussprechen. So schön gewählt Amadeus de Prados Worte auch sind, in einem hoffnungslos unglücklichen Gefühlszustand wären sie mir nur ein geringer Trost. Der (Selbst) -Reflektion von Erwartungen, Vorstellungen und Wünschen wäre ich erst nach einer Periode der Melancholie befähigt und selbst dann wäre mein persönlicher Aufschwung zu neuer Kraft, neuem Wachsen und Werden tatsächlich äußerst fraglich. Umso mehr kann ich die beständige Zerrissenheit Rilkes angesichts der das menschliche Dasein bestimmenden Punkte verstehen. Gesellschaft (der Mensch braucht Liebe um Mensch zu werden) oder Isolation (jeder ist sich selbst der Nächste) sind, denke ich, auch heute noch bestimmende Gegensätze unserer Zeit. Wie oft steht man sich dabei selbst im Wege: Ehrgeiz und Strebsamkeit, die einen blind machen, für die unter Menschen nur zu befriedigenden Bedürfnisse, die uns von jedem Tier unterscheiden oder das beständige Handeln für andere, Aufopferung und ewiges Zurückstecken zu Lasten der persönlichen Verwirklichung. Männer wie Frauen sehen sich heute vielfach mit der Frage konfrontiert, ob Familie und Karriere zeitgleich, vereinbar und gleichwertig umsetzbar sind. Natürlich liegen die Schwerpunkte der einfachen Menschen anders, als bei einem poetischen Genie, aber die Herausforderung bleibt doch letztlich immer ein und dieselbe. Sich ausprobieren, Erfahrungen, ja auch negative, gar Fehler machen, daraus lernen, mit dem neuen Ergebnis glücklicher werden und ewig so fort.


Ob man(n)/ Frau in dieser Form tatsächlich zur wahren Selbsterkenntnis gelangt, liegt im Auge des Betrachters, erscheint mir jedoch eher fragwürdig. Aber - halt - für alle Ungeduldigen: fahren Sie doch mal nach Dänemark, da nämlich leben nach eigener Aussage gegenüber einer soziologischen Stiftung die glücklichsten Menschen der Welt, die sich immerhin am klarsten über erfüllte Träume und Wünsche sein müssten. Das ist zumindest eine echte Alternative gegenüber Rilkes zutiefst melancholischer Abschiedsstimmung.


Vergleich zweier Gedichte:


  7. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)

20. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)



7. Erich Kästner: Sachliche Romanze (1929)


       Als sie einander acht Jahre kannten

       (und man darf sagen: sie kannten sich gut),

       kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

       Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.


   5  Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

       versuchten Küsse, als ob nichts sei,

       und sahen sich an und wußten nicht weiter.

       Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.


       Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

 10  Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

       und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

       Nebenan übte ein Mensch Klavier.


       Sie gingen ins kleinste Café am Ort

       und rührten in ihren Tassen.

  15  Am Abend saßen sie immer noch dort.

       Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

       und konnten es einfach nicht fassen.




20. Mascha Kaléko: Das Ende vom Lied (1933)


     Ich säh dich gern noch einmal, wie vor Jahren
     Zum erstenmal. - Jetzt kann ich es nicht mehr.
     Ich säh dich gern noch einmal wie vorher,
     Als wir uns herrlich fremd und sonst nichts waren.

  5 Ich hört dich gern noch einmal wieder fragen,
     Wie jung ich sei ... was ich des Abends tu -
     Und später dann im kaumgebornen «Du»
     Mir jene tausend Worte Liebe sagen.

     Ich würde mich so gerne wieder sehnen,
10 Dich lange ansehn stumm und so verliebt -
    Und wieder weinen, wenn du mich betrübt,
    Die vielzuoft geweinten dummen Tränen.

    - Das alles ist vorbei ... Es ist zum Lachen!
    Bist du ein andrer oder liegts an mir?
15 Vielleicht kann keiner von uns zwein dafür.
    Man glaubt oft nicht, was ein paar Jahre machen.

    Ich möchte wieder deine Briefe lesen,
    Die Worte, die man liebend nur versteht.
    Jedoch mir scheint, heut ist es schon zu spät.
20 Wie unbarmherzig ist das Wort: «Gewesen!»





1. In dem 1933 erstmals publizierten Gedicht »Das Ende vom Lied« von Mascha Kaléko reflektiert das lyrische Ich den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung: Zunächst äußert es den Wunsch nach Wiederholung der einstigen Kontaktaufnahme, die es ermöglicht hatte, den/die noch unbekannte/n zukünftige/n PartnerIn völlig unvoreingenommen zu betrachten. Gerne würde sich das lyrische Ich erneut nach Alter und bevorzugter Freizeitgestaltung befragen lassen, um bereits nach   kurzem Kennenlernen Liebesbekundungen zu hören. Wieder wünscht das lyrische Ich, vergangene Gemeinsamkeit zu durchleben, den/die PartnerIn anzuschauen und nach Kummer Tränen zu vergießen.

Stattdessen folgt eine Bestandsaufnahme, der Gedanke, dass derlei Erfahrungen vergänglich seien, die Vermutung, dass sowohl die Interaktion beider PartnerInnen als auch die Zeit das Schwinden von Emotionalität begünstigten. Noch einmal verdeutlicht das lyrische Ich den Wunsch Vergangenes zu erneuern, sich wieder mit einst geschriebenen, von Liebe kündenden Worten zu befassen, bevor sich die Erkenntnis der Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens durchsetzt.

Das lyrische Ich reflektiert, indem es gedanklich Kontakt zum/zur Partner/-in sucht, diese/n anspricht. Erinnerungen an den ersten Kontakt, an die ersten Worte, die ersten Blicke sowie die ersten »tausend Worte Liebe« (Vgl. Z. 8) lassen das lyrische Ich Sehnsucht beteuern. Sehnsucht nach das Selbstbewusstsein stärkenden Komplimenten, nach der in eine Frage eingebetteten Bemerkung, »Wie jung [.] [man] sei« (Z. 6), mit der vermittelt worden war, wie wertvoll das lyrische Ich zu sein schien.


Sehnsucht nach der Suche nach Gemeinsamkeiten und nach aufrichtigem Interesse, auf das die Frage nach der Abendgestaltung schließen ließ. Sehnsucht nach Vertrautheit, mit der man sich mit einem »kaum gebornen Du« (Z. 7) gegenseitig schon früh zu beglücken begann. Schmerzhaft steht den damaligen Liebesschwüren die Gegenwart und mit dieser der Verlust einer idealerweise mit Verliebtsein einhergehenden und in überschwängliche Emotionalität mündenden Naivität gegenüber.


Gegenwärtig ist man sich nicht mehr »herrlich fremd« (V. 4); was bleibt, ist Gewohnheit. Eine als »unbarmherzig« (Z. 20) erlebte Routine. Zunächst scheint das lyrische Ich die Gegenwart negieren zu wollen. Der Verlust des Ideals ist schwer zu akzeptieren. Selbst die aus Kummer »oft geweinten dummen Tränen« (Z. 12) werden sehnsüchtig vermisst. Die unübersehbare Tendenz die eigenen Gefühlsäußerungen negativ zu attribuieren verrät Distanzierung vom damals schmerzenden, heute retrospektiv betrachtet weniger schmerzenden Kummer. Dieser scheint heute annehmbarer zu sein als von Gewohnheit abgelöstes Verliebtsein sowie das beklagte Fehlen von Emotionen. Doch verrät das lyrische Ich auch Ambivalenz, wenn es einerseits die Notwendigkeit der Gefühlsäußerungen erkennt, da deren Verurteilung und die daraus resultierende Unterdrückung einen eigenen Beitrag zum Absterben der vermissten Emotionalität leisten, andererseits jedoch an der Verurteilung des Weinens als übertrieben anmutend festhält. Obendrein fällt auf, wie das lyrische Ich die als schmerzhaft empfundene Gegenwart als »zum Lachen!« (Z. 13) beschönigt, wodurch die Sehnsucht leichter zu ertragen sein mag. Letztlich findet sich das lyrische Ich mit der Überzeugung ab, »es [sei] schon zu spät« (Z. 19). Das lyrische Ich bestärkt die eigene Passivität. Zur Kompensation des Unvermögens Verantwortung zu übernehmen, den Widerspruch zwischen Erkenntnis einer Ursache und Überwindung jener Ursache zu lösen, bemüht es sich um die Erklärung des Verlustes der Emotionalität durch   weitere Einflussfaktoren: Der/Die PartnerIn könne sich verändert haben. Jedoch hieße dies, den/die einst idealisierte/n PartnerIn abwerten zu müssen. Um diese Option zu vermeiden, wird Verantwortung auf die Zeit abgewälzt. Übrig bleibt Resignation und als Fazit der Glaube an die Unaufhaltbarkeit der Vergänglichkeit.


Das Gedicht umfasst fünf aus je vier Versen gestaltete Strophen. Durchgängig setzen sich diese aus umarmten Paarreimen zusammen, wobei jene jeweils männliche Kadenzen aufweisen, während die Zeilenabschlüsse der Umarmungen weiblich sind. Jeder Vers formt darüber hinaus einen Jambus mit fünf Hebungen, wodurch eine regelmäßige, leichte Intonation ermöglicht wird.


Sprachlich fällt die sparsame Verwendung von Bildern auf. Viel mehr ist das lyrische Ich um eine möglichst rationale Schilderung der eigenen Befindlichkeit bemüht. Durch die häufige Nutzung der Personalpronomina »Ich« (Z. 17) und »du« (Z. 14) entsteht eine Identifikationsmöglichkeit des Lesers mit dem lyrischen Ich; zugleich erfährt der Leser von der Existenz des Partners bzw. der Partnerin. Ausschließlich durch die Schilderungen des lyrischen Ichs wird der Leser informiert; ein Dialog findet

nicht statt. Die wiederholte Verwendung des Konjunktivs in den ersten drei Strophen kreiert den Wunsch des lyrischen Ichs nach Flucht aus der Gegenwart sowie die Unmöglichkeit deren Realisierung. Hyperbolisch zeugen »tausend Worte Liebe« (Z. 8) von Idealisierung des Vergangenen. Viele Adjektive und Partizipien dienen dem Facettenreichtum sowie der Emotionalisierung einer »stumm und so verliebt [...] [und auch] betrübt« (Z. 10 f.) genossenen Vergangenheit als Kontrast zur Gegenwart, in der der Sinn einst verfasster Briefe, die »liebend nur« (Z. 18) verstanden worden waren, verblasst.


Zusätzlich durch die inversive Form wird die Priorität der Liebe als Grundvoraussetzung für jegliches Wortverständnis hervorgehoben. Die alliterierende Rhetorik, mit der das lyrische Ich Bereitschaft signalisiert, »wieder [zu] weinen, wenn« (Z. 11) sich die Vergangenheit erneuern ließe, unterstreicht wortspielerisch den Wunsch nach Wiederherstellung vergangener Harmonie, der Symbiose, die rückblickend auch dann als wertvoll erkannt werden kann, wenn Kummer sie auf die Probe stellte. Die Personifikation der »dummen Tränen« (Z. 12) verstärkt das Gefühl hilflos ausgeliefert zu sein, letztlich nichts ändern zu können. Beim Lesen des letzten Verses sieht sich der Adressat mit einem

ähnlichen Bild konfrontiert: Personifizierend wälzt das lyrische Ich Verantwortung auf das als »unbarmherzig« (V. 20) empfundene, als »Wort: gewesen!« (Z. 20) Gestalt annehmende Abstraktum abgeschlossener Vergangenheit ab.

Durch die rhetorische Frage nach Gründen für die gegenwärtige Lieblosigkeit nebst der Beantwortung durch die Mutmaßung, dass »vielleicht [.] keiner« (Z. 15) außer »ein paar Jahre« (Z. 16) als endgültiger Verursacher identifiziert werden könne, zeigt das lyrische Ich zwar die Fähigkeit zur differenzierten Reflexion, jedoch mangelt es an Möglichkeiten durch Überwindung eigener Defizite die Gefühle der Vergangenheit neu zu beleben. Die Zuhilfenahme der Indefinitpronomina »keiner« (Z. 15)

und »Man« (Z. 16) unterstützt das Verdrängen eigener Verantwortung.


Als Redewendung konzipiert nimmt die Überschrift verdichtet die aus dem Fazit resultierende Enttäuschung vorweg. Das lyrische Ich möchte den Leser mit dem Schmerz konfrontieren, mit der Sehnsucht, die entsteht, wenn innerhalb einer Beziehung Gewohnheit an die Stelle von Verliebtsein, von liebevollen Bekundungen, von Blicken, von Komplimenten, von gelebten Emotionen tritt  - mit durchaus als Alltagserfahrungen geltenden Erfahrungen. Insofern kann das thematisch zeitlose Gedicht potenziell jeden Adressaten berühren.


Literaturhistorisch ist »Das Ende vom Lied« der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Mascha Kaléko veröffentlicht es erstmals 1933 in »Das lyrische Stenogrammheft«, ihrem ersten im Rowohlt Verlag publizierten Buch. 1933 beginnen die Nationalsozialisten nach der zur »Machtergreifung« verklärten Machtübertragung im Eiltempo die Reste des verhassten Liberalismus der jüngst beseitigten Weimarer Demokratie zu vernichten:

Auf die Abschaffung sämtlicher Grundrechte im Rahmen der Reichstagsbrandverordnung folgen Deportationen politischer Gegner in die ersten Konzentrationslager, und mit dem so genannten Ermächtigungsgesetz folgt die Verfassungsgrundlage des fortan herrschenden, streng um einen

rechtsstaatlichen Anstrich bemühten Terrorregiments. Zur allerorten vollführten Gleichschaltung gehören die von der Deutschen Studentenschaft inszenierten Bücherverbrennungen in den größten deutschen Universitätsstädten; vorwiegend fliegen die Werke kritischer expressionistischer Dichter sowie der Literaten der Neuen Sachlichkeit und vor allem von Juden verfasste Schriften in die Glut.

Auf politische Zuspitzungen verweist »Das Ende vom Lied« in gar keiner Weise. Stattdessen ist das lyrische Ich um rationale Erklärungen bemüht ‒ um Sachlichkeit bei der Schilderung von Erfahrungen mit der Liebe, die so oder so ähnlich von vielen Repräsentanten der modernen Massengesellschaft erlebt werden.



2. Auch Erich Kästners »Sachliche Romanze« ist ein Werk der Neuen Sachlichkeit. Auch dieses behandelt thematisch den Verlust von Emotionen innerhalb einer Liebesbeziehung. Bereits die Überschrift bereitet den Leser auf eine scheinbar emotionsarme Haltung des lyrischen Ichs gegenüber der Wirklichkeit vor.

In Kästners Gedicht wird von einem seit acht Jahren miteinander vertrauten Liebespaar erzählt. Eines Tages beginnt diesem der Verlust jener Liebe gewahr zu werden, und beide reagieren mit Versuchen ihr gemeinsames Leben unbeeinträchtigt fortzusetzen. Zwar verspüren beide auch Trauer, doch spenden sie sich gegenseitig Zärtlichkeiten; sie küssen sich. Die Partnerin vergießt Tränen, während der Mann lediglich anwesend ist. Durch die Fensterscheiben betrachten sie Schiffe, das Spiel eines benachbarten Pianisten nehmen sie zur Kenntnis, am Nachmittag entscheidet der Mann gemeinsam außer Haus einen Kaffee zu sich zu nehmen. Im gewählten Café angekommen schweigen sie einander bis zum Abend an.

Anders als in Kalékos »Das Ende vom Lied« gibt Kästners lyrisches Ich nicht eigene Regungen preis. Es präferiert die Distanz eines Beobachters. Geschildert wird die Interaktion eines Liebespaares, dessen Verlust von Liebe mit etwas derart banal Anmutendem wie dem Verlust eines »Stock[s] oder [eines] Hut[es]« (Z. 4) verglichen wird. Der Kommentar des lyrischen Ichs birgt Nuancen von Distanz verstärkendem Sarkasmus in sich. Versuche des Paares sich zu verhalten, »als ob nichts sei« (Z. 6),

schildert das lyrische Ich, ganz gleich, ob es von der Wahrnehmung des Klavierspiels erzählt oder vom Entschluss ein Café aufzusuchen oder vom dortigen wortkargen Aufenthalt, mit emotionsloser Schlichtheit. Über die Empfindungen des Mannes sowie die der Frau wird der Leser lediglich oberflächlich informiert. Er erfährt von Traurigkeit, von Versuchen sich in Heiterkeit zu üben. Weil   keiner der Beteiligten den »nicht   [zu] fassen[den]« (Z. 17) Verlust der Liebe in angemessenen Worten auszudrücken vermag, dominiert Sprachlosigkeit. Eine Sprachlosigkeit, von der dem Leser wiederum vom lyrischen Ich mit größtmöglicher Schlichtheit, ebenfalls wortarm, berichtet wird. Kalékos lyrisches Ich hingegen ist als betroffene Person emotionaler involviert. Dem entsprechend gewährt es

eine umfassende Teilhabe an Emotionen, die dem Leser die Ursachen der Tragik nachvollziehbar erscheinen lassen. Dem gegenüber wirkt das Paar in »Sachliche Romanze« auf Grund völlig fehlender Reflexion noch deutlich hilfloser. Auffallend ist im Vergleich mit »Das Ende vom Lied« zudem, dass Fragen nach Schuld in Kästners Gedicht nicht die geringste Bedeutung beigemessen wird.


Kästners Lyrik setzt sich aus vier Strophen zusammen. Vier Verse gestalten je die ersten drei Strophen. Lediglich die letzte Strophe besteht aus fünf Versen. Die Versabschlüsse wechseln in den ersten drei Strophen regelmäßig zwischen weiblich und männlich. Die letzte Strophe beginnt mit einer männlichen Kadenz, es folgt eine weibliche, anschließend zwei männliche und abschließend erneut eine weibliche. Der regelmäßige Kreuzreim weicht ebenfalls ausschließlich in der letzten Strophe dem Schema abaab. So tragen die Formelemente gleichfalls zur das Gedicht dominierenden Schlichtheit bei. Da das Metrum teilweise Unregelmäßigkeiten aufweist, verlangt die Intonation etwas Übung: Zunächst wechseln innerhalb der ersten Strophe passend zum Kreuzreim alternierend Trochäen mit je vier Hebungen und Jamben mit je vier Hebungen einander ab. Die zweite Strophe setzt sich durchgängig durch Jamben mit vier Hebungen zusammen; diese gestalten sowohl die dritte als auch die vierte Strophe; den vierten Vers der dritten Strophe jedoch bildet wiederum ein Trochäus.

Die Verwendung von überwiegend bildlosen Bildern kennzeichnet die extrem verdichtete Sprache. Eine nur wenige Attribute nutzende, einen nur oberflächlichen Blick auf die seelischen Verfassungen erlaubende Sprache. Eine Sprache, die dennoch ein Maximum an Bedeutung entfalten kann. Kontrastierend werden antithetisch innerpersönliche Konflikte angedeutet: Konflikte zwischen dem Bestreben, sich »heiter« (Z. 5) zu gebärden, auch wenn die Realität »traurig« (Z. 5) zu sein scheint.


Die Überschrift deutet das Scheitern an: Liebe, insbesondere über »acht Jahre« (Z. 1) gewachsene Liebe, wird zur Romanze degradiert. Liebe lebt in erster Linie von Sinnlichkeit. Löst Sachlichkeit jene Sinnlichkeit ab, bedeutet das auf Dauer das Ende der Liebe. Auch Kästners lyrisches Ich richtet sich mit der zeitlosen Thematik potenziell an jeden Adressaten.    



Gedichte zur selbständigen Analyse



21. Ingeborg Bachmann: Reklame (1956)


     Wohin aber gehen wir

     ohne sorge sei ohne sorge

     wenn es dunkel und wenn es kalt wird

     sei ohne sorge

       5    aber

     mit musik

     was sollen wir tun

     heiter und mit musik

     und denken

     10    heiter

     angesichts eines Endes

     mit musik

     und wohin tragen wir

     am besten

     15    unsre Fragen und den Schauer aller Jahre

     in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge

     was aber geschieht

     am besten

     wenn Totenstille

          

     20    eintritt




22. Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens (1928)


     Der Mensch lebt durch den Kopf.
     Sein Kopf reicht ihm nicht aus.
     Versuch es nur, von deinem Kopf
     Lebt höchstens eine Laus.
  5 Denn für dieses Leben
     Ist der Mensch nicht schlau genug.
     Niemals merkt er eben
     Diesen Lug und Trug.

     Ja, mach nur einen Plan!
10 Sei nur ein großes Licht!
    Und mach dann noch’nen zweiten Plan
    Gehn tun sie beide nicht.
    Denn für dieses Leben
    Ist der Mensch nicht schlecht genug.
15 Doch sein höhres Streben
    Ist ein schöner Zug.

    Ja, renn nur nach dem Glück
    Doch renne nicht zu sehr
    Denn alle rennen nach dem Glück
20 Das Glück rennt hinterher.
    Denn für dieses Leben
    Ist der Mensch nicht anspruchslos genug.
    Drum ist all sein Streben
    Nur ein Selbstbetrug.

25 Der Mensch ist gar nicht gut
    Drum hau ihn auf den Hut.
    Hast du ihm auf dem Hut gehaun
    Dann wird er vielleicht gut.
    Denn für dieses Leben
30 Ist der Mensch nicht gut genug
    Darum haut ihm eben
    Ruhig auf den Hut!


23. Hans Magnus Enzenzberger: Die Scheiße (1983)


     Immerzu höre ich von ihr reden,

     als wär' sie an allem schuld.

     Seht nur, wie sanft und bescheiden

     sie unter uns Platz nimmt!

  5 Warum besudeln wir denn

     ihren guten Namen

     und leihen ihn

     dem Präsidenten der USA,

     den Bullen. dem Krieg

10 und dem Kapitalismus?


     Wie vergänglich sie ist,

     und was wir nach ihr nennen,

     wie dauerhaft!

     Sie, die Nachgiebige,

15 führen wir auf der Zunge

     und meinen die Ausbeuter.

     Sie, die wir ausgedrückt haben,

     soll nun auch noch ausdrücken

     unsere Wut?


20 Hat sie uns nicht erleichtert?

    Von weicher Beschaffenheit

    und eigentümlich gewaltlos

    ist sie von allen Werken des Menschen

    vermutlich das friedlichste.

25 Was hat sie uns nur getan?


24. Günter Grass: Was gesagt werden muss (2012)


      Warum schweige ich, verschweige zu lange,

      was offensichtlich ist und in Planspielen

      geübt wurde, an deren Ende als Überlebende

      wir allenfalls Fußnoten sind.


  5  Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,

      der das von einem Maulhelden unterjochte

      und zum organisierten Jubel gelenkte

      iranische Volk auslöschen könnte,

      weil in dessen Machtbereich der Bau

10  einer Atombombe vermutet wird.


      Doch warum untersage ich mir,

      jenes andere Land beim Namen zu nennen,

      in dem seit Jahren - wenn auch geheim gehalten -

      ein wachsend nukleares Potential verfügbar

15  aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung

      zugänglich ist?


      Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,

      dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,

      empfinde ich als belastende Lüge

20 und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,

     sobald er missachtet wird;

     das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig.


     Jetzt aber, weil aus meinem Land,

     das von ureigenen Verbrechen,

25 die ohne Vergleich sind,

     Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,

     wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch

     mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,

     ein weiteres U-Boot nach Israel

30 geliefert werden soll, dessen Spezialität

     darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe

     dorthin lenken zu können, wo die Existenz

     einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,

     doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,

35 sage ich, was gesagt werden muss.


     Warum aber schwieg ich bislang?

     Weil ich meinte, meine Herkunft,

     die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,

     verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit

40 dem Land Israel, dem ich verbunden bin

      und bleiben will, zuzumuten.


     Warum sage ich jetzt erst,

     gealtert und mit letzter Tinte:

     Die Atommacht Israel gefährdet

45 den ohnehin brüchigen Weltfrieden?

     Weil gesagt werden muss,

     was schon morgen zu spät sein könnte;

     auch weil wir - als Deutsche belastet genug -

     Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,

50 das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld

     durch keine der üblichen Ausreden

     zu tilgen wäre.


     Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,

     weil ich der Heuchelei des Westens

55 überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,

     es mögen sich viele vom Schweigen befreien,

     den Verursacher der erkennbaren Gefahr

     zum Verzicht auf Gewalt auffordern und

     gleichfalls darauf bestehen,

60 dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle

     des israelischen atomaren Potentials

     und der iranischen Atomanlagen

     durch eine internationale Instanz

     von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.


65 Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,

     mehr noch, allen Menschen, die in dieser

     vom Wahn okkupierten Region

     dicht bei dicht verfeindet leben

69 und letztlich auch uns zu helfen.



25. Ulla Hahn: Allein (1983)


     Ich hab die Schnauze voll ich

     bin auch müde und fürcht mich,

     jetzt schon vor dem ersten warmen Tag

     den kleinen Kindern und den

  5 schwangeren Frauen und was das

     Frühjahr noch erzeugen mag.


     Ich bin allein ich hab nichts

     zu verlieren als ein paar

     Träume vom vergangnen Jahr

10 und Angst mit mir was Neues

     zu probieren nicht zu krepiern

     an dem was niemals war.



26. Ulla Hahn: Anständiges Sonett (1981)


     Komm beiß dich fest ich halte nichts
     vom Nippen. Dreimal am Anfang küss
     mich wo's gut tut. Miss
     mich von Mund zu Mund. Mal angesichts

  5 der Augen mir Ringe um
     und lass mich springen unter
     der Hand in deine. Zeig mir wie's drunter
     geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm.

     Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder
10 zu mir zu dir dann auch
     „ganz wie ein Kehrreim schöner alter Lieder“
    Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch
    mir ein und allemal. Die Lider
14 halt mir offen. Die Lippen auch.



27. Ulla Hahn: Bekanntschaft (1993)


     Die Fehler sind bekannt: Ich hab sie längst begangen

     Schuld oder Unschuld trifft mich ganz allein

     Ich bin auf meinen eigenen Leim gegangen

     ich fiel auf keinen als mich selber rein


  5 Was ich auch tue macht die Fehler schwerer

     die Fehler machen bald mein Leben aus

     Ich bin in diesem Leben eingefangen

     ich komme nicht aus meiner Haut heraus


     die narbenstrotzend an mir klebt und knittert

10 und mit den Jahren deutlicher verwest

     Ich bin die einzige die vor mir zittert

     ich weiß daß niemand mich von mir erlöst.



28. Ulla Hahn: Beweislage (1993)


     Hättest Du hätte ich wären wir

     im Sog des Vakuums immer weiter

     in die Jahre gekommen

     Glaube versetzt vielleicht Berge

  5 aber niemals einen Konjunktiv

     Nicht einmal ein Foto

     von all der Hoffnung

     all der Geduld.



29. Ulla Hahn: Danklied (2003)


      Ich danke dir dass du mich nicht beschützt

     dass du nicht bei mir bist, wenn ich dich brauche

     kein Firmament bist für den kleinen Bärn

     und nicht mein Stab und Stecken der mich stützt.


  5 Ich danke dir für jeden Fusstritt der

     mich vorwärts bringt zu mir

     auf meinem Weg. Ich muss alleine gehn.

     Ich danke dir. Du machst es mir nicht schwer.


     Ich dank dir für dein schönes Angesicht

10 das für mich alles ist und weiter nichts.

    Und auch dass ich dir nichts zu danken hab

    als dies und manches andere Gedicht.



30. Ulla Hahn: Fest auf der Alster (1988)


     All das Eis wir schwelgen
     im Winter unter der Sonne
     Laufen auf Kufen im Kreis
     und gradaus mit und gegen
  5 und durch Licht und Wind.
     Alte Ehepaare ziehn sich
     noch enger zusammen
     Vater und Mutter kreisen
     in hohem Bogen ums Kind.
10 Wippende Mädchen im heiratsfähigen Alter
     lächeln aus der Hüfte heraus gutaus
     staffierte Lilien in kühnen Kurven
     kreuzen ihre Herzensmänner das Feld.
     Sogar silbrige Herren und Damen geraten
15 ins Schleudern der Hut fliegt vom Kopf
    der Hund rutscht hinterdrein
    wittert Glühwein auf Eis.
    Übermütig lächeln wir alle verschworene
    Kinder die vom selben Süßen genascht

20 Werfen Lächeln wie Bälle uns zu
     durch die lächelnde Luft. Lächeln
     als gäbe es nichts zu bestehn
     als den nächsten Schritt als geschähe
     nur was wir im voraus schon sehn
25 bis an den Horizont von
     Brücken Kirchen und Banken.
     Lächelnd vergibt ein jeder von uns
     seinem Nächsten und sich
     diesen Nachmittag lang
30 all das Eis
    unter der Sonne.


31. Ulla Hahn: Hypothetisches Sonett (1997)


     Wenn wir tiefer atmeten langsamer
     gingen ruhiger führten unsere Augen
     von einem zum anderen nur noch leise
     sprächen und selten: ewig lebten wir

  5 nicht aber ein bisschen ewiger doch
     wie das Meer vielleicht oder sogar
     wie Worte und Sätze vom Meer
     oder dieser eine Nachmittag heute

     an dem wir einander vergessen machen
10 was anderswo auch geschieht
     dauerte sagen wir drei bis vier Wochen

     die wiederum ein paar
     doppelte dreifache Jahre oder
14 wenigstens: Jetzt.



32. Ulla Hahn: Irrtum (1988)


     Und mit der Liebe sprach er ists

     wie mit dem Schnee: fällt weich

     mitunter und auf alle

     aber er bleibt nicht liegen.


  5 Und sie darauf die Liebe ist

     ein Feuer das wärmt im Herd.

     Verzehrt wenn’s dich ergreift

     muß’ ausgetreten werden.


     So sprachen sie,

10 schmiegten sich eng aneinander

    und küssten sich innig

    als gäb’s nichts Schöneres für sie.



33. Ulla Hahn: Meine Wörter (1981)


     Meine Wörter hab ich
     mir ausgezogen
     bis sie dalagen
     atmend und nackt
  5 mir unter der Zunge.

     Ich dreh sie um
     spuck sie aus
     saug sie ein
     blas sie auf

10 spann sie an
    von Kopf bis Fuß
    spann sie auf

    Mach sie groß
    wie ein Raumschiff zum Mond
15 und klein wie ein Kind.
    Überall suche ich die Zeile
    die mir sagt
18 wo ich mich find



34. Ulla Hahn: Nie mehr (1988)


    Das hab ich nie mehr gewollt
    um das Telefon streichen am Fenster stehn
    keinen Schritt aus dem Haus gehn Gespenster sehn
    das hab ich nie mehr gewollt


  5 Das hab ich nie mehr gewollt
    Briefe die triefen schreiben zerreißen
    mich linksseitig quälen bis zu den Nägeln
    das hab ich nie mehr gewollt


    Das hab ich nie mehr gewollt
10 Soll der Teufel dich holen.
    Herbringen. Schnell.
    Mehr hab ich das nie gewollt.



35. Ulla Hahn: Vorgeschrieben (1993)


    Diese Sehnsucht

    dich beim Namen zu nennen

    Diese Angst

    dich beim Namen zu nennen


  5 Diese Sehnsucht

    Wort zu halten

    Diese Angst

    nur Wort zu halten


    Diese Sehnsucht nach einem Leben

10 das kein Gedicht wird

    Diese Angst vor einem Gedicht

    das ein Leben vorwegnimmt.



36. Ulla Hahn: Wartende (1983)


 Sie sitzt an einem Tisch für zwei Personen

 allein mit diesem wachen starren Blick

 schaut sie umher als hätt’ sie was verloren

 und hält sich fest an einem Buch: Ihr Strick


  5 der sie herauszieht aus den Augenpaaren

 die nach ihr züngeln mitleidlos und spitz

 wie Wellen über ihr zusammenschlagen

 sie niederdrücken auf den Plastiksitz


 der unter ihren Schenkeln klebt. Sie schwenkt

10 ihr Glas das Eis schmilzt klirrend schneller

 sie selbst wird immer kleiner und versänk


 gern als Erfindung in ihr Buch

 das sie nun zuschlägt. Eh sie auftaucht

14 zahlt und geht. Es ist genug.



37. Ulla Hahn: Winterlied (1981)


    Als ich heute von dir ging

    fiel der erste Schnee

    und es machte sich mein Kopf

    einen Reim auf Weh.


  5 Denn es war die Kälte nicht

    die die Tränen mir

    in die Augen trieb

    es war vielmehr Ungereimtes.


    Ach da warst du schon zu weit

10 als ich nach dir rief

    und dich fragte wer die Nacht

    in deinen Reimen schlief.



38. Ulla Hahn: Wörtlich genommen (2011)


    Ich herze dich
    ich lunge dich
    ich haute haare
    pore dich

  5 Du baust auf mich
     du dachst mich spitz
     palastest mich
     oasest mich

     Du meersternst mich
10 du landest mich
     Ich berg dich
     tal dich gipfel dich

     Du freudest mich
     Ich freude dich
15 Du sehnsuchst mich
     Ich sternschnupp dich

     Du brüstest hüftest
     schenkelst mich
20 Ich zunge zaum
     ich kehlkopf dich

     Ich hauch brauch fauch
     du füllhornst mich
24 Wir atmen amseln amen.



39. Ulla Hahn: Zu schwer (1993)


     Bleib bei mir als wärst Du

     lang für mich da

     laß wachsen dein weißes

     in meinem Haar


  5 Lieb mich als ob

     das gut für dich wär'

     als gäben wir

     Leben um Leben her


     Ertrag mich als trügest

10 du nicht zu schwer

     behüt mich als ob

     ich verloren wär'.


40. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber (1844)


      Im düstern Auge keine Träne,   

      Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;

      Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

      Wir weben hinein den dreifachen Fluch -

 5        Wir weben, wir weben!


      Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten

      In Winterskälte und Hungersnöten;

      Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

      Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -

10       Wir weben, wir weben!

 

      Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,

      Den unser Elend nicht konnte erweichen,

      Der den letzten Groschen von uns erpreßt,

      Und uns wie Hunde erschießen läßt -

15       Wir weben, wir weben!


      Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

      Wo nur gedeihen Schmach und Schande,  

      Wo jede Blume früh geknickt,

      Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -

20       Wir weben, wir weben!


      Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,

      Wir weben emsig Tag und Nacht -

      Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

      Wir weben hinein den dreifachen Fluch,

25       Wir weben, wir weben!


41. Heinrich Heine: Nachtgedanken (1843)



 Denk ich an Deutschland in der Nacht,

 Dann bin ich um den Schlaf gebracht,

 Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

 Und meine heißen Tränen fließen.


  5 Die Jahre kommen und vergehn!

 Seit ich die Mutter nicht gesehn

 Zwölf Jahre sind schon hingegangen;

 Es wächst mein Sehnen und Verlangen.


 Mein Sehnen und Verlangen wächst.

10 Die alte Frau hat mich behext,

 Ich denke immer an die alte,

 Die alte Frau, die Gott erhalte!


 Die alte Frau hat mich so lieb,

 Und in den Briefen, die sie schrieb,

15 Seh ich wie ihre Hand gezittert,

 Wie tief das Mutterherz erschüttert.


 Die Mutter liegt mir stets im Sinn.

 Zwölf lange Jahre flossen hin,

 Zwölf lange Jahre sind verflossen,

20 Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.


 Deutschland hat ewigen Bestand,

 Es ist ein kerngesundes Land,

 Mit seinen Eichen, seinen Linden,

 Werd ich es immer wiederfinden.


25 Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,

 Wenn nicht die Mutter dorten wir;

 Das Vaterland wird nie verderben,

 Jedoch die alte Frau kann sterben.


 Seit ich das Land verlassen hab,

30 So viele sanken dort ins Grab,

 Die ich geliebt -- wenn ich sie zähle,

 So will verbluten meine Seele.


 Und zählen muß ich - Mit der Zahl

 Schwillt immer höher meine Qual,

35 Mir ist als wälzten sich die Leichen

 Auf meine Brust - Gottlob! sie weichen!


 Gottlob! durch meine Fenster bricht

 Französisch heitres Tageslicht;

 Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,

40 Und lächelt fort die deutschem Sorgen.




42. Hermann Hesse: Bericht des Schülers (1902)


     Mein Lehrer liegt und schweigt schon manche Tage.
     Oft weiß ich nicht, ob er mit Schmerzen ringe,
     Ob mit Gedanken. Wenn ich etwas sage,
     So hört er nicht. Doch wenn ich sitz und singe,
  5 Lauscht er geschlossenen Auges wie entrückt,
     Vielleicht ein Wissender des höchsten Grades,
     Vielleicht ein Kind, von etwas Klang beglückt,
     Doch stets der Regel treu des Mittlern Pfades.

     Zuweilen regt er die erstarrte Hand,
10 Als hielte sie den Schreibestift und schriebe.


    Dann wieder ist der Türe zugewandt
    Sein Blick mit einer unsagbaren Liebe,
    Als hör er Boten nahn auf Engelsflügeln
    Und sähe Himmelspforten offen stehn
15 Oder auf seiner fernen Heimat Hügeln
     Wie einst im Morgenhauch die Palmen wehn.

     Oft ist mir bang, als sei ich krank statt seiner,
     Als war ich selber grau, erloschen, alt
     Und jener dünnen Blätterschatten einer,
20 Wie sie der Morgen an die Mauer malt.
     Doch er, der Meister, scheint von Wirklichkeit,
     Von Sein, von Wesen ganz getränkt und trächtig.
      Indes ich schwinde, wird er weltenweit
24 Und füllt die Himmel strahlend und allmächtig


43. Hermann Hesse: Frühlingstag (1902)


     Wind im Gesträuch und Vogelpfiff
     Und hoch im höchsten süßen Blau
     Ein stilles, stolzes Wolkenschiff. . .
     Ich träume von einer blonden Frau,
  5 Ich träume von meiner Jugendzeit,
     Der hohe Himmel blau und weit
     Ist meiner Sehnsucht Wiege,
     Darin ich stillgesinnt
     Und selig warm
10 Mit leisem Summen liege,
     So wie in seiner Mutter Arm
     Ein Kind.



44. Hermann Hesse: Im Nebel (1902)


     Seltsam, im Nebel zu wandern!
     Einsam ist jeder Busch und Stein,
     Kein Baum sieht den anderen,
     Jeder ist allein.

  5 Voll von Freunden war mir die Welt,
     Als noch mein Leben licht war;
     Nun, da der Nebel fällt,
     Ist keiner mehr sichtbar.

     Wahrlich, keiner ist weise,
10 Der nicht das Dunkel kennt,
     Das unentrinnbar und leise
     Von allem ihn trennt.

     Seltsam, im Nebel zu wandern!
15 Leben ist Einsamsein.
    Kein Mensch kennt den andern,
    Jeder ist allein.



45. Hermann Hesse: Stufen (1941)


     Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
     Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
     Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
     Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
  5 Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
    Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
    In andre, neue Bindungen zu geben.
    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
10 Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.


    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
    An keinem wie an einer Heimat hängen,
    Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
    Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
15 Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
    Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.


    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
20 Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
    Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
    Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!

  

  46. Hermann Hesse: Was der Wind in den Sand geschrieben (1949)


    Dass das Schöne und Berückende

    nur ein Hauch und Schauer sei,

    dass das Köstliche, Entzückende,

    Holde ohne Dauer sei:


  5 Wolke, Blume, Seifenblase,

     Feuerwerk und Kinderlachen,

     Frauenblick im Spiegelglase

     und viel andre wunderbare Sachen,

     dass sie, kaum entdeckt, vergehen,

10  nur von Augenblickes Dauer,

     nur ein Duft und Windeswehen,

     ach, wir wissen es mit Trauer.


     Und das Dauerhafte, Starre

     ist uns nicht so innig teuer:

15 Edelstein mit kühlem Feuer,

    glänzendschwere Goldesbarre;

    selbst die Sterne, nicht zu zählen,

    bleiben fern und fremd, sie gleichen

    uns Vergänglichen nicht, erreichen

20 nicht das Innerste der Seelen.


    Nein, es scheint das innigst Schöne,

    Liebenswerte dem Verderben

    zugeneigt, stets nah am Sterben,

    und das Köstlichste: die Töne

25 der Musik, die im Entstehen

     schon enteilen, schon vergehen,

     sind nur Wehen, Strömen, Jagen

     und umweht von leiser Trauer,

     denn auch nicht auf Herzschlags Dauer

30 lassen sie sich halten, bannen;

    Ton um Ton, kaum angeschlagen,

    schwindet schon und rinnt von dannen.


    So ist unser Herz dem Flüchtigen,

    ist dem Fließenden, dem Leben

35 treu und brüderlich ergeben,

    nicht dem Festen, Dauertüchtigen.


    Bald ermüdet uns das Bleibende,

    Fels und Sternwelt und Juwelen,

    uns in ewigem Wandel treibende

40 Wind- und Seifenblasenseelen,

    Zeitvermählte, Dauerlose,

    denen Tau am Blatt der Rose,

    denen eines Vogels Werben,

    eines Wolkenspieles Sterben,

45 Schneegeflimmer, Regenbogen,

    Falter, schon hinweg geflogen,

    denen eines Lachens Läuten,

    das uns im Vorübergehen

    kaum gestreift, ein Fest bedeuten

50 oder wehtun kann. Wir lieben,

    was uns gleich ist, und verstehen,

    was der Wind in den Sand geschrieben.


47. Ernst Jandl; Beschreibung eines Gedichts (1977)


     bei geschlossenen lippen

     ohne bewegung in mund und kehle

     jedes einatmen und ausatmen

     mit dem satz begleiten

  5 langsam und ohne stimme gedacht

     ich liebe dich

     so daß jedes einziehen der luft durch die nase

     sich deckt mit diesem satz

     jedes ausstoßen der luft durch die nase

10 das ruhige sich heben

     und senken der brust


48. Mascha Kaléko: Bescheidene Anfrage (1933)


     Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
     Kramst du manchmal noch in meinen Briefen?
     Ist das kleine Landhaus mit dem schiefen
     Bretterdach auch jetzt noch malerisch?

  5 Geht die Haustürklingel noch so schrill
     Und verklingt erschrocken immer leiser ...
     Bellt dein Dackel Julius noch so heiser?
     Ists am Abend so wie damals still ?

    Hast du immer noch kein Telephon?
10 Gibts auf dem Balkon noch Hängematten?
     Spielt ihr manchmal noch die Schubertplatten
     Auf dem altersschwachen Grammophon?

     Gibts zum Tee noch immer Zuckerschnecken?
     Sagt Johanna immer noch «der» Gas ... ?
15 Darf man in das teure Gartengras
    Immer noch nicht seine Beine strecken?

    Weht der Seewind morgens noch so frisch?
    Grinst der Mond des Nachts noch so verlegen?
    Gehst du manchmal mir zur Bahn entgegen?
20 ... Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?

    Steht mein Bild ...? - Ich hab’ es selbst zerrissen!
    Glaub nur nicht, ich hätte deins vermißt.
    Aber manchmal möcht man manches wissen,
24 Wenn man so mit sich alleine ist ...



49. Mascha Kaléko: Das letzte Mal (1938)


     Du gingest fort. - In meinem Zimmer
     Klingt noch leis dein letztes Wort.
     Schöner Stunden matter Schimmer
     Blieb zurück. Doch du bist fort.

  5 Lang noch seh ich steile Stufen
     Zögernd dich hinuntergehn,
     Lang noch spür ich ungerufen
     Dich nach meinem Fenster sehn,

     Oft noch hör ich ungesprochen
10 Stumm versinken manches Wort,
    Oft noch das gewohnte Pochen
    An der Tür. - Doch du bist fort.


50. Anja Kampmann: steilküste (2012)


     schon bald ist sonntag
     in den klippen verfangen sich
     die wölfe so klingt das meer das uns trifft
     das rollen der steine von vorn ein paar stiefel
  5 im fels wie sich die wogen waschen an der luft
     im laufe bläht der wind das cape den raum
     für dein kleines gedächtnis gelb
     als sie rannten kinder die ihre zungen
     in den regen strecken meer salz das heulen
10 des winds zu erlernen von vorn
     mit der gischt kommt die liebe rau
     in all ihren alten sprachen.



51. Ursula Krechel: Umsturz (1977)


     Von heut an stell ich meine alten Schuhe

     nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten

     häng den Kopf beim Denken

     nicht mehr an den Haken

  5 freß keine Kreide. Hier die Fußstapfen

     im Schnee von gestern, vergeßt sie

     ich hust nicht mehr mit Schalldämpfer

     hab keinen Bock

     meine Tinte mit Magermich zu verwässern

10 ich hock nicht mehr im Nest, versteck

     die Flatterflügel, damit ihr glauben könnt

     ihr habt sie mir gestutzt. Den leeren Käfig

     stellt mal ins historische Museum

14 Abteilung Mensch weiblich.




52. Silke Scheuermann: Undine geht weil Hans ihre neuen Kleider nicht mehr bewundert (2011)


     Dein Blick weg vom Körper zum Horizont
     entfernt dich von mir und den Dingen
     den Blutkörperchen Handhaltungen
     schließlich dem Glanztrio Auge Zahn Lippe

  5 führt hinter das Tageslicht in andere Räume
     weit weg zu den Grabgräbern Grabrednern
     den Putschisten und Kämpfern in Grosny
     zu dem Regenbogen rot gelb rot

     weil jede Wolke nur Eiter und Blut spuckt
10 schon meine Mutter sagte mir
    schlaf nie mit einem Fotografen
    sie haben schon zu viel gesehen

    Du bist bei Hügeln aus Tulpen oder wo
    Dies ist die Stadt Fußgängerzone
15 hier sind wir hier spaziert dein
    inneres Feuer umher mit dem Wissen

    daß zwei Personen die sich lieben
    sich addieren oder subtrahieren können
    Plus machen können oder wie in
20 diesem Fall ganz unverschuldet Minus



53. Jörg Schieke: zeit für mich (2005)


    vorne das haus und dahinter

    die von der wippe

    wandernden täler. zurück

    ein stück film, die farbe


  5 der augen und die beschreibung

     jener farbe

     in noch anderen farben. ich lieb dich

     ja auch, kann es nur nicht


    so zeigen, wie du, mit dem

10 korallenvornamen, korall li, korall

    la, als ich ging, von rom

     nach venedig und weiter


     bis china, die gleise

     zu siezen und mit der brücke, es mag

15 auch nur ein brett

    gewesen sein, per du.